Die Erinnerungen
Die Haut des Kindes erbleichte unmittelbar, als sie die Höhle betrat. Wie ein Geist wirkte sie nun, doch ihre Umgebung wirkte nicht weniger passend und auf ihr Aussehen zugeschnitten. Das Mädchen mit den dunkelblonden Haare, verschmutzt mit Erde und Wurzelstücken, die ihr beim Kriechen durch den Tunnel im Haar hängen geblieben waren, schwieg und versuchte kurz zu Atem zu kommen. Ihre Augen sprangen entsetzt durch den Raum.
Wurzeln hingen von der Decke der Höhle herab und verliehen ihr ein eigentlich normales Aussehen, sie war gerade mal
so hoch, wie das kleine Mädchen selbst und sie musste nur die Händchen ausstrecken, um die Decke über sich zu berühren. Doch das tat sie nicht, sie sah sich um und setzte nach und nach die Füße voreinander. Zuerst wäre sie nicht auf die Idee gekommen, sich dem zu nähern, was sich am anderen Ende der Höhle befand, aber eine unsichtbare Macht oder schlicht die Neugier zogen sie schließlich an, wie ein Magnet jegliches Metall. Licht verströmten nur die kleinen, fast vollständig herunter gebrannten roten Kerzen, aufgreiht an den Seiten der Höhlen. Das Mädchen rümpfte die Nase, sie verströmten einen eigenartigen Geruch nach Verwesung, der
die ganze Höhle auszufüllen schien. Verwirrt schaute sie auf den Boden, machte einen Schritt nach vorne, nur um hastig wieder zurück zu springen, als ein kackenden Geräusch unter ihren Füßen ertönte. Knochen? Die Abwegigkeit diese Gedankens war groß, doch wenig ließ er sich auch bezweifeln. Verstreut durch die Höhle, sie achtete nun sehr darauf, nicht auf die Dinge zu treten, fanden sich Knochenteile, Splitter, ja sogar ganze Finger? Als sie am Ende des Ganges ankam, schnappte sie nach Luft. Ihr Atem ging kurz schneller. Auch dieses Mal gewann das kindliche Interesse Überhand. Die Rückwand der Höhle füllte eine große, poliert glänzende
Steinplatte vollständig aus; sie spiegelte die Kerzen und das Gesicht des Kindes. Kurz hatte sie nur sich selbst an der Wand gesehen, dann begann sie die Worte zu erahnen und kniff die grauen Augen zusammen. Die Inschrift war ihr bekannt, so las sie die Worte mit zittriger Stimme vor:
„Schlafe mein Kind, hoch oben im Baum
der Wind schüttelt die Äste, wie im süßesten Traum
wenn die Äste dann brechen fällt die Wiege hinab
und landet samt Kind im finsteren Grab.“
Mehrmals musste sie schlucken, ihr Körper hatte sich verkrampft. Erinnerungen schossen ihr wie das Blut durch die Adern, die ihr nicht selbst gehörten. Bilder in ihrem Kopf so grausam und schwer, das sie aufschrie.
Gewalt, Schmerzen, Blut und immer mehr Blut. Wut, starke, allausfüllende Wut mischte sich nun darunter und sie bekam keine Sekunde, um Atem zu holen, bevor sie eine neue Welle überschwemmte und leer zurück ließ. Nein, nein, das gehörte nicht zu ihr. Unter Schmerzen wand sie sich am Boden, denn sie konnte die falschen Geister nicht ertragen. Die Geister
wuschen ihren Kopf leer und ließen nichts, was einmal zu ihr gehört hatte zurück. War sie noch sie selbst? Nicht mehr; der Teil ihrerselbst schien mehr und mehr zu schwinden, kurz warf sie noch einen Blick auf ihr altes Ich zurück, jemand schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Wie ein Sturm zogen sie über sie hinweg und schienen sie schließlich zu verlassen. Zu welchem Preis?
Schwer atmend erhob sie sich hektisch, umklammerte ihren Rockzipfel. Nocheinmal schaute sie sich um. Die Kerzen verloschen, das Lachen verschwunden, die Schreie verschwunden und nur noch Dunkelheit.
Mit einem Schütteln versuchte sie das
Grauen los zu werden; es gelang ihr nicht. Laut patschten ihre nackten Füßchen über den Höhlenboden, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und für sie fühlte es sich so an, als würde das Geräusch die gesamte Umgebung ausfüllen.
Sie floh, als würde der Teufel selbst hinter ihr her jagen, doch die wirklichen Aumaße der Geschehnisse konnten ihr in diesem Moment nicht einmal ansatzweise bewusst sein. Stolpernd und voll Panik ausgefühlt rannte sie durch den Wald, blickte zu oft zurück, sah nur die blitzenden Augen der Geister hinter den Bäumen. Sie folgten ihr. Einbildung? Verwirrung? Alles andere als das. Mit
schlanken Gliedern krochen sie über den düsteren Boden hinter ihr her. Die Sicht verschwommen, durch Tränen, Angst, den beißenden Wind und die Geschwindigkeit; mit einem Aufschrei erreichte sie das Ende. Als sie den Waldrand betrat, die Verfolger abschüttelte, atmete sie wieder auf, denn es war Tag geworden und gleißendes Sonnenlicht strahlte ihr in die Augen. Mit der flachen Hand musste sie kurz die Augen bedecken. Das Licht, es schien fast zu schmerzen und in ihren Augen zu brennen, sodass diese davon tränten. Das Mädchen mit dem Messinghaar, sie befand sich auf einem Hügel, unter ihr erstreckte sich ein kleines Tal mit Dorf,
Marktplatz, Fluss und allem was dazu gehörte. Auf dem Platz herrschte reger Betrieb, Marktag, die Menschen tummelten sich wie Ameisen um Stände, Straßenkünstler und allerhand Getier, das zum Verkauf stand.
Unwillkürlich musste sie lächeln und ließ die verschlossene Tür ihres früheren Ichs, die des kleinen, verlorenen Mädchens zurück, ihr Willen hatte sich gewandelt. Wäre sie noch sie selbst gewesen, sie hätte sich gefürchtet, vielleicht zu weinen begonnen und versucht zu fliehen. Aber das war Vergangenheit, ihre Stunde war um gewesen, als sie den Wald betreten hatte.
Ihr Mund weitete sich zu einem
unnatürlich weitem Grinsen, denn sie hatte ihr erstes Ziel gefunden. Das erste von vielen, um die Geister zufrieden zu stellen, nein, um sich selbst zufrieden zu stellen. Denn sie war eins mit ihnen geworden.
Im Zentrum des Dorfes befand sich eine kleine Kapelle. Die Turmuhr schlug zur dritten Stunde.