Eingesperrt
Ich ruckle vor und zurück. Ich ruckle, was ich kann. Aber ohne Saft bewegt sich mein Gefährt keinen Zentimeter.
Gefangen, eingesperrt in einem drei mal drei Meter kleinen Raum. Und das alles nur, weil vor einer Woche das ZDF bei mir angerufen hat und ich ein Problem damit habe, NEIN sagen zu können.
"Hiiiiilfe! Hallo, ist da jemand?"
Wie alles begann
„Marlies Kinkel, ich bin Redakteurin
vom ZDF und habe sie im Internet
gefunden, Frau Schreiber“, meldete sich eine ebenso freundliche wie energische Stimme am anderen Ende des Telefons.
Huch, das ZDF!
„H a l l o“ sagte ich gedehnt, um Zeit zu gewinnen, fasste mich aber schnell wieder und schob nach: "Wie kann ich ihnen helfen?“
Frau Kinkel erklärte mir, dass sie vom Sender beauftragt wurde, eine Reportage über seltene Muskelkrankheiten zu drehen und nun auf der Suche nach
O-Tönen von Betroffenen wäre.
„Als Vorsitzende eines Muskelverbandes sind sie genau die Richtige für mich.", meinte die Dame "Außerdem sind sie es doch gewöhnt, vor Leuten zu sprechen,
nicht wahr?"
"Ja, das schon", räumte ich ein und war dann bemüht, die Latte etwas tiefer zu hängen. "Ab und an mal einen Vortrag bei einem Seminar, aber sonst ...."
"Das reicht völlig" warf Frau Kinkel hartnäckig ein.
"Ja, aber - aber im Fernsehen, das ist doch noch etwas anderes, vor Millionen von Zuschauern." Mich schauderte es förmlich bei diesem Gedanken, jedoch mit ihrem nächsten Argument fing sie mich ein.
"Liebe Frau Schreiber, die Chance zu dieser deutschlandweit ausgestrahlten
Öffentlichkeitsarbeit, die dürfen sie sich doch im Sinne ihrer Sache nicht entgehen
lassen."
Bäng - damit hatte sie mich!
Die Frau versteht was von zielführender Kommunikation, dachte ich noch, während ich mich schon sagen hörte: "Okay, ich mach`s!"
"Bravo!", rief Frau Kinkel sichtlich erfreut ins Telefon "Kommen sie morgen in einer Woche nach München ins Studio Freimann. Die Aufnahme ist um 14.00 Uhr. Seien sie bitte mindestens eine Stunde früher da. Das ist ganz wichtig, ich muss mich auf sie verlassen können!"
Ich hatte sieben Tage Zeit, mich auf meinen Fernsehauftritt vorzubereiten. Sieben Tage, die zum Zwecke meiner
Erinnerungsauffrischung ausgefüllt waren mit Notizen machen, Fotos sichten .... Ja, Vorbereitung ist alles. Eine gute Vorbereitung lässt einen sicher werden. Weil dazu auch ein optimales äußeres Erscheinungsbild gehört, fuhr ich in die Stadt, um mich meinem Lieblingsfriseur Juan-Carlo
anzuvertrauen und mich anschließend mit
einem äußerst attraktiven cremefarbenen Business-Hosenanzug auszustaffieren. Das Creme des edlen Tuches harmonierte excellent mit dem Mocca meines Rollis. Zur Perfektionierung meines Auftritts erstand ich noch eine modisch lange Halskette mit einem überdimensional großen silbernen Seeadler als Anhänger.
Derart gut gerüstet war ich heute morgen vollkommen entspannt mit meinem Mann
Richtung München gestartet. Entgegen unserer Erwartungen war der Verkehr auf der Autobahn erstaunlich gering, so dass wir viel schneller als erwartet den Speckgürtel der Hauptstadt erreichten. Die Sonne schien und im Radio lief einer meiner liebsten Country-Songs.
"Wir sind super in der Zeit", vermeldete Herbert und frozzelte mit einem Seitenblick "Na, steigt dein Lampenfieber schon?"
"Ne, gar nicht." antwortete ich gelassen, obwohl ich schon seit einiger Zeit ein
Bauchkrippeln nicht mehr ignorieren konnte. "Aber apropos Lampenfieber,
Herbert, unsere Ikea-Lampe im Wohnzimmer hat diese Woche den Geist aufgegeben - eigentlich möchte ich genau dieselbe wieder haben."
