Kurzgeschichte
Zu erleben was man hat

0
"Zu erleben was man hat"
Veröffentlicht am 01. Mai 2017, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Melinda Nagy - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich schreibe, seit ich 8 Jahre alt war, besonders haben es mir Kurzgeschichten und Gedichte angetan. Dabei probiere ich immer wieder gerne etwas Neues aus - sei es beim Genre, oder beim Schreibstil.
Zu erleben was man hat

Zu erleben was man hat

Nach Ernas Tod  hatte ihm  niemand ge-sagt, dass der samstagmorgendliche Gang zum Bäcker sein größtes Problem sein würde. Um die Sauberkeit der Wohnung sorgte man sich. Um den Fall, dass er sich verletzte und Hilfe rufen könnte, weil er nicht zum Telefon kam. Selbst um  das  Wohl  der  Orchideen  und  des Hibiskus im Balkonzimmer hatten sie sich Gedanken gemacht, aber niemand – weder die Pflegerin, noch die Pfarrerin, welche ihn in der Seelsorgebesprechung auf sein Leben allein hatte vorbereiten sollen, noch seine eigenen Söhne hatten an den Bäcker gedacht. Samstagmorgens,  so  war  es  bei  ihnen Tradition gewesen, war Siegfried

Moos-bach  um  halb  acht  aufgestanden, hatte Kaffee aufgesetzt und einen Spaziergang zum   Altstadt-Bäcker   angetreten.   Der letzte echte Backwarenladen in der Stadt, der es noch verstand, Geschmack in seine Waren zu bringen – nicht so ein Massen-abfertigungskram, der möglichst billig unter die Leute gebracht wurde. Bei diesem Bäcker hatte er sich immer mit der freundlichen alten Verkäuferin unterhalten, die ihn nach seinem Knie fragte und nach Ernas Herzen. Jedes Mal wünschte sie ihnen beiden einen schönen Samstag und natürlich gute Besserung, auch wenn man damit nicht rechnen kon-nte und obwohl sie Erna nicht mal

persönlich kannte. Selbst in Begleitung war  sie  seit  Jahren  schon  nicht  mehr weiter als ein paar Schritte außer Haus gegangen. Bei diesem Bäcker hatte er immer zwei Brötchen  gekauft,  meistens  Mehrkorn-brötchen, manchmal Roggenbrötchen und sehr selten die weißen Schnittbrötchen. Ein paar Mal ließ er sich von der freund-lichen  Verkäuferin  zu  einem  Brötchen aus brandneuer Rezeptur überreden, aber Erna und er mochten die traditionellen lieber. Zusätzlich zu den zwei Brötchen hatte er immer noch einen süßen Nachtisch mit-gebracht, den sie sich teilten. Im Sommer war das  meistens   ein Stück 

Erdbeerku-chen gewesen, denn  Erna  hatte  Erdbee-ren über alles geliebt – nur nicht über Siegfried selbst, so sagten sie jedes Mal, sobald jemand Ernas Erdbeervernarrtheit zur Sprache brachte. Wenn gerade kein Sommer war und es auch keinen Erdbeerkuchen gab, hatte er es geliebt, sie mit anderen süßen Köst-lichkeiten zu überraschen und anders als bei  den  Brötchen  durfte  es  bei  den Kuchen und Teilchen sehr gerne auch mal etwas Ausgefallenes sein. Kurzum: diese samstagmorgendliche Tradition stellte fünfunddreißig Jahre lang für sie beide den Höhepunkt der Woche  dar  und  nur selten  musste  ihr

geliebtes Ritual ausfallen. Und ebendiese Tradition würde jetzt wegen dieser einen unliebsamen,  permanenten  Ungewöhn-lichkeit nie wieder stattfinden können. Nie wieder, das war für Siegfried ein schwer   verständlicher,   im   Grunde unakzeptabler Ausdruck, aber ein Stück für sich allein zu kaufen, kam für ihn wiederum auch nicht in Frage. Ohne Erna schmeckte der beste Erdbeerkuchen nach altem Pappkarton und überhaupt verstand er den Sinn eines ausgiebigen Frühstücks nicht, wenn er es mit niemandem teilen konnte. Am ersten Samstag ohne gemeinsames Frühstück hatte er sich gewohnheits-gemäß um viertel vor acht auf den Weg

gemacht, obwohl er bereits nach dem Aufstehen keinen Appetit verspürte. Am zweiten Samstag ohne gemeinsames Frühstück raffte er sich erst um neun auf, zum Bäcker zu spazieren und am dritten Samstag und am vierten und fünften war er gar nicht mehr hingegangen. Stattdessen   hatte   sich   eine   Stulle geschmiert, an der er dann lustlos herum-knabberte. Der Geschmack war fad gewe-sen und die Scheiben trotz Butter staub-trocken. Keine Stulle der Welt konnte nur annähernd an die Stullen herankom-men, die Erna mittags für ihn gemacht hatte und allein das Wort trieb ihn nun in den Wahnsinn. „Stulle“; das klang nicht nur wie das

langweiligste  Essen  auf der  Welt, es hörte  sich  auf  einmal  auch  noch  so unglaublich unappetitlich an, dass er das Gesicht   verziehen   musste   und   die angebissenen Scheiben lieblos auf den Teller fallen ließ. Nein, auch das wollte er  nicht  mehr  essen.  Keine  Brötchen, keinen Kuchen, keine Teilchen und erst recht keine Stullen! Am sechsten Samstag stand Siegfried um zehn Uhr auf und ignorierte die Küche vollkommen, sondern setzte sich gleich in seinen Sessel im Fernsehzimmer und starrte gewohnheitsgemäß auf den Bild-schirm, ohne dass er ihn vorher ange-schaltet hätte, aber das merkte er gar nicht so recht. Auch das Läuten an der

