Der Hermanstempel ist ein Aussichtspavillon nahe der Grube Laura, einem ehemaligen Erzbergwerkes am Waldrand von Michelstadt. Von dieser ehemaligen Abraumhalde hat man einen einmaligen Blick über Erbach und Michelstadt, samt seiner bekannten Stadtteile. Ein ehemalige Bürgermeister hat in den 1960er Jahren die im Ersten Weltkrieg zerfallene Schutzhütte gegen einen massiven Steinbau ersetzen lassen. Bis in die 1960er wurde die Erbauung jährlich mit einem kleinen Fest wiederholt. Die einzigen Feste, welche heute noch
auf dem Hermannsberg stattfinden, sind Grill- und Saufffeiern von jungen Erwachsenen. Wandalismus bleibt dabei leider nicht aus. Wahrscheinlich war dies auch mit ein Grund, weswegen Sarah und meine Wenigkeit ein zweites und drittes Mal auf der Polizeiwache Erbach anrufen mussten, um amtliche Hilfe zu erbitten. Joggerinnen gaben glaubwürdigere Zeugen ab als halbstarke Jugendliche, welche eine Vorliebe für Biermischgetränke und Energiedrink mit Wodka hatten. Unglücklicherweise interessierten sich die Herren mehr für Sarahs Doppel D als für unsere Geschichte. Allmählich fühlten sich die „Kinder“
beleidigt und ich wurde sauer. „Alter, was hast du für ein Problem? Wir haben den Typen laut und deutlich gehört, wie er zu seinem Schöpfer gesprochen hat, um sich vom Fernsehturm zu stürzen“, maulte ein schlanker, junger Mann, der vielleicht fünf bis sechs Jahre jünger als ich war und ein T-Shirt trug, das ihm augenscheinlich einhundert Nummern zu groß war. Widerwillig sah der Polizist, der dem T-Shirt-Jungen am nächsten stand, von Sarahs Vorbau weg und stemmte energisch die Hände in die Hüften. „Der Fernsehturm von Momat ist zwar von hier aus zu sehen, aber glaubst du allen
Ernstes, dass man von dieser Entfernung aus jemanden sprechen hören kann, der sich in den Tod stürzen will?“ „Ja, wenn er laut genug herumbrüllt“, meinte ein Mädchen, das durch ein Dekolletee, das wohl am Bauchnabel enden würde, attraktiv wirken wollte, aber da es ein Top und keine Strickjacke trug, war der Anblick nicht ganz so drastisch. Sein schwarzer Pferdeschwanz hüpfte bei jedem seiner Worte mit. Die Alkoholfahnen der beiden waren eine harte Geduldsprobe für mich. Neben mir stand ein Beamter von meiner Statur, jedoch hatte er eine tiefe, sonore Stimme, welche von Autorität sprach. „Ich möchte Sie nochmal darauf
hinweisen, dass eine Falschaussage auch geahndet wird, wenn diese unter Alkoholeinfluss geschieht.“ „Äh, sind wir jetzt die Verbrecher? Da hat sich irgend so ein Vollpfosten vom Turm gestürzt. Wir sind hier die Retter, nicht die Opfer. Sitzt Ihnen die Uniform zu eng, oder was?“, kam es wieder vom schwarzen T-Shirt. „ Bei dem Anblick bestimmt“, lachte ein „Checker“ aus dem Hintergrund, der sich dank des Alkohols nicht mehr von den Stufen zum Hermanstempel erheben konnte. Sorgfältig trat ich erst Sarah auf den Fuß, diese japste, und anschließen vor die Polizeibeamten, um Schlimmeres zu
vermeiden. „Verzeihen Sie, aber wir hätten Sie nicht verständigt, wenn wir es nicht für möglich halten würden, dass jemand auf dem Fernsehturm gewesen ist.“ Wieder sprach der Mann neben Sarah. „Wir müssen diese Sache objektiv betrachten. Hier wurde getrunken und gefeiert. Man hört Musik, man ist laut und vergnügt sich. Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass Stimmen und Geräusche missverstanden werden.“ „Was soll'n das heißen? Wollen Sie sagen, wir hätten hier herumgevögelt und uns das alles eingebildet?“, kam es voller Empörung von hüpfenden Pferdeschwanz.
