Der letzte Schultag vor den Ferien. Zeugnistag!
Nervös packe ich meine Sachen für die denkwürdige Zeremonie zusammen.
Zehn Minuten später bin ich schon am heiligen Ort angekommen . Seltsam vertraut winkt mir das alte Schulgebäude entgegen.
Davor stehen circa 30 weitere, meist weibliche Zeugnisentgegennehmende in Grüppchen zusammen. Manche tratschen. Manche lachen. Mir ist flau im Magen.
Ich schleiche an ihnen vorbei und suche mir einen Platz am Rande des Geschehens.
Dort muss ich erst mal tief durchatmen. Was wird im Zeugnis meines Kindes
stehen? Wird es mir einen Platz auf dem unsichtbaren Siegertreppchen für besonders herausragende Elternleistungen bescheren?
Ruhig, sage ich mir. ,Du hast deine Hausaufgaben gemacht.Alles wird gut!`
Habe ich? Wirklich?
In Gedanken gehe ich meine Aufgaben als Erziehungsberechtigte eines schulpflichtigen Kindes nochmal durch:
Ich habe mein Kind täglich in angemessener Kleidung, mit ausreichend gesundem Frühstück im Gepäck und auch noch pünktlich (!) zur Schule geschickt!
Ein dicker Haken! Geschafft, mit Bravour!
Ich habe mein Kind nach der Schule wieder in Empfang genommen - in der Hoffnung auf ein von geistigen Errungenschaften glückbeseeltes Kindergesicht!
Ein halbdicker Haken. Das Kindergesicht...naja! Man kann nicht alles haben.
Beim nächsten Punkt – ich spüre es schon – werden die Dinge schwieriger. Dennoch lasse ich mich nicht entmutigen:
Ich habe täglich die Flut der Briefe aus der „Postmappe“ meines Kindes durchgesehen, abgezeichnet und dafür Sorge getragen, dass sie in eben dieser
Mappe wieder ihren Rückweg in die Schule antraten. Drei Briefe am Tag? Mindestens! Schließlich geht die Kleine ja auch in eine Ganztagesschule. Erziehungs-Outsourcing will gut organisiert sein! Kurze Kommunikationswege und so.....
Ein leichtes Drücken in der Magengegend – das schlechte Gewissen meldet sich. Durfte doch meine Generation so wohlbehütet direkt nach der Schule nach Hause zurückkehren, in den Schoß der Familie...Vielleicht wäre meine Tochter tatsächlich glückbeseelter, könnte sie das auch?
Energisch wische ich den unangenehmen
Gedanken beiseite: Ich bin eine moderne Frau, habe studiert – meine bessere Hälfte und ich haben unser Familienmodell gemeinsam so abgesprochen. Und schließlich ist es ja nur ein Halbtagesjob...
So ganz lässt sich mein Gefühlshaushalt jedoch nicht wiederherstellen. Der nächste Gedanke macht es nicht besser:
Der WOCHENPLAN!
Sofortige Übelkeit stellt sich ein.
Gemeint ist jenes Grundschul-Workload, mittels dessen schon früh das "prozeduale Metagedächtnis" meiner Kleinen angetriggert und zum Feinschliff
gebracht werden soll.
So manche abendliche und tränenreiche Stunde haben wir gemeinsam damit verbracht, den WOCHENPLAN zu vervollständigen. Bei diesem Plan werden die Hausaufgaben der gesamten Woche – tabellarisch aufgelistet- am Montag ausgegeben. Abgabetermin am Freitag. Nur die Nachzügler dürfen sich auch am Wochenende damit beschäftigen. Meine Versuche, das Töchterchen zum Abbruch des übergroßen Aufgabenpaketes zu bewegen und der Lehrerin einen mal wirklich DEUTLICHEN Hinweis bezüglich ihrer Überforderungspädagogik zu geben,
(So nicht, Frau XY! So nicht!!!)
scheiterten kläglich am Eigensinn meiner Tochter. Eher hätte sie sich einen Finger abgebissen als sich die Blöße vor den anderen zu geben. Meine Tochter hat schon früh gemerkt, dass der Druck der Masse weitaus größer ist als die Sache selbst. Sie hat sich entschieden, in der Masse mitzuschwimmen.
