Prolog
Wenn du stirbst, zieht dein Leben an dir vorbei, so sagt man...
Aber das stimmt nicht.
Du durchlebst dein Leben kein zweites mal.
Der Film deines Lebens bleibt aus.
Da sind keine Erinnerungen.
Da ist nichts außer der Augenblick – dieser alles verzehrende Moment – und der Schmerz. Allen voran ist da der Schmerz, der alles andere aus deinem Kopf verdrängt.
In diesem Augenblick, den Augenblick deines Todes, hast du keine Zeit dich an
Erinnerungen zu klammern. Wenn es soweit ist, klammerst du dich viel mehr an diesen Augenblick, an die Gegenwart und an den letzten Hauch deines Lebens, der langsam deinen Körper verlässt.
Du lebst in diesem Moment, denn er ist alles, was dir dann noch geblieben ist.
Zumindest war das bei mir so, als ich starb.
Manchmal wünschte ich mein Leben wäre an mir vorbei gezogen. Vielleicht könnte ich mich dann noch daran erinnern. Alles was von mir – von dem Teil von mir, der ich war bevor ich gestorben bin – geblieben ist, ist mein Tod.
Wer ich war ist unwichtig. Wieso ich sterben musste hat keine Bedeutung. Alles was ich wissen muss, ist wie es sich anfühlt zu sterben. Das erklären sie mir immer und immer wieder.
Deswegen weiß ich nicht, wer ich war bevor ich zu der wurde, die ich jetzt bin.
Und ich bin die, die ich bin, weil ich es nicht weiß.
Es ist jetzt fast drei Jahre her, doch wenn ich die Augen schließe, sehe ich es vor mir. Wenn ich will kann ich mich an jedes noch so kleine Detail erinnern.
Es war in New York, an einem dieser verregneten Tagen. Die Wolken hingen dunkel und schwer über der Stadt. Die
Luft roch nach Regen und der Wind riss verbissen an meinen Kleidern.
Wieder sehe ich die dunkle Gasse, irgendwo nahe der Brooklyn Bridge, vor meinem inneren Auge. Ich höre meine Schritte auf dem Boden, matschig vom Regen der letzten Wochen.
Ich höre mich rufen, panisch, schrill...
Jedoch hört mich niemand.
Niemand kommt mir zu Hilfe.
Ich renne weiter, orientierungslos und blind vor Tränen. Sie laufen in Strömen über meine eiskalten Wangen. Dann fällt der Schuss. Der Knall wird von den hohen Mauern zurückgeworfen und übertönt meinen Aufschrei.
Ich spüre, wie die Kugel in mich
eindringt. Sie durchbohrt meine Brust und zerfetzt meine Lungen. Ich sinke auf ein Knie, versuche mich aufrecht zuhalten, doch es gelingt mir nicht. Hart lande ich auf dem schlammigen Boden, unfähig mich zu rühren.
Ich höre meinen röchelnden Atem, als sich meine Lungen qualvoll langsam mit Blut füllen. Meine Tränen vermischen sich mit dem Blut, das mir aus den Mundwinkeln tropft.
So bin ich gestorben.
Mein Tod hatte nichts romantisches, oder friedvolles. Ich habe kein wärmendes Licht gesehen, in dem ich mich badete. Kein innerer Frieden hat mich erfüllt, oder sonst so einen Quatsch.
Mein Tod war grausam, dreckig und vor allem schmerzhaft.
In diesem letzten Atemzug meines Lebens kannte ich nur Wut. Wut darüber, wie unfair es war. Ich wollte nicht sterben, doch so verzweifelt ich auch versuchte nicht aufzugeben: Letztlich war jeder Versuch zwecklos.
So war es für mich zu sterben.
Wie es anderen Menschen ergeht, weiß ich nicht. Vielleicht sind ihre Tode friedvoller und weniger grausam. Vielleicht sehen sie ein Licht.
Manchmal wünsche ich es mir. Dann hoffe ich es inständig, damit das Alles einen Grund – einen Sinn – hat. An
manchen Tagen halte ich mich an diese Vorstellung fest. An manchen Tagen brauche ich sie, um überhaupt weitermachen zu können.
An anderen Tagen wünsch ich mir, dass es allen Menschen so ergeht wie mir. Ich will, dass sie leiden und dem entsetzlichen Antlitz des Todes entgegen blicken, machtlos, mit dem Wissen, dass sie sterben werden. Schließlich war ich gezwungen, das zu erleben, ist es dann nicht gerecht, wenn es auch anderen widerfährt? Wieso sollte nur ich auf diese Weise dahin scheiden?
Macht mich das zu einem schlechten
Menschen?
Vielleicht.
Aber das Gute ist: Ich bin nicht länger ein Mensch.
Vielleicht gelten für mich ja jetzt andere Regeln...