Anhand der Reaktion des schwarzen T-Shirts war die Nummer heute Abend eindeutig geplant gewesen. „Als wir hier hochgelaufen sind, haben wir keine Musik oder andere Geräusche wahrgenommen. Im Gegenteil, meine Freundin und ich waren erstaunt, die Leute hier im Halbdunkeln anzutreffen“, erklärte Sarah. Als Barkeeperin wusste sie gut mit angetrunkenen Personen umzugehen und stellte sich vor die Jugendlichen, damit diese sich verstanden und unterstützt fühlten und weit genug von den Beamten entfernt blieben. Auch ich wechselte meine Position, aber
nicht, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Mein Ziel war es, die Herren, bezahlt von Vater Staat, daran zu erinnern, dass Objektivität ein bisschen anders aussah, als die beiden es uns hier glaubhaft machen wollten. „Haben Sie den Mann denn springen sehen?“ Augenscheinlich hatten sich beide Beamten auf einen ruhigen Dienst oder schnellen Feierabend gefreut. Die Aktion hier war für die beiden wohl nur lästig. Da ihre Körpersprache Bände sprach, verbalisierte ich meine Laune gnadenlos: „Wenn am Himmel ein Blitz zuckt, dann wissen wir, dass in einigen Augenblicken der Donner zu hören sein wird -
manchmal recht schnell danach, manchmal auch erst viele Sekunden später. Aus der Zeitspanne, die zwischen Blitz und Donner liegt, lässt sich ermitteln, wie weit ein Gewitter noch entfernt ist - eine nicht unwichtige Information, wenn man sich vielleicht gerade auf einer Wanderung befindet und vom schlechten Wetter überrascht wurde. Zählt man gleichsam im Sekundenrhythmus 21, 22, 23, bevor man den Donner hört, so ist der Blitz in einer Entfernung von einem Kilometer eingeschlagen; schafft man es, bis 26 zu zählen, so ist das Gewitter noch zwei Kilometer entfernt. Jede weitere drei Sekunden bedeuten einen weiteren
Kilometer. Die Erklärung für diesen Zusammenhang ist einfach. Sie ergibt sich aus der unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht und Schall. Lichtwellen breiten sich mit rund 300 000 Kilometern pro Sekunde so schnell aus, dass wir Blitze quasi in dem Moment wahrnehmen, in dem sie vom Himmel zucken. Die durch die schlagartige Erhitzung der Luft ausgelöste Schallwelle breitet sich hingegen mit zirka 333 Metern pro Sekunde aus - der Schallgeschwindigkeit in der Luft. Diese hängt zwar von der Temperatur und vom Feuchtigkeitsgehalt ab, doch um die Faustregel zum Ermitteln der Entfernung eines Gewitters
anwenden zu können, muss man diese Nuancen nicht berücksichtigen. 333 Meter pro Sekunde sind ja fast genau ein Kilometer in drei Sekunden. Sie sehen, die Natur scheint es hier ganz gut mit uns zu meinen, so dass das Rechnen während des Gewitters nicht so schwerfällt. Diese physische Kausalitäten lassen sich, wenngleich nicht so beeindruckend wie ein Donnerschlag, auf unser nunmehr einstündiges Dilemma anpassen.“ Ein Breitmaulfrosch war nichts im Vergleich zu dem Grinsen von Sarah. Deswegen konnte sich meine Freundin auch eine Spitze nicht
verkneifen. „Streber.“ Weil die Herren in Blau aussahen wie eine Kuh, wenn der Blitz einschlug, konterte ich augenblicklich: „Selbst in der Hauptschule wäre dies ein Thema, das in Physik gelehrt werden würde, also wirklich kein überdurchschnittliches Fachwissen.“ „Da hat sie recht“, lallte es aus dem Hintergrund. Absichtlich wandte ich mich nun gänzlich zu Sarah um. Es sollte den Anschein haben, als interessierten mich die Autoritäten gar nicht, welche wir um Amtshilfe gebeten hatten. Meine Körpersprache signalisierte damit, dass
ich mein Fachwissen mit der geschulten Bildung der beiden Männer voraussetzte. Völlig unschuldig tat ich so, als könnten die Herren genauso wie meine Person einen wertungsfreien, fachlichen Vortrag aus dem Ärmel zaubern. „Objektiv in dieser Situation sind die geographischen Gegebenheiten, dass sich zwischen dem höher gelegenem Momat und dem Hermanstempel ca. 5 bis 10 km Luftlinie befinden und sich zwischen den beiden Punkten ein Tal befindet. Der Wind kommt aus der Richtung von Bad König / Momat. Wir haben Anfang Herbst und die Luft ist kalt und klar. Davon ausgehend bräuchte der Schall, bis er hier ankommt, ca. 20 bis 30
