DAs Geheimnis
Wir haben uns eine Zeit nicht mehr gesehen. Doch ich vermisste dich und wollte dir, meiner Schulfreundin, einen Besuch abstatten. Verwundert stellte ich fest, dass auf dem Tritt vor dem Eingang die gestrige Zeitung lag, ganz und gar durchweicht vom Morgentau. Wo warst du? Ich klingelte Sturm. Mir fiel das kleine Hotel im Nachbarort ein, in dem deine Tante arbeitete und du früher oft Rückzug suchtest. Dort angekommen, fragte ich an der Rezeption nach. Ich wollte den Zimmerschlüssel und dich überraschen. Der Mann hinter dem Empfang meinte, es wäre unerlaubter
Zutritt. Machte ich vielleicht einen unseriösen Eindruck? Ich redete mit Engelszungen und log, dass sich die Balken hinter der Deckentäfelung bogen. Schließlich drückte er mir die Chipkarte zu dem kleinen Dachzimmer deiner Tante in die Hand. Ich eilte die Treppen hinauf und öffnete vorsichtig die Tür. Als ich dich im Bad krispeln hörte, ging ich hinein und rief: "Überraschung!" Im Grunde hatte ich dich inflagranti erwischt. Du saßt auf dem Fußboden, mit einer Hand am Toilettenpapierhalter und in der anderen Hand eine Rasierklinge. "Um Gottes Willen, was ist mit dir?", rief ich entsetzt. Dein qualvoller Blick traf mich
mitten ins Herz.
Schon früher hatte dir das Leben arg zu schaffen gemacht und du suchtest ein Ventil für deinen Schmerz, dass du nicht wusstest, wer dein Vater war. "Ich bin ja da!", flüsterte ich tröstend und nahm deinen Arm, der einer Vulkanlandschaft glich. "Die Narben kann man doch übertätowieren.", meintest du und fast flehend fügtest du hinzu: "Das bleibt aber unser Geheimnis." Ich wusste, dass du jetzt vor allem Halt und Verständnis brauchtest. Wir nahmen uns Zeit, uns
zu unterhalten und über Hilfe für dich nachzudenken. Dazu waren wir doch schließlich Freunde.