Teil I
Gott hat mir eine Schatulle geschenkt, sie lag eines Tages vor meiner Tür.
So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. Ein großes, aufwendig gestaltetes Kunststück aus Holz, Perlmutt und Metall, mit vielen feinen Intarsien, geschmückt mit funkelnden Edelsteinen in prächtigen Farben. Wenn du sie länger anschaust, erzählen dir Intarsienbilder allerlei Geschichten, drehst du kleine eingebaute Edelmetallgriffe an der Seite, spielt die Schatulle bezaubernde Melodien ab…
Du kannst nicht die Augen von ihr lassen, findest immer wieder neue Bildkombinationen, die dir neue Geschichten erzählen und muss aufs Neue die wunderschönen Melodien abspielen.
Das Eine aber schaffst du nicht: Die Schatulle aufzumachen, um zu sehen, was darin liegt. Mit vielen kleinen Geheimschlössern versehen, lässt sie sich nicht aufmachen.
Die Tage vergehen, die Neugier wird ungeheuer groß, was wohl in diese Schatulle hineingelegt wurde, aber du bist keinen Schritt weiter...
Die Zweifel kommen, du fragst dich:
Hat Gott denn diese wunderschöne Schatulle wirklich mir geschenkt? Oder wurde sie mir vielleicht nur für kurze Zeit geliehen, um bewundern zu können, wie groß unser
Schhöpfer ist und welch wundervolle Werke
Er vollbringen kann, gehören tut sie aber jemandem anderen, der sie dann auch aufmachen darf…
Was mir nicht gehört, will ich nicht nehmen. Wenn ich es doch nur wüsste!..
19.05.17
TEIL Ii
Die Schatulle stand immer noch im Regal.
Beim Abstauben schubste ich sie unvorsichtig mit dem Ellbogen… Im nächsten Moment lag das schöne Stück auf dem Boden. Ich sank neben ihr herunter und wollte sehen, ob etwas kaputtgegangen war. Sie lag auf der Seite. Alles war dran, nicht ein einziger Kratzer zu sehen…
Erst jetzt bemerkte ich, dass sie leicht offen war. Nanu, ohne Schlüssel?.. Tatsächlich war sie innen mit einem Schutzmechanismus versehen, der sie sicher vor Eindringlingen schützte: mehrere spitze Stacheln aus kaltem Stahl, die ineinander gehen wie bei einem
Zahnradmechanismus. Vom leichten Aufprall auf den Holzboden ging er auf, so dass man ein wenig hineinschauen konnte…
Ich legte mich neben die Schatulle hin, um vorsichtig hineinzuspitzeln.. Seltsam, dass nichts herausgefallen war, dachte ich, kein Schmuck, keine Briefe… Zwischen den Stahlstacheln konnte ich ein schwaches Licht erkennen – und plötzlich sog es mich sanft in das Innere der Schatulle!
Ich stehe auf dem festen Boden in einem Waldstück, die einzelnen Sonnenstrahlen scheinen ganz schwach durch die dichte Nebeldecke... Ich gehe vor, auf den leisen Klang einer traurigen Melodie. Durch die grauen Nebelwolken erkenne ich bald einen verlassenen Garten mit einem Wildwuchs aus knorrigen Obstbäumen, wuchernden Sträuchern und alles umschlungenem dunkelgrünen Efeu. Altes braunes Laub bedeckt den Boden wie ein dicker Teppich, junges Gras hat seine Mühe durch den Laubteppich hindurchzukommen. Die abgeblühten Blumen werfen mit einem leichten Windstoß getrocknete Blüten herunter.
Die Sträucher lassen ihre vergilbten Blätter fallen, sie kreisen in der Luft in einem langsamen Walzerrhythmus und fügen sich geräuschlos dem ohnehin dichten Laubteppich hinzu…
Die Grashalme vor dem Hauseingang sind menschenhoch. Die Tür zum Haus steht wohl schon lange offen, dünne Spinnweben bedecken die unzähligen Schätze: trüb glänzende Gold- und Silberringe, verstaubte Bücher in den Bücherregalen, bunte Postkarten mit schönen Landansichten und weisen Sprüchen, die zwischen Zeitschriften und Notenblättern auf dem Boden liegen, die vielen vergilbten Fotos von lächelnden Kindern an den Wänden und selbstgemalte Bilder in schönen Rahmen... Die zahllosen winzigen Staubpartikeln tanzen in der Luft in den schwach durchdringenden Sonnenstrahlen…
Ein Buch liegt offen auf dem Holztisch. Auf einem großen schwarz-weißen Bild stehen oben drei Holzkreuze auf einem Berg, an zwei davon hängen Männer, das Kreuz in der Mitte ist leer. In einem Garten unten auf dem Bild sitzt ein Mann im weißen Gewand, trinkt ein Glas Wein und sieht mit einem selbstzufriedenen Blick in die Ferne... Vor ihm liegt eine Schreibfeder und Briefpapier, auf welchem steht „Leute, ihr seid alle toll, ich wünsche euch allen das Beste, aber so was muss ich mir echt nicht antun. LG, Jesus“. Die Wörter "annehmen" und "vergeben" in den Versen auf der nächsten Seite sind verblasst, in einer kalligraphischen Schrift korrigierte jemand mit einem blauen Kugelschreiber "ablehnen" und "vergelten" darüber...
Mitten im Garten sitzt vor einem alten, einst teuren Klavier leicht gebückt ein grauhaariger Mann und spielt nachdenklich eine unendlich melancholische seelenaufwühlende Melodie. Auf seinem Gesicht ist ein Siegerlächeln erstarrt, doch seine von der Zeit verblassten hellblauen Augen schauen betrübt und melancholisch vor sich hin. Er ist tief in seine Gedanken versunken, die ihn in die einst bunte farbenfrohe Welt entführen… Als der Mann mich sieht, schaut er mich misstrauisch mit seinem eisbergkalten Blick an und ruft herablassend: „Hau ab! So was kann ich hier nicht gebrauchen…“ - dann widmet er seine Aufmerksamkeit wieder dem Klavier…
Trotz durch den Nebel durchdringende Sonnenstrahlen wird es mir plötzlich kalt… Ich mache die die Augen zu und wünsche mir, ich wäre nicht mehr da…
...Auf dem sonnendurchfluteten Boden meines Wohnzimmers neben mir liegt die leicht geöffnete Schatulle. Ich starre sie an und überlege, ob ich jetzt von der Sommerhitze kurz eingenickt und das alles nur ein seltsamer Traum war. An der Haarsträhne, die auf meine Stirn fällt, klebt eine Spinnwebe...
Ich klappe die Schatulle zu, trage sie nach draußen und stelle sie am Straßenrand ab. Ich glaube, sie gehört mir nicht.
29.06.17