Ihre Brust hob und senkte sich stark, als sie noch einmal tief Luft holte und einen Fuß vor sich schob. Warum zögern? Hatte sie nicht stets, ihr Leben lang, auf
diesen einen, einzigen Moment gewartet? Ihre Haare stoben wild durch die Luft als sie sich schüttelte, die Schultern nah an den kleinen Körper gezogen, und sich zusammenriss. Das weiße, mittlerweile beige, nahezu hellbraune Kleid glich mit seinen Flecken kaum mehr dem einstigen gleißenden Spiegelbild aus samtigen Stoff, das es einst in ihrem Kopf gewesen war, so hatte sie es vernommen. Laub raschelte unter ihren nackten Kinderfüßen als sie den restlichen Weg durch den kalten Wald durch schritt. Der Wald schien den Atem anzuhalten, doch in ihrem Kopf, dort stürmte es, wie seit keinem Tag zuvor. Die Stimmen waren laut, die Gesänge
der Vögel im Wald verstummt, es hatte ihnen schlicht die Sprache verschlagen. Hastig wich eine Reihe von Ameisen ihren Tapsern aus und verschwand flinken Fußes in einer tiefen Erdhöhle. Dort kugelten sie sich zusammen und schwiegen. Die Ruhe war beinahe ohrenbetäubend, hätte ein anderer, außer dem Mädchen, in diesem Moment den Wald betreten. Sollte das dennoch geschehen, würde er fliehen, denn selbst die Bäume wirkten wie von Medusas Schrecken verzaubert und wagten es nicht die Kronen im verschwindenden Wind zu wiegen.
Das Mädchen mit dem Messinghaar, sie brachte ihre Geister mit. Sie wiegte
summend wie im Traum ihren Kopf hin und her, die einstigen Bedenken verflogen mit den Vögeln auf ihrer Flucht. Nachdem das Mädchen eine helle Lichtung überquert hatte, schloss sie ein Mantel aus Dunkelheit um sie, die Stimmen in ihr stürmten wie ein Orkan, doch sie, sie war im Auge des Sturms und nahm von alledem nichts war. Mit ihrem kleinen zarten Herzen war sie den Versprechungen verfallen und so lief sie nun, emsig und eilig, gen den Ruinen.
Die Stimmen hatten sie gedrängt diesen Schritt zu wagen und eines Tages verlor sie die Kontrolle und lief einfach los, in nichts weiter als dem Hemd, das sie in der tiefschwarzen Nacht getragen hatte.
Schön war es mal gewesen, mit Blüten und Spitze bestickt, nun zerrissen und ausgelaugt. Ausgelaugt und leer, wie ihr Körper. Dennoch lief sie weiter und blieb abrupt vor den Gebäuden stehen. Wieder schwer atmend, schaute sie sich einen Moment um. Die Stille war ihr bewusst, aber die Ausmaße dessen reichten weit über ihr Kindesalter hinaus.
Einen Fuß vor den anderen setzend betrat sie die Ruine, sie glich mehr einem Geist als einem Kind mit ihrer durchscheinenden Haut, welche sich stark von ihrem Haar und Kleid abhob. Die Augen von dunklen Schatten durchzogen, schlich sie durch die
Eingangshalle des Bahnhofs. Ja, ein Bahnhof, das sagten die Stimmen. Also hatte sie den Ort gefunden, das Mädchen atmete auf und sackte kurz in sich zusammen, nur um dann wie von einem Puppenspieler gezogen, sich wieder gerade zu strecken und steifen Schrittes durch die leeren, mit Pflanzen bewachsenen Hallen zu schreiten. Fürchten tat sie sich nicht und blickte scheinbar nur munteren Blickes an den Wänden und Türen entlang. Sie hörte den Stimmen gerade zu. Heftig diskutierten sie auf eine Weise, die das Kind nicht verstand. In einer Sprache, noch von keinem Ohr gehört oder einer Hand geschrieben, denn sie waren nur
bei ihr. In ihr.
Mit mittlerweile klammen Füßen erklomm sie die Treppe, die Stufen fast zu hoch für einen ihrer Schritte, sodass sie ins Stolpern kam. Ein Gang führte in das nächste Gebäude, die Stufen knarzten trotz ihres geringen Gewichts laut auf, roter Rost rieselte von ihnen hinunter und sammelten sich in Ameisenhaufen ähnlichen Hügeln. Nur mit dem Unterschied, das dort nichts lebte.
Licht fiel nun in breiten Strahlen durch die Fenster des Überganges, er führte über die ehemaligst befahrenen Schienen hinüber. Das Mädchen mit dem Messinghaar stellte sie auf die Zehenspitzen und lugte über die
Fensterkante. Endlos schienen deie Gleise sich in den Wald zu schlängeln. Sie schloss die Augen und ein Gefühl der Ekstase übermannte sie, durchströmte ihre zierlichen Glieder. Finger für Finger, Zeh für Zeh strömte die sich golden anfühlende Flüssigkeit durch sie.
Dann hob sie die Lider wieder.
Ein Regen aus Geräuschen jeglicher Form klatschte auf sie ein. Menschen stolperten hastig an ