Winterkälte
Gehüllt in die dickste Winterjacke stiefelte ich durch den knöchelhohen Schnee. Ich hatte mir die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, ob zum Schutz vor Kälte oder vor meiner Außenwelt wusste ich nicht. Ich lief und lief und lief, ob seit Minuten oder Stunden wusste ich nicht. Ich konnte mich noch erinnern, woher ich kam, weder war mir klar, wohin ich ging. Meine Füße trugen mich einfach, auch wenn ich sie schon lang nicht mehr spüren konnte. Sie waren kalt, so kalt, so wie auch er.
Ich verkroch ich tiefer in die Jacke. Vom Nebel umhüllt war ich gefangen in meiner eignen
Gedankenwelt,
alleingelassen und doch nicht allein genug. Jedes Geräusch ließ mich aufschrecken, jedes Knistern der Äste verschreckte mich. Ich selbst erschreckte ich, meine Gedanken erschreckten mich. Sie führten mich in eine Richtung, die mich verstörte. Ich wollte sie abschalten, sie loswerden. Wenn ich nach links sah, konnte ich normalerweise von hier aus sein Haus erkennen, wäre da nicht der Nebel. Was wohl passieren würde, wenn ich mich einfach fallen ließe? Der weiße Frieden würde mich bedecken, auf mich hinabrieseln, ich zur Ruhe kommen lassen. Erfrieren sei ein schöner Tod, heißt es.
Es war idiotisch. Mich der Kälte hinzugeben.
Es hieße zu verlieren. Gegen ich, meine ungezäumten Gedanken, gegen ihn. Die Kälte. Aber es war meine Kälte. Auch wenn sie stechender war, als der Winter, sie gehörte mir. Ich hatte die Macht, sie in mich eindringen zu lassen oder mich zu wehren. Ich konnte ihr entfliehen. Und doch würde ich sie nicht loswerden. Nicht so schnell. Alles vergeht einmal. Selbst der Winter. Doch was zählt das schon, wenn er die Blüten unter seiner Decke bereits zerstört hat? Wenn an ihrer Stelle nichts ehr keimen wird, wenn seine kalten Wetter sich verzogen
haben? Würde ihnen jemand hinterhertrauern? Wohl ja, doch den Winter selbst würde es nicht kümmern. Er, der die Zerstörung angerichtet hatte, würde weiter
machen wie zuvor und die Blüten der nächsten Jahre unter seiner schützenden Schicht bedecken, um sie schlussendlich mit seiner Kälte zu ersticken. Niemand würde sie warnen können.
Ich begann zu husten und zog mein Handy heraus. Keine neuen Nachrichten. Ich wurde nicht vermisst. Wofür auch? Hauchte einem die Kälte das innere Feuer aus, wollte keiner es wieder entfachen. Im größten Schneesturm war man immer alleine, da keiner es auf sich
nehmen wollte, im Dreckswetter Schutz zu bieten. Sobald man selbst innerlich erkaltete und das Lächeln auf den Lippen erfror, war man es nicht mehr wert. Menschen waren schrecklich. Schrecklich und verletzend.
Früher oder später würde jeder eine Enttäuschung sein. Und am Ende starb man sowieso für sich allein.
Ich bemerkte erst, dass eine Beine mich zum Bahnhof getragen hatte, als der Zug einfuhr. Ich wusste weder, woher er kam, noch wohin er fuhr, als ich einstieg. Es war mir egal. Alles war mir egal. Den Kopf in die Hände gestützt sah ich aus dem Fenster. Wäre der Nebel nicht, könnte ich von hier aus sein
Haus erkennen...