Mein Leben in der Sackgasse
Pfui, dieser Gestank!“
Ich beeilte mich schnell durch die kleine Gasse zu gehen. Sie war voll mit Bettlern und Zigeunern. „Haben sie mal ne Zigarette“ rief mir einer der bärtigen zu. Ein anderer starrte mich einfach an. Ich beschleunigte meinen Schritt, doch die Blicke bohrten sich wie Pfeile in meinen Rücken. Ich wagte es nicht mich noch einmal umzudrehen, aber das schmutzige, unrasierte Gesicht blieb in meinen Gedanken.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Schrecken auf. Ich sah das Gesicht
immer noch deutlich vor mir. „Wie jung der Mann doch trotz seinem schmutzigen Gesicht ausgesehen hatte“.
Langsam stand ich auf und ging in die Küche. Die Sonne war schon zu dieser frühen Stunde sehr warm und zauberte mit ihren Strahlen feine Muster an die Wand. Ich machte das Fenster auf und schaute auf die Straße. Sofort kam mir der Geruch von Benzin und Müll in die Nase. Unten auf dem Gehweg scharrten ein paar Tauben und ein Mann mit Anzug und Krawatte ging vorbei.
Zu dieser Uhrzeit war es noch trügerisch ruhig, doch in wenigen Stunden würden genau hier Massen von Touristen vorbei strömen, denn meine Wohnung lag nur
wenige Kilometer von der spanischen Treppe in Rom entfernt.
Langsam machte ich das Fenster wieder zu und goss mir ein Glas Orangensaft ein. Der kühle Saft belebte mich etwas und ich ging ins Bad um mich für die Arbeit fertig zu machen. Ein paar Minuten später stieg ich das alte Treppenhaus hinunter. Es stank nach Rauch und wie nicht anders zu erwarten stand unten an der Tür Antonia. Antonia ist eine ältere Frau, ihr gehören die meisten Wohnungen in dem Haus und sie ist somit auch meine Vermieterin. „Na, auch schon auf den Beinen Fiona?“ grüßte mich die Dame. So grüßt sie mich immer, obwohl sie genau weiß, dass ich
jeden Tag so früh zu meinem kleinen Kiosk gehe.
Ich erwiderte ein kurzes „Ciao“ und bog Richtung Metro, der italienischen U-Bahn ab. Am Piazza Venezia angekommen duckte ich mich durch eine der ersten Touristengruppen hindurch. Und plötzlich stand ich wieder vor ihr: Der Gasse.
Das Gesicht des Bettlers war sofort wieder da. „Ob er noch da ist?“ Ich wunderte mich selbst, dass ich einen Gedanken an einen Bettler verschwendete. „Einerseits bin ich neugierig, aber andererseits habe ich auch etwas Angst. Aber wovor genau?“ dachte ich weiter. „Vor den Zigeunern
oder vielleicht, dass der junge Mann nicht mehr unter ihnen ist?“ Ich begegnete jeden Tag so vielen Zigeunern, also drückte ich reflexartig meine Tasche an den Körper und betrat die Gasse.Â
Mir kam sofort wieder der Gestank in die Nase und ich blickte mich beim Durchqueren der Gasse schnell um, damit ich auch niemanden übersah. „Wie kann man hier nur schlafen?“ fragte ich mich angewidert.                                          An der belebten Straße zurück war die Enttäuschung groß „Er war nicht dabei“ schoss es in meinen Kopf. Ich drehte mich um, doch die Gasse war schon nicht mehr zu sehen.                            Â
Der restliche Weg bis zum Kiosk war
zwar nur noch einen Katzensprung entfernt, kam mir aber ewig vor.     Â
Ich sperrte den Kiosk auf und sortierte erstmal die neu angekommene Ware: Zeitschriften, Tickets für die Metro, frisches Obst, Souvenirs und natürlich viel Wasser. Ich war gerade fertig, als schon der erste Kunde vor dem Kiosk stand. „Un acqua per favore“ sagte er in einem schlechten Italienisch. Ich reichte ihm ein Wasser, der Mann zahlte und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Nun war ich wieder alleine mit meinen Gedanken. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und schaute durch das kleine Fenster auf die Straße.