Just in diesem Moment kam die Ausfahrt Eching mit dem Ikea-Wegweiserschild in Sicht, Herbert setzte den Blinker und sagte: "Das passt jetzt grade noch. wir sind eh` viel zu früh dran."
Mir war nicht ganz wohl bei diesem Abstecher, aber dann lief alles wie am Schnürchen. Der Behindertenparkplatz direkt vorm Eingang war frei, der Aufzug zur Beleuchtungsabteilung auch und die Lampe mit dem bizarren Namen "Rotvik"
war überraschend schnell gefunden.
Alles gut - bis hierher.
Auf dem Weg zur Kasse kamen wir am Restaurant vorbei und ich sagte zu Herbert "Jetzt eine Portion Köttbullar mit dieser geilen Soße, das wär doch was!" Ich sagte das einfach so dahin, ohne mir was dabei zu denken, ehrlich!
"Jou", meinte mein Mann "bei mir meldet sich sowieso schon der kleine Hunger. Das ging doch so fix mit der Lampe, da ist nun auch noch ein schnelles
Köttbullar drin. Suche du einen Tisch,
bin in zwei Minuten mit den Tellern da."
Ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass tatsächlich noch Zeit war.
"Aber für mich nicht, stell dir vor, es bleibt was zwischen meinen Zähnen hängen."
Das war ein Argument, dem sich auch Herbert nicht verschließen konnte und so holte er einen Teller der leckeren Hackfleischbällchen für sich und für mich eine Tasse Cappuccino. Der war aber so heiß, dass ich erst mal nicht trinken konnte.
Herbert ließ sich es sich schmecken, hatte nach kurzer Zeit nur noch ein Bällchen auf dem Teller.
"Hier, das ist für dich", sagte er, gabelte es auf, tauchte es in die Soße und hielt es mir vor den Mund.
"Nein, auf keinen Fall", wehrte ich im Hinblick auf meine tadellos geputzten Zähne ab und stieß seine Hand zurück. Dabei streifte ich die Cappuccinotasse,
deren mittlerweile etwas abgekühlter Inhalt sich in der Folge wie ein Tsunami über meine Hose und das Sitzkissen meines Rollis ergoss.
O, gütiger Himmel!
Meine Hose, mein Kissen, das Fernsehen, Frau Kinkel, der Termin! Ich zitterte, ich bebte, ich hörte auf zu atmen. Nein, doch nicht. Ich schnappte nach Luft, war ansonsten aber wie gelähmt. Bisher waren es nur die Beine, nun verzeichnete
ich einen Ausfall sämtlicher Muskelfunktionen.
Herbert war schuld!
Herbert mit seinem verdammten Köttbullar. Dieses grässliche
Hackfleischgedöns, dieser eklige Fraß
mit den kindischen blaugelben Fähnchen obendrauf.
"Herbert, ich hasse dich!"
Herbert, nun ganz blass im Gesicht, war aufgesprungen, hantierte mit ein paar windigen einlagigen Servietten herum und versuchte, diesem Worst Case Szenario den Schrecken zu nehmen.
Ohne Erfolg.
"Herbert, ich hasse dich!", wiederholte ich nun laut hörbar. Die mitleidigen Blicke der Leute an den Nachbartischen waren mir dabei so etwas von egal. Welche Bedeutung hatten diese zwanzig, dreißig Leute? Ich würde gleich vor einem Millionenpublikum auftreten und das in einer durchnässten, mit
braungetönten Flecken überzogenen Hose. Ich fühlte ungewollte Tränen über meine Wangen laufen. Mein make up! O Gott, mein make up. Herr, reiß den Himmel auf, hieve mich hoch, erlöse mich.
"Liebes, das wollte ich nicht."
Aha, der verfressene Hackfleischbällchenliebhaber
hatte seine Sprache wiedergefunden. Mein Selbstbewusstsein dagegen schwamm aufgelöst in einer braunen Brühe unter dem Tisch.
Lass mich", presste ich keifend hervor.
"Ach, komm", säuselte Herbert mit schuldbewusstem Blick, "es ist noch
Zeit, das wieder in Ordnung zu bringen.