Sekunden. Der Fall eines durchschnittlich schweren Mannes von einem Fernsehturm hingegen dauert nur drei bis fünf Sekunden. Somit ist es gut möglich, dass die Leute hier die letzten Worte des Sprunges gehört haben, aber nicht den Sprung gesehen haben. Selbst wenn es zu diesem Zeitpunkt noch wesentlich heller gewesen ist als jetzt.“ Es gab Momente, in denen Sarah ihre Oberweite nutze, um Vorteile zu haben. In Anbetracht der Tatsache, dass ein Menschenleben wahrscheinlich ausgelöscht worden war, wollte sie sich für die Blicke auf ihren Busen rächen. Sie gab mir Zündstoff: „Wieso muss ich gerade ein Überschallflugzeug
denken?“ Gespielt überzogen rollte ich mit den Augen und schnalzte einmal mit der Zunge. Etwas, das ich mir von meiner Freundin Melanie abgeguckt hatte, wenn Sarah und ich zu viel herumalberten. „Die Schallgeschwindigkeit, Sarah. Im Bereich Luftfahrt „Mach“ - nach dem österreichischen Physiker Ernst Mach. Ein Flugzeug, das mit "Mach 2" fliegt, erreicht also die doppelte Schallgeschwindigkeit. Die inzwischen ausgemusterten Concorde-Jets erreichten diese Geschwindigkeit.“ Den Redefluss unterbrach keiner der Beamten, sondern ein weiterer Jugendlicher, den ich in der Dunkelheit
nicht mehr ausmachen konnte. „Krasser Nerd, die hätte ich mal fürs Abi flachlegen sollen.“ Alkohol, welch zweifelhafte Anerkennung. „Gab es da nicht auch noch so ein Mikey-Maus-Experiment?“, hakte Sarah nach, welche mich nun auf den Arm nehmen wollte. Ihr war klar, dass ich dem Typen am liebsten eine geklatscht hätte. Ich wurde sauer und begann sie zu nerven. „Die Schallgeschwindigkeit besitzt für jedes Gas einen charakteristischen Wert. Grob lässt sich sagen, dass sie um so größer ist, je kleiner und leichter die
betreffenden Gasmoleküle sind. Die höchste Schallgeschwindigkeit in einem Gas ist daher in Wasserstoff zu erwarten. In Wasserstoff breitet sich Schall mit einer Geschwindigkeit von rund 1,3 Kilometern pro Sekunde aus, und in Helium sind es immerhin auch noch rund 970 Meter pro Sekunde. Für diesen abstrakten Wert gibt es ein lustiges - aber nicht ganz ungefährliches - Experiment: Atmet man einen Atemzug Heliumgas ein, so spricht die Versuchsperson anschließend mit einer sehr hohen Mickey-Maus-Stimme, allerdings nur solange, bis das Gas wieder ausgeatmet ist und die Vibration der zu schnell schwingenden
Stimmlippen nachgelassen hat.“ Beschwörend hob mein Doppel D ihre Hände. „Schon gut, schon gut! Ich habe es ja verstanden. Physikalisch ist es möglich, dass man von unserem Standpunkt aus eine Person ihr letztes Gebet sprechen hört. Ist der Vortag jetzt beendet?“ Im Hintergrund klickte ein Gerät. Das Zeitalter der Smartphones veranlasste die Jüngeren von uns, nicht weiter darauf zu reagieren. Meine Freundin und ich kannten die Laute eines Funkgerät noch sehr gut. Der Kleinere der beiden Beamten sprach mit irgendjemandem. Während unseres kleinen Theaters hatte er sich abseits gestellt und mit
irgendwem Kontakt aufgenommen. Mittlerweile standen wir im Scheinwerferlicht des Polizeiwagens und des Pkws, mit dem die Gruppe junger Menschen an den Hermanstempel gefahren war. Noch einmal rauschte das Funkgerät und der Mann kehrte mit noch unerschütterlicher Miene in unseren illustren Kreis zurück. „Ich darf Ihnen allen gratulieren. Dank Ihres unermüdlichen Einsatzes haben Sie einen unter Alkoholeinfluss stehenden Mann vor dem sichern Tod bewahrt.“ Ein scharfer Blick wanderte zu seinem Kollegen, der immer noch sehr von Sarah in ihrem Sportoutfit angetan war. „Die freiwillige Feuerwehr Bad König
hat eben auf dem Turm einen Mann geborgen, der sich auf Grund eines Beziehungsstreites das Leben nehmen wollte. Hochprozentiger Alkohol hat bis eben verhindert, dass er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Er schaffte es nicht über die Brüstung zu steigen.“ Wir alle erschraken bei dem Gedanken, dass es wirklich einen Menschen gab, dessen letzte Worte bis hierher getragen worden waren. Ich stand da und dachte mir nur: Gott hat die Welt und die Menschen geschaffen. Die Natur und die Physik. Und da soll mir noch mal einer sagen: In der Schule lernt man nicht fürs Leben.