Mein kleiner Swimmy eben!
Meine aggressiv bemalten Transparente zur Rettung der zarten Kinderseele in Zeiten des bildungspolitischen Sparkurses habe ich daraufhin kleinlaut wieder eingepackt.
Die Definition des so wichtig daherkommenden Wortes übrigens– ich
MUSS es einfach nochmal schreiben: PRO-ZE-DU-A-LES ME-TA-GE-DÄCHT-NIS - , besagt, dass es sich hierbei um die „Fähigkeit zur geplanten Lernaktivität“ handelt.
Beim Gedanken daran, kehrt erstaunlicherweise wieder Ruhe in den schulbesetzten Teil meines limbischen Systems ein.
Warum?
Weil dort ein äußerst seltener Gast eingetreten ist: Der Stolz .
Jawohl: Ich bin stolz!
Denn mein proze....also dieses Gedächtnis habe ich seit dem denkwürdigen Schuleintritt unseres Sprosses
vor zwei Jahren millionenfach erweitert!
Hier dürfte ich wirklich im oberen Durchschnittsbereich liegen!
Leider nämlich hat die Wissenschaft hier ihr Wissen noch nicht geschafft: In wie weit jener Arbeitsspeicher im kindlichen Gehirn überhaupt schon so ausgereift ist, dass es mehrere Aufgaben über einen längeren Zeitraum selbstständig einteilen und erfolgreich bearbeiten kann, ist nicht ganz klar. Meine Tochter kann es definitiv NICHT ohne Nervenzusammenbruch.
Aber macht ja nix.
Ich bin ja da.
Ich kann ja da unterstützend eingreifen, wo meinem Kind der „Überblick über das
Lernpensum“ noch fehlt. Wir zwei bilden eine feste, eine eherne Lerngemeinschaft.
Da lass´ich nichts drauf kommen!
Das ist geistiges Mutter-Und-Kind-Turnen, was wir da praktizieren. Darin kann ich es bis zur Meisterschaft bringen!
Also kommt an diesen Punkt wieder ein fetter Haken dran.
Gerade schon will ich auf die oberste Stufe meines gedanklich zurechtgerückten Siegertreppchens steigen, da gerate ich ins Wanken.
Wie macht das eigentlich meine Nachbarin mit ihren fünf Kindern?
Ich muss erstmal innehalten.
Die Familie kam vor acht Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. Beide Eltern arbeiten im Schichtdienst.Ob da abends noch Zeit ist für elterliche Nachhilfe beim prozedualen Metagedächtnis?
Ist das die vielbesagte Chancengleichheit?
Ich will schon wieder meckern, auf die Bildungspolitik im Allgemeinen und unzumutbare Lernmethoden im Speziellen. Da schiebt sich das Bild jenes bescheidenen, fleißigen Menschen vor mein inneres
Auge.
Meine Nachbarin ist eine wirklich nette Frau. Ich mag sie sehr. Sie liebt ihre Kinder, ihren Mann und geht tagtäglich ihrer Arbeit nach.
Meine Nachbarin bekommt Beruf und Familie unter einen Hut. Ohne, dass sie es zum Thema macht. Ich höre sie nicht klagen. Nie. Die beiden ältesten Kinder haben es aufs Gymnasium geschafft. Ich zweifle nicht daran, dass es die anderen drei auch schaffen werden.
Ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Ein...fast unbekanntes, längst in Vergessenheit geratenes.
Ist das nicht vielleicht doch Jammern auf hohem Niveau, das ich hier betreibe?
Erst jetzt erkenne ich das Gefühl.
Es ist Demut.
Sie vertreibt den falschen Stolz.
Mit eingezogenem Genick verlasse ich das eben bestiegene Siegertreppchen. Der Platz dort gehört einer anderen.
Noch zwei Minuten bis Schulschluss. bis sich der Schulhof füllen wird mit ferienhungrigen Kindern und ihren - hoffentlich - stolzen Eltern.
Ich mische mich unter die anderen, erhasche einen Gesprächsfetzen und werde eingeladen zum Grüppchenstehen.
So lässt es sich viel besser warten...