Tür, etwa anderthalb Stunden nachdem er sich niedergelassen hatte, bekam er nicht mit; und so läutete es einmal, dann zwei-mal und  dann gleich  fünfmal, ehe  der Besucher es aufgab und wieder Stille in der Wohnung einkehrte. Am Nachmittag des sechsten Samstags ohne Erna erhob Siegfried Moosbach sich aus seinem Fernsehsessel und ging zur Wohnungstür, öffnete sie und trat nach draußen in das kühle Treppenhaus. Viel-leicht hatte ihn ein Anflug von Pflichtbe-wusstsein hinausgetrieben, damit er mal wieder seinen Briefkasten leerte oder ihn zu einem Mittagsspaziergang aufforderte. Beiden Dingen kam er nicht nach.

Stattdessen zog ein kleines Päckchen an der Türschwelle seine Aufmerksamkeit auf sich, auf dem ein zusammengefaltetes Blatt   Papier   lag. Gleich   daneben entdeckte er eine beige Thermoskanne mit  Blümchenmuster. Ein  Duft  von Erdbeerkuchen und Kaffee hing in der Luft. Der alte Mann bückte sich nach dem Paket und hob es behutsam auf.



Auch  wenn  ich  Ihnen  das  hier  gerne persönlich gesagt hätte, aber Sie werden die Nachricht schon bekommen, wenn Sie bereit dazu sind: Es ist ein wunderschöner Tag und die

Sonne scheint auch (oder ganz beson-ders) für Sie! Nehmen Sie den Kuchen, packen Sie die Thermoskanne ein und gehen Sie an die frische Luft; suchen Sie sich ein Fleckchen, an dem Sie sich wohlfühlen und nehmen Sie so viel wie möglich wahr: schmecken Sie, hören Sie, riechen  Sie!  Erleben  Sie  Ihr  Leben, anstatt sich in der Trauer aufzulösen! Fühlen Sie, dass Ihr Herz schlägt und erfreuen Sie sich daran! Denken Sie an all die schönen Tage, die Sie mit Erna verbracht haben und halten Sie sie sich gut in Erinnerung – aber vergessen Sie nicht, dass die Zukunft ebenfalls ein paar ganz wundervolle Dinge für Sie bereithalten kann! Ich

hoffe, am nächsten Samstag haben Sie mir wieder einiges zu erzählen – Ich würde mich freuen! Ihre Freundin und besorgte Bäckerin

0

Hörbuch

Über den Autor

JanaRetlow
Ich schreibe, seit ich 8 Jahre alt war, besonders haben es mir Kurzgeschichten und Gedichte angetan.
Dabei probiere ich immer wieder gerne etwas Neues aus - sei es beim Genre, oder beim Schreibstil.

Leser-Statistik
13

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
KaraList Was für eine Geschichte - berührend, sensibel formuliert - ein ausgewogener Schreibstil. Ein realitätsnahes Thema ... leider fehlt oftmals die Bäckersfrau.
Gefällt mir sehr, liebe Jana!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Vielen Dank für deinen Kommentar und natürlich die Favorisierung!
Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat :)

Liebe Grüße,
Jana
Vor langer Zeit - Antworten
MerleSchreiber Was für eine Entdeckung - sowohl was den Inhalt betrifft als auch den Schreibstil. Sehr fein, sehr durchdacht. Das Ganze, aber vor allem der Schluss sehr, sehr berührend.
Liebe Grüße, Merle
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Vielen Dank, liebe Merle! Ich freue mich über dein Lob und die Favorisierung :)
Liebe Grüße,
Jana :)
Vor langer Zeit - Antworten
Annabel w u n d e r v o l l geschrieben. Ich bin ehrlich tief berührt und sehe den trauernden Siegfried vor mir - bildlich. Du hast so treffende Worte gefunden. Einfach toll.Ich werde einer Bekannten von deinem Buch erzählen, weil sie jemanden kennt, der Siegfried sehr ähnelt. Ein Stück Kuchen wäre wohl einer guter Anfang zu mehr Lebensfreude. Toll! Lieben Gruß an dich
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Vielen Dank für die lieben Worte! Es ehrt mich sehr, dass mein Text dich so erreichen konnte und natürlich, dass du ihn weiterempfehlen möchtest!
Es macht mich unglaublich stolz zu merken, dass meine Worte meine Gedanken und Emotionen weitertragen können.

Hab einen schönen Abend!
Liebe Grüße,
Ja
Vor langer Zeit - Antworten
tintengewalt Sehr liebevoll geschrieben, am liebsten würde ich noch mehr von der Geschichte lesen!
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Danke, wie lieb von dir, das zu sagen! :)
Vielleicht schreibe ich ja mal eine Fortsetzung, aber für diese Geschichte wäre mehr einfach zu viel gewesen.
Danke auch für die Favorisierung und das Geschenk!

Ich finde übrigens deinen Namen richtig toll!
LG
Jana :)
Vor langer Zeit - Antworten
Loraine Die Geschichte ist gut und sehr gut erzählt.
Gerne gelesen. Loraine
Vor langer Zeit - Antworten
JanaRetlow Das freut mich sehr! Danke auch für den Favo-Eintrag! ^^
LG
Jana
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
12
0
Senden

152274
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung