IM KINDERGARTEN.
Im Kindergarten ist es immer toll.
Die kleinen Guppyfische im blauen Aquarium, die einen interessiert anstarren, als ob sie fragen würden: „ Wer bist du denn?.. Kannst du auch schwimmen?“. Das Wasser plätschert leise und so beruhigend.
Das kleine Mädchen steht davor und vergisst die Zeit. Wenn man länger auf das Wasser, die Fische und die sachte wedelnden Wasserpflanzen schaut, wird man sanft in
die wunderschöne leise plätschernde Unterwasserwelt eingesogen… Und schon schwimmt man in diesem ruhigen, leicht glitzernden Meer, und es ist so, als ob es schon immer dein Zuhause war… Mit freundlichen Fischen spielen, mit ihnen um die Wette schwimmen, sich ohne Worte verstehen… Deine perlmuttfarbene Schuppen glitzern zauberhaft im Sonnenlicht…
Ein paar Kinder kommen zum Aquarium, um zu sehen, was es dort Interessantes gibt, das schon länger davor stehende Mädchen
so fasziniert. Ach, nur die Fische… Die Kinder klopfen an die Glasscheibe, erschrocken weichen die Fische zurück, die freundliche Unterwasserwelt trübt sich und verwandelt sich augenblicklich wieder in ein kleines Zimmeraquarium.
Es ist Zeit, Pflanzen zu gießen. Das Mädchen nimmt eine wassergefüllte Kanne und gießt sorgfältig die frischgrünen Chlorophytum- und Asparagusgewächse. Die Namen der Pflanzen kennt sie gut, die Erzieherinnen haben es den Kindern beigebracht. Das Mädchen stellt sich beim
Gießen vor, wie sie sich selbst anstelle von Blumen über Wasser gefreut hätte, wenn sie Durst hätte. Die Dankbarkeit der Pflanzen kann sie spüren und freut sich innerlich mit…
Jetzt ist es Mittagszeit, und es riecht so heimelich nach Suppe…Diesen Geruch prägt sich das Mädchen gut ein. Alle essen gemeinsam, die Löffel klopfen fleißig an die Teller, die Kinder sind hungrig und müde. Nach der Suppe gibt es noch Grießbrei
und leckeres Kompott…
Es wird ruhiger… Die Kinder ziehen sich um und legen sich in ihre frisch gemachten Betten. Diese Zeit liebt das Mädchen. Man muss nicht schlafen, man kann einfach mit geschlossenen Augen liegen. Du bist nicht allein, und doch hast du deine Ruhe. Du kannst träumen, deine Unterwasserweltreise fortsetzen, heimlich den Wolkenflug aus dem Fenster beobachten oder dem Rauschen des Windes in den Sträucherblättern hinter dem gekippten Fenster lauschen…
...Der Tag im Kindergarten vergeht schnell,
schon ist es Abend. Eins nach dem anderen werden die Kinder von ihren Eltern, Großeltern und älteren Geschwistern abgeholt. Wie schön, dass morgen wieder Kindergarten ist, denkt das Mädchen,
während sie von ihrer viel älteren Schwester abgeholt wird. Noch verträumt von den Erlebnissen des langen Tages zieht sich das Mädchen langsam an.
„Hey, zieh' dich schneller an! Zu Hause wartet eine Überraschung auf dich“, ihre Schwester schaut sie verschwörerisch an. „Eine Überraschung?“, fragt das kleine
Mädchen neugierig, aber leicht misstrauisch, „was für eine denn?“. „Wenn du kommst, siehst du es“, entgegnet ungeduldig die Schwester, „es ist was Schönes!“. „Jetzt sag schon“, bittet das Mädchen, ihre Neugier wächst, jetzt will sie es wissen. Die Schwester sieht sie geheimnisvoll an und zögert die Antwort absichtlich hinaus. „Das sind ...ähhm... das sind ... Aschenputtels Schuhe!“, rückt sie endlich heraus und beobachtet dabei das Mädchen ganz genau. „Wie?..“, dem Mädchen bleibt fast der Atem stehen, „aber... woher kommen sie denn?..“, flüstert sie ungläubig…
Ihre lebhafte Fantasie malt sofort zauberhafte Bilder aus einem ihrer Lieblingsmärchen… Sie sieht eine Prinzessin im bezaubernden weißen Kleid die riesige Palasttreppe hinunterlaufen, ein kristallgläserner Schuh bleibt mit einem kurz ertönenden feinen Klanggeräusch auf der Treppe liegen… Ein schöner Prinz bringt ihr würdevoll den glitzernden Schuh und zieht ihn ihr feierlich an… Die Prinzessin sieht wunderschön aus, die beiden Verliebten sind sehr glücklich…
DIE ÜBERRASCHUNG.
...Die Hälfte des Nachhausewegs liegt schon hinter den Schwestern.
Die großen weißen Schneeflocken fallen kreisend vom Himmel hinab und glitzern märchenhaft im hellblauen zerstreuten Licht der Straßenlaternen... Das Mädchen will stehen bleiben und den Schneeflockentanz beobachten, doch die Schwester drängt: "Hey, und die Aschenputtels Schuhe? Hast du vergessen, sie warten doch auf dich! ". Das Mädchen läuft schneller, der feste Schnee knirscht unter ihren Valenki*.
*russische Filzstiefel
Sie würde noch so gern eine Schneeballschlacht mit ihrer Schwester machen, nur kurz, aber die Schwester hat keine Lust, sie hat es eilig.
Zu Hause angekommen, klopfen sie vorsichtig den Schnee von ihren Mänteln und Mützen und die angefrorenen Eiskügelchen von ihren Filzstiefeln ab.
Das Mädchen kann es nicht erwarten, die Aschenputtels Schuhe endlich zu sehen. Wo sind sie denn? „ Suche mal! Sie stehen unter dem Tisch.“ Sie rennt in das
gemeinsame Zimmer mit einem großen alten runden Tisch, der mit einer langen weißen Tischdecke bedeckt ist. Vorhang auf!..
Das Gesicht des Mädchens erstarrt. Wo sind denn die wunderschönen Prinzessinnenschuhe? Außer einem Paar alten gestopften Wintersocken aus festem Grobstrick kann das Mädchen nichts mehr unter dem Tisch finden…
„Und? Hast du sie gefunden?“, fragt die große Schwester, die jetzt neben dem Mädchen steht und es aufmerksam-prüfend
ansieht. Da sie keine Antwort bekommt, sagt sie: „Da sind sie doch“ - und zeigt auf die alten, mit einem dicken schwarz-gelb karierten Wollstoff ordentlich gestopften und deshalb aufrecht stehenden Socken. „Die Aschenputtel hat doch mal solche Schuhe im Märchen getragen, weißt du das etwa nicht mehr?“, fragt sie das Mädchen leicht vorwurfsvoll, „ und die Oma hat sich beim Stopfen sehr viel Mühe gegeben, damit du sie länger tragen kannst.“
Das Mädchen saß wie angewurzelt unter dem Tisch. „Willst du ihr nicht etwa Danke
sagen?“ Wegen eines eckigen Kloßes im Hals konnte das Mädchen nicht antworten.
Wie eine zu groß gewordene bunte Seifenblase platze vor ihren Augen der Traum, sich nur einmal wie eine Prinzessin zu fühlen. Sie war noch klein, aber sie wusste, dass ihre Mutter wenig Geld hat und allein eine vierköpfige Familie ernähren musste, deshalb fragte sie nie nach etwas, um das Geld ihrer Mutter dadurch zu sparen.
Einmal im Sommer, als sie mit der Mutter einkaufen waren, sah sie ein paar
wunderschöne dunkelrot glänzende Kirschen auf einem kleinen Teller, den ein Straßenverkäufer ausstellte, um Kunden zu locken. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, sie konnte die Augen von diesen prachtvollen runden Beeren nicht abwenden, deshalb musste sie langsamer laufen, um ihr Aussehen gut in ihr Gedächtnis einzuprägen.
Doch die Mutter schleifte sie eilig weiter und sagte wie immer „Komm‘ schneller, wir haben kein Geld!“. Seit diesem Fall fragte das Mädchen kein einziges Mal mehr nach
irgendetwas für sich.
Doch der Schmerz der Enttäuschung fühlte sich jetzt wie ein tiefes schwarzes Loch in ihrer Brust.
„Doch“, murmelte das Mädchen leise, stand auf und ging zu ihrer Oma, um sich zu bedanken. Die Schwester beobachtete es. Sie legte viel Wert auf Höflichkeit bei ihrer kleinen Schwester. „Freust du dich denn nicht?“, hackte sie nach und schaute dabei das kleine Mädchen vorwurfsvoll an.
„Doch…“. Das Mädchen sah nach oben in
die kalten eisblauen Augen ihrer großen Schwester. Letztendlich wollte die Kleine
sie ja nicht enttäuschen.
Sie nahm die Aschenputtels Schuhe und zog sie an, aber sie versuchte es vergeblich, sich wie eine Prinzessin zu fühlen. Das wollte ihr einfach nicht gelingen.
Der vorwurfsvolle Blick ihrer Schwester stand dem Mädchen vor Augen. Wie konnte es nur so undankbar sein, sie wollten ihr doch eine Freude machen… Zunehmend fühlte sich das Mädchen schlecht.
Sie beschloss jetzt, nie mehr so schön zu träumen, um sich selbst und die anderen um sich herum nicht mehr zu enttäuschen.
8.6.17