Diese Art von Beschäftigung liebte ich,
weil man dabei so viele verschiedene Menschen sehen konnte. Plötzlich kam mir ein Gedanke „Wird der Bettler auch hier vorbeikommen?“ Schnell konzentrierte ich mich wieder auf die Leute auf der Straße, doch dann bedeckte ein Schatten meine Sicht und ich musste ein paar Kunden bedienen.          Â
So verging mein Vormittag ohne weitere Vorkommnisse, bis auf einen kleinen Jungen, der seine Mutter suchte. Schließlich war sie nur zwei Ecken weiter bei einen der vielen Trinkwasserbrunnen und holte ihren Sohn bald bei mir ab.               Â
Jetzt war Mittagszeit und die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht, bei dieser
Hitze hielt es keiner draußen aus, deshalb machten die meisten um diese Uhrzeit Siesta und im Kiosk war nichts los. Auch ich brütete in der Hitze und hoffte, dass Herr Balzzani, der Besitzer des Kiosks, bald einen neuen Ventilator aufstellen würde. Und wie ich so alleine zwischen all den Zeitschriften saß kreisten meine Gedanken wieder: „Warum war er nicht mehr in der Gasse? War er nur am Abend da oder vielleicht nur an bestimmten Tagen?“ Ich fasste den Entschluss, am Abend noch einmal vorbei zu schauen. Mit diesem hoffnungsvollen Gedanken überstand ich auch die größte Hitze und mit der kühle kamen auch die Kunden zurück.    Â
Doch plötzlich, als eine Gruppe Touristen meinen halben Kiosk leer gekauft hatten sah ich ihn: Den jungen Bettler.
Er überquerte eilig die Straße und ging auf der anderen Straßenseite weiter. Ich hatte ihn sofort an den dunklen Augen und dem markanten Kinn wiedererkannt. Ich sprang auf, ließ alles stehen und liegen und stolperte nach draußen. Es war doch noch wärmer als ich gedacht hatte und schon nach wenigen Metern war ich klatsch nass. Trotzdem rannte ich weiter, rempelte ein paar Leute an, doch es war mir egal. Nun war ich schon fast an der Metro, doch von dem Mann noch immer keine Spur. Plötzlich meinte
ich das braun-graue T-Shirt gesehen zu haben und lief weiter, die Rolltreppen hinunter bis ich den Wind der einfahrenden Bahn spürte. Der Mann mit dem T-Shirt stieg ein und ich beeilte mich ebenfalls in die Bahn zu kommen. Drinnen stank es nach Schweiß und ein paar Italiener unterhielten sich angeregt über die Politik und das Allgemeine Weltgeschehen, doch ich verstand trotz ihrer Lautstärke kaum ein Wort, denn ich versuchte wie verrückt durch die erschreckend wenigen Leute hindurch den Mann zu entdecken. Eine Stimme kündigte den nächsten Halt an: „Flaminio“ Ich erschrak, dass ich schon so weit vom Kiosk entfernt war und stieg
aus. Ich schaute mich um, doch der Mann war nirgends zu sehen, also blieb mir nichts Anderes übrig, als die Rolltreppen wieder nach oben zu fahren. Draußen setzte ich mich erschöpft an den Rand eines Brunnens und genoss das kühle Wasser auf meiner klebrigen Haut. Mein Puls beruhigte sich wieder und mein Herz hörte auf zu rasen.  Â
Reflexartig klopfte ich mir an die Hosentasche, in der mein Geldbeutel war und erstarrte. Mein Herz begann wieder zu rasen, denn der Geldbeutel war weg.
Langsam stand ich auf und schaute mich um, doch es war niemand in der Nähe, der mir helfen konnte. „Diese blöden Zigeuner!“ fluchte ich und trat nach
einem Stein, er kam ein paarmal auf dem Boden auf, bis er schließlich auf einer zerknüllten Zeitschrift liegen blieb. In diesem Moment viel mir der Kiosk wieder ein und ich rannte erneut die Rolltreppe, an verdutzen Touristen vorbei, hinunter. Ich kaufte mir kein Ticket, sondern sprang einfach in die nächste Bahn. Sie war gestopft voll und ich musste ein paar Leute zur Seite schubsen um zur Tür zu gelangen.
