Romane & Erzählungen
Danse Macabre? - Erzählung

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"Unglück?"
Veröffentlicht am 29. April 2017, 20 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Zweifler, Pessimist, Misanthrop ... ... ungefähr so: "Nein, nein, ich habe nicht bewundernswert gesagt, ich sagte, ich bin außergewöhnlich. Das was ich tue, das was dir so viel bedeutet ... du meinst, ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin? Ich tue es, weil es zu schmerzhaft wäre, es nicht zu tun. (...) Weißt du, es tut weh (...), alles das! Alles was ich sehe, alles was ich höre, rieche, berühre, die Schlussfolgerungen, die ich ...
Unglück?

Danse Macabre? - Erzählung

Dans Macabre?

Es war nicht das Tippeln der kleinen Füße. Es war nicht das unregelmäßige Hobeln und Schaben, wenn die Mäuse Löcher in die dünnen Holzwände nagten. Es war nicht das Knacken der unzähligen und unsichtbaren Krabbeltierchen. Es war nicht der Geruch der Menschen, unbekannter Menschen, der ihn wach hielt. Der matte Schein einer schwächlichen Straßenlaterne bemühte sich, durch die dreckigen Fenster zu dringen und die Dunkelheit zu bekämpfen, was kaum gelang. Pferdehufe und eisenbeschlagene Räder schlugen und klapperten über das Straßenpflaster,

übertönte zuweilen sogar das Schnarchen, Schmatzen und Stöhnen im Raum. All das drang zu ihm durch, berührte ihn jedoch kaum. Das war es nicht, was ihn wachhielt. Er machte sich Gedanken. Tat er das Richtige? Begab er sich nicht nur vom Elend in eine elende Ungewissheit? Er erinnerte sich …

Seine Frau hatte er kennengelernt, da waren sie beide gerade fünf Jahre alt. Von Anbeginn waren sie unzertrennlich gewesen. Er erinnerte sich, dass er ihr mit sieben Jahren zum ersten Mal gesagt hatte, dass er sie heiraten würde. Sie hatte nur gekichert. Und nun war sie tot.


Breungeshain war ein Dorf. Viel gab es

hier nicht. Die alte evangelische Kirche, deren Außenwände des Schiffs von hellbraunem Fachwerk getragen wurde, war die größte Attraktion. Aber beide liebten die Natur. Sie waren neun Jahre alt, als sie zum ersten Mal den Hoherodskopf erstiegen, von dem man einen so wunderbaren Blick hatte. Von hier wirkte selbst Breungeshain beschaulich. Er erinnerte sich noch genau. Eine Herde Schafe hatte sich um sie herum niedergelassen und sie waren bis zum Abend geblieben. Als sie nach Anbruch der Dunkelheit zurückgekehrten, hatten ihre verzweifelten Eltern die Kinder erst umarmt und dann ordentlich verdroschen.

Und nun war sie tot.


Mit Achtzehn hatten sie geheiratet. Sie wollten fort aus Breungeshain. Doch ein Besuch in Frankfurt, der großen, überwältigenden, vollen und stinkenden Metropole, hatte sie erschrocken. Sie wollten beide immer noch weg, warteten jedoch ab. Ihr erster Sohn wurde geboren. Dann eine Tochter und noch eine Tochter. Er hatte die Familie als Geselle eines Schumachers über Wasser gehalten, mehr schlecht als recht. Der alter Schuster hatte ihm sogar angeboten, sein Geschäft zu übernehmen. Aber wovon sollte er ihn auszahlen? Sie waren arm und die Bank lieh einem Habenichts

kein Geld für einen Schumacherbetrieb in Breungeshain. Als seine Frau zum vierten Male schwanger war, wünschten sie sich einen Sohn. Zwei Söhne, zwei Töchter, so sollte es sein und sie würden alles tun, auf das der Herrgott sie gerade wachsen ließ. Seine Frau gebar einen Sohn. Die Freude war groß, doch sie schaffte es nicht, sich wieder zu erheben. Eine Woche später küsste er sie ein letztes Mal auf die Stirn. Sie sollte das Kindbett nicht mehr verlassen. Sie war nun tot.


Es war nicht recht, vielleicht ließ er sich nur von seinem Zorn leiten, aber er musste weg aus Breungeshain. Er war auf

den Hoherodskopf gelaufen, hatte in die Ferne geblickt, geschrien, getobt, gebetet und gebettelt. Nichts war geschehen. Die Welt blieb so grausam wie zuvor. Also beschloss er, gleich am nächsten Tag fortzugehen. Das kleine Häuschen, in dem sie lebten, gehörte ihnen nicht und mit Miete und Pacht waren sie schon lange im Rückstand. Die Kirche, der es gehörte, würde froh sein, endlich an orntliche Leut’ – wie der Herr Pfarrer sagte – vermieten zu können. Die wenigen Sachen waren schnell gepackt. Die Hälfte davon ließen sie bei seiner Schwester. Sollte sie die benutzen oder verkaufen, ihm war es gleich. In ihrer Obhut ließ er auch seinen jüngsten Sohn.

Er war gerade drei Monate alt und hätte die Reise nicht überlebt. Später, wenn er zu Geld gekommen war, würde er ihn nachholen, bestimmt. Der Agent war nicht billig, jedoch ein verlässlicher Mann. Als er genug Leute beisammen hatte, geleitete er sie bis nach Emden. Die erste Etappe nahmen sie in einem Segelschiff in Angriff, eine Brigantine. Der Wind füllte Rah- und Schratsegel gut, sie kamen ordentlich voran und konnten den Termin einhalten. Die Absteige war billig, aber nicht das schlechteste Haus am Platz. Drei Mal am Tag gab es etwas zu essen und wenn man auch nicht immer identifizieren konnte, was vor einem auf dem Teller lag, so war

es doch Morgens und Mittags warm. Tee gab es, so viel man wollte. Der Wirt führte ein strenges Regime, hielt das gröbste Gesindel fern. Die Kinder hatte es ihm angetan. Oft kam er zu ihnen an den Tisch, streichelte ihre Köpfe, hatte ein kleines Extra – Äpfel, frische Möhren oder hartgekochte Eier – für sie und murmelte: Luvley.

Nun lag er hier, auf einer strohgefüllten Matratze unter einer klammen Decke, was er kaum merkte, denn er trug drei Hosen, vier Hemden und zwei Mäntel übereinander. Es war nicht empfehlenswert, sich zu entkleiden. Am nächsten Morgen würde man weniger wiederfinden, als man am Abend zuvor

abgelegt hatte. Das Geld hatte er in das Hemd, das er am Leibe trug, eingenäht. Immer noch wurde er von Zweifeln geplagt. Seine drei Kinder konnte er nur schemenhaft erkennen. Sie folgten ihm brav, weil er ihr Vater war. Doch hatte er das Recht, sie einfach in ein fremdes Land mitzunehmen? Und was war, wenn der Schmerz ihm folgen würde, wenn er in der neuen Welt seine Frau ebenso vermissen würde wie in Breungeshain?

Mitten in jene Gedanken erschien ein Licht. Zunächst war es nur ein kleiner Punkt, einem Glühwürmchen gleich. Doch es wuchs und bewegte sich auf ihn zu. Am Fuße seiner Matratze verharrte es. Verwundert richtete er sich halb auf.

Alle anderen schnarchten weiter gemütlich um die Wette. Niemand bemerkte das Licht, niemand außer ihm. Es war heller geworden, doch sein Schein reichte nicht weit. Und dann formte es eine Gestalt: Ovales Gesicht, kleiner Mund, eine süße, leicht nach oben gebogenen Nase, tief im Kopf liegende, kluge Augen, glattes Haar, das weit über die Schultern reichte. Da musste er nicht lange nachdenken, erkannte seine Frau sofort. Er sprang auf und wollte sie umarmen, doch das Licht wich zurück. Sie war ein Geist. Gab so etwas überhaupt? Er öffnete den Mund und wollte sprechen, doch der Geist legte einen Finger auf die Lippen. Er wusste,

dass seine Frau immer die Klügere von ihnen beiden gewesen war, also schwieg er. Sie würde wissen, was sie tat. Der Geist entschwand durch die geschlossene Tür.

Für einen Augenblick stand er da, starr und steif, nicht wegen der letzten kalten Aprilnacht. Dann überwand er sich. Er warf seinen Kindern eine Blick zu. Sie schliefen, wie alle anderen. Vorsichtig, weil er niemanden wecken wollte, suchte er einen Weg zwischen den unzähligen Matratzen hindurch. Die Tür knarrte fürchterlich, doch auch davon wurde niemand wach. Auf dem Gang schaute er nach rechts. Finsternis. Er schaute nach links. Da erspähte er das Licht. Ohne

Zögern folgte er ihm. Der Geist führte ihn zu dem Hintereingang. Der war immer verschlossen, das wusste er. Der Wirt war darauf besonders stolz. Doch seine Lichtfrau drehte den Knauf und die Tür öffnete sich. Schnell schlüpften beide hinaus. So nah war er dem Geist noch nicht gewesen. Doch außer dem Licht, das er sah, spürte er nichts, keine Nähe, keine Wärme, als sei da niemand. Der Anblick allein musste reichen und er reichte ihm. Tausend Fragen wollte er stellen, doch wieder legte das Lichtwesen einen Finger vor den Mund. Der Zauber funktionierte nur schweigend. Der Geist schwebte davon, er

folgte. Die engen Gassen waren leer. Geisterhaft leer, dachte er und grinste. Aber seltsam war das doch. Seine Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster und es klang, als ob ein Mann mit Eisenstiefeln eine Kathedrale betrat. Doch niemand wurde wach, niemand schaute aus einem Fenster, niemand fragte. Er wunderte sich so sehr, dass er beinahe den Anschluss verloren hätte. Der Geist war bereits ein ganzes Stück voraus. Also beschleunigte er seine Schritte. Die Straßen wurden breiter, doch nicht belebter. Aus einer billigen Kaschemme drang Musik auf den Gehweg, doch kein

Gast schien das Bedürfnis zu verspüren, sich auf den Heimweg zu machen. Man sang und feierte. Bevor er sich darüber wundern konnte, blickte der Geist zu ihm herüber und lächelte. Es war jenes Lächeln, das seine Frau ihm so oft zugeworfen hatte, ganz gleich ob aus Liebe, weil sie etwas von ihm wollte oder nur, um ihn zu necken.