Lass uns jetzt planvoll vorgehen. Wir schaffen das!"
"Wir schaffen das, wenn ich das schon höre! Wie? Herbert, sag mir W I E?"
"Du suchst dir eine Behindertentoilette
und wäscht die Flecken, so gut es geht heraus. Ich flitze in die Wäscheabteilung
und kaufe eine kleine Decke, die wir über deine Hose legen können..."
Ich war nicht begeistert, aber da mir jegliche eigene Inspiration abhanden gekommen war, nickte ich nur.
"Gut", meinte Herbert "wir treffen uns in zehn Minuten am Ausgang!"
Obwohl die Lichtverhältnisse in Ikea
Behindertentoiletten als äußerst
mangelhaft bezeichnet werden können, wurde ich nun das ganze Ausmaß meines Unglücks gewahr.
Ich fuhr das Waschbecken an und missbrauchte mein mit Wasser getränktes Brillenputztuch zum Rubbeln an den Flecken. Dabei versuchte ich an gar nichts zu denken, einfach nur rubbeln was das Zeug hält.
Plötzlich hakte sich aufgrund meiner hektischen Bewegungen der Seeadler, der an meiner Halskette baumelte, an der elektrischen Zuleitung meines Rollis
ein und riss das Kabel aus der Buchse heraus. Das Kabelende landete auf dem steingrau marmorierten Fliesenboden und ich stieß einen Schreckenslaut aus.
Immer noch eingesperrt
Mit einem letzten Aufbäumen nestle ich - eingeklemmt zwischen Rollstuhl und Waschbecken - an diesem vermaledeiten Kabel, um es wieder in die Buchse zu bringen.
Unmöglich.
Jetzt bin ich endgültig erledigt.
Das Ticken meiner Uhr am Handgelenk klingt wie Hohn in meinen Ohren. Im
Spiegel schaut mir ein Gesicht entgegen, das heute morgen perfekt geschminkt wurde und nun keine Ähnlichkeit mehr mit dem erzielten Ergebnis, sondern mit der Visage von Karl Dall aufweist.
Hilfe - ich brauche Hiiiiilfe!
"Halloooooo, ist da jemand?"
Keine Reaktion, nur Stille.
Es dauert ganze zwanzig Minuten, bis ich von Herbert und einer Mitarbeiterin des Restaurants befreit werde. Sie finden
mich lethargisch in meinem Rolli sitzend vor, äußerlich ein Häufchen Elend, aber .....
Mir ist mittlerweile alles egal.
"Du kannst auch nach Hause fahren, Herbert", schlage ich vor, als wir kurze Zeit später im Auto sitzen. Aber Herbert ist jetzt vom Ehrgeiz gepackt.
"Wir schaffen das", wiederholt er noch einmal mit dem Brustton der Überzeugung und drückt aufs Gaspedal.
Kurz vor 14.00 Uhr kommen wir beim
Sender an. Herbert hilft mir in den Rolli und legt mir mit einem entschuldigenden Augenzwinkern die gekaufte Decke auf den Schoß.
"Passt doch", entlaste ich ihn völlig
tiefenentspannt. Sie ist cremefarben wie mein Hosenanzug und übersät mit hunderten von kleinen Elchen. Und das - welch ein Glück - im Moccabraun meines Rollis ;-)
Frau Kinkel wartet schon und will etwas
angesäuert wissen, warum wir jetzt erst kommen.
"Eigentlich wollte ich mit ihnen noch ein Vorgespräch machen, ein kleines Training gegen das Lampenfieber", teilt sie mir mit. "Dabei hätte ich sie
exemplarisch mit unvorhersehbaren Widrigkeiten konfrontiert, um ihre psychische Belastbarkeit zu steigern", fügt sie hinzu. Aber nun würde ja schon die Maske auf mich warten.
Widrigkeiten?
Belastbarkeit?
Hihi, ich kann mir das Lachen kaum verkneifen!
"Ja, Maske ist gut!" gebe ich Frau Kinkel zur Antwort. "Das Anti-Lampenfieber-Training habe ich bereits in Eigeninitiative gemeinsam mit meinem Mann absolviert. Und wissen sie was? Ich glaube, es wirkt bereits!"