Draußen wankte ich, wieder klitschnass, zu dem Kiosk zurück. Er stand offen. Drinnen herrschte gähnende Leere, nur der Ventilator drehte sich wie gewohnt. Die Kasse war natürlich mit dem ganzen Geld verschwunden, nicht mal eines der
billigen Andenken war noch da.      Â
   Verzweifelt ließ ich mich auf den Stuhl sinken „Was soll ich denn jetzt machen“ schluchtste ich. Ich fühlte mich wie der größte Versager, doch nach ein paar Minuten besann ich mich wieder und rief meinen Chef an und erzählte ihm die ganze Geschichte, natürlich nicht, dass ich schwarzgefahren war. Er antwortete nur trocken „Ich warte morgen im Kiosk auf dich“ und legte auf.                Â
Da ich jetzt sowieso nichts mehr verkaufen konnte schloss ich den Kiosk und macht mich auf den Weg nach Hause. Ich ging durch die Gasse, doch
trotz fortgeschrittener Stunde war der Mann nicht da.
Zuhause angekommen wollte ich mir erst einmal ein Glas Orangensaft einschenken, doch der Saft war alle, also musste ich mich mit einem Schluck Leitungswasser zufriedengeben.       Â
Ich wollte mich auf andere Gedanken bringen und schrieb an meiner Geschichte weiter, die ich vor langer Zeit angefangen hatte.
Bald bemerkte ich, dass es schon dämmerte und machte mich noch einmal auf den Weg zur Gasse. Zu dieser Uhrzeit waren dort viele Bettler und auch Landstreicher. Ich fröstelte, als ich all die verschmutzten, teilweise mit wilden
Bärte versehenen Männer sah. Ganz am Anfang waren mir auch drei Frauen aufgefallen und mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich mir vorstellte, dass ich hier auch nur eine Nacht bei den ganzen Männern schlafen musste.    Â
Ich dachte an den Blick des jungen Bettlers und mir wurde schlagartig wärmer. Ich wurde erst aus meinen Gedanken gerissen, als mich ein ziemlich alter Mann mit knorpeliger Nase fragte „Warum bleibst du stehen, normalerweise gehen die Leute hier so schnell wie möglich durch.“         Â
„Wenn sie sich überhaupt hier durch trauen“ fügte ein anderer hinzu. Viele brachen in schallendes Gelächter aus,
dass von den Wänden wiederhallte. Mir blieb jedes Wort im Hals stecken, doch dann kam ich auf eine Idee: „Ich war gestern schon einmal hier und da war ein junger Mann bei euch, kein Bart, dunkle Augen, markantes Gesicht…“ Weiter kam ich nicht, denn einer sagte „Du meinst bestimmt Emilio, er ist erst gestern gekommen und mit den ersten Sonnenstrahlen, wie die meisten hier, wieder verschwunden.“ „Das war genau die Zeit, als ich aufgestanden war und mein Fenster geöffnet hatte. Wenn ich doch bloß etwas früher…“ „…Du warst aber nicht früher hier beendete der Mann, der mich gestern nach der Zigarette gefragt hatte, den Satz.“    Â
Er hatte natürlich recht und ich überlegte weiter. Schließlich fragte ich: „Habt ihr eine Ahnung, wo er sich jetzt aufhalten könnte? Hat er euch irgendetwas erzählet?“
 „Warum willst du das denn so genau wissen“, fragte einer mit Bart. Ich konnte die Frage nicht beantworten, doch der, mit der knorpeligen Nase sagte: „Ach du Dummerchen, das ist doch offensichtlich. Sie hat sich in unseren kleinen Emilio verliebt.“          Â
Ein Raunen ging durch die Mengen und alle schauten mich an. Diese Erkenntnis schmerzte in meiner Brust und ich fühlte mich ertappt. Deshalb war ich froh, als einer mit einem Grinsen im Gesicht
weiterredete: „Also Emilio hat erzählt, dass er früher mit seiner Familie auf einem kleinen Hügel gelebt hat. Sie hatten eine Olivenplantage, doch irgendwann sind seine Eltern gestorben, deshalb musste er die Plantage übernehmen. Ich glaube er hat sogar gesagt, dass er nicht schlecht an den Oliven verdiente, doch dann kam eine Dürre Zeit und die meisten Bäume verdorrten. Und da das Geschäft von den Oliven lebte, aber keine mehr nachwuchsen ging es mit der Zeit Pleite und Emilio sah keinen anderen Ausweg mehr, als sein Haus und die Felder zu verkaufen. Ja und dann ist er zu uns nach Rom gewandert, weil er dachte, dass man
hier bessere Chancen hat als Obdachloser zu überleben.“         Â
Eine Träne kullerte mir über die Wangen, als der Mann, mit der Knorpelnase, der sich als Roberto herausstellte die traurige Geschichte zu Ende erzählt hatte. „Uns ist es allen nicht besser ergangen oder denkst du wir sind freiwillig auf die Straße gegangen?“ kam es aus der einer Ecke und jemand lachten bitter auf.               Â
Ich schüttelte traurig den Kopf und mir wurde bewusst, dass ich und bestimmt noch viele andere Menschen nur die schlechten Seiten an den Bettlern und Obdachlosen sehnen. Ich war da keine Ausnahme, denn es halten grobe
Wortfetzen in meinem Kopf wieder. „Pfui dieser Gestank“ „…verschmutzen die ganze Stadt“ „Wollen doch nur Geld für Alkohol und Zigaretten“ „Ohne ihnen wäre es viel sicherer“         Â
Schnell schüttelte ich wieder den Kopf um diese Gedanken zu stoppen, doch es gelang mir erst, als einer sagte: „Also viele Obdachlose sind zu der Zeit in der Nähe vom Bahnhof, bei der Metro oder auch an Orten, wo in den Abendstunden noch viele Menschen sind.“      Â
Schnell bedankte ich mich, legte noch ein paar Münzen auf den Boden und machte mich Richtung Bahnhof auf. Unterwegs sagte ich mir immer wieder, dass ich das Geld nicht aus schlechtem
Gewissen, sondern als Dank für die Hilfe hingelegt hatte.            Â
Ich wusste, dass es viele Plätze gab, an denen noch viele Menschen unterwegs waren und entschloss mich erst zum Bahnhof, von dort aus mit der Metro weiter und am Ende zum Piazza Navona zu gehen. Der Platz war bei vielen Touristen bekannt und nicht nur, weil dort ein großer Brunnen steht aus dem vier ströme plätschern, die für die vier früher bekannten Kontinente stehen, sondern weil dort am Abend und in der Nacht auch viele Künstler und Verkäufer sind.                      Â
Bald kam ich an meinem ersten Ziel dem Bahnhof von Rom an. Ãœber dem Eingang
waren die Worte „Roma Termini“ hell erleuchtet und viele unterschiedliche Menschen mit Koffern und Rucksäcken gingen entweder hinein oder hinaus. Ich hingegen blieb erst einmal stehen, unter anderen Umständen wäre ich bestimmt länger so verweilt und hätte die Leute beobachtet. Doch ich wollte Emilio finden, also ging ich außen um den Bahnhof herum und schließlich hinein. Ich sah viele Obdachlose und Bettler, aber Emilio war nicht dabei. Meine Füße taten langsam weh und ich war froh, als ich nach einer Ewigkeit endlich in einer Bahn saß. Doch nach wenigen Metern musste ich schon wieder aussteigen und suchte die Station ab. So ging das die
ganze Zeit, bis ich fast alle Stationen abgeklappert hatte. Inzwischen war es schon stock dunkel draußen, bei der Rückfahrt hatte ich endlich Zeit meine Gedanken zu ordnen: „Hatte ich mich wirklich in Emilio verliebt? Würde ich ihn jemals finden? Ist er überhaupt noch in Rom? Was soll ich machen, wenn ich ihn finde?“ Die letzte Frage verwarf ich wieder, denn erst einmal musste ich ihn finden.
   Â