Sie gingen in Richtung Hafen, bogen jedoch bald in eine enge Gasse ein. Links und rechts erhoben sich die fensterlosen Mauern von Lagerhäusern. Auf ein Mal hockte sich der Geist hinter ein großes, übel riechendes Fass und bedeutete ihm, dasselbe zu tun. Er gehorchte. Schritte näherten sich. Im schwachen Mondlicht

näherte sich mit unregelmäßigen Schritten ein Mann. Als er das Fass erreicht hatte, sprang der Geist auf. Dabei nahm das Lichtwesen seine Hand. Der Griff war warm.

Der Mann trug feine Kleider und einen teuren Hut. Mit glasigen Augen, hin und her schwankend wie ein junge Birke im Wind, betrachtete er den Geist. Dann machte er mit den Händen eine wegwerfende Geste. Give a damm on that quaffing!*, brummte er. Weitere unverständliche Worte murmelnd zückte er seine Brieftasche, drückte sie dem Mann neben dem Lichtwesen, den er ebenfalls für eine Erscheinung hielt, gegen die Brust, drehte um und

verschwand in der Nacht.

Der Geist führte ihn zurück zur Herberge, brachte ihn durch die Hintertür in den Raum mit seinen Kindern. Die Kleinen schliefen, als sei nichts geschehen. Der Mondlicht strahlte nun heller und so konnte er schauen, was die Brieftasche des Mannes enthielt. Es war Geld, viel Geld. In diesem Augenblick berührte der Geist sein Gesicht und löste sich auf.

Die Entscheidung war schnell gefällt. Er würde nach Breungeshain zurückkehren. Er würde den Schuster ausbezahlen. Er würde der Kirche ihr altes Haus abkaufen. All das ermöglichte ihm die Brieftasche. Und auch wenn die

Geschäfte anfangs nicht laufen würden, nun hatte er genug Reserven. Seine Kinder waren überglücklich, als er ihnen am nächsten Morgen die geänderten Pläne kund tat. Sie würden zurückkehren. So kam es, dass der Mann, der sich zu Beginn der Nacht noch große Sorgen gemacht hatte, auf die Passage, für die er den stolzen Preis von 81 Dollar für sie vier bezahlt hatte, mit dem Schiff, das sie über den Atlantik tragen sollte – es hieß Titanic – verzichtete.


- ENDE -





Anmerkung:


"Give a damm on that quaffing!" - engl. "Zum Teufel mit dem Zechen!"

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Hörbuch

Über den Autor

ArnVonReinhard
Zweifler, Pessimist, Misanthrop ...

... ungefähr so:

"Nein, nein, ich habe nicht bewundernswert gesagt, ich sagte, ich bin außergewöhnlich. Das was ich tue, das was dir so viel bedeutet ... du meinst, ich tue es, weil ich ein guter Mensch bin? Ich tue es, weil es zu schmerzhaft wäre, es nicht zu tun. (...) Weißt du, es tut weh (...), alles das! Alles was ich sehe, alles was ich höre, rieche, berühre, die Schlussfolgerungen, die ich imstande bin zu ziehen, die Dinge, die sich mir offenbaren ... die Hässlichkeit. Meine Arbeit fokussiert mich. Das hilft. Du sagst, ich benutze meine Gaben. Ich sage, ich geh nur mit ihnen um."
(Sherlock Holmes; In: Elemantary)


Fantasy- und Schauergeschichten sind mein Ding, weil sich darin alles Menschliche verarbeiten lässt.
Und ob ich es will oder nicht, auch das Thema "Freundschaft" taucht immer wieder auf.
Aphorismen.
Ein weiterer großer Bereich, mit dem ich mich beschäftige, in Erzählungen und Nonfiction, ist das Thema Krieg.

Arn von Reinhard ist EU-Skeptikerkritiker und Medienkritikerskeptiker.


foto by and with permission of Evelyne Steenberghe from vlien.net

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Herbsttag Was für eine interessante Geschichte. C'est dans une ambiance mystérieuse. Herzliche Grüße IvB
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ArnVonReinhard Ja, ein wenig Glück und seltsame Erscheinungen können zuweilen nützlich sein...

LG
AvR
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Herbsttag Merci! IvB
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myriama Sehr spannend geschrieben. Vielen Dank für dein Buch. Liebe Grüße Myriama
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ArnVonReinhard Also kein Schiffbruch! ;-)

LG
AvR
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myriama ja wenn er nicht auf die Titanic ging, war es kein Schiffbruch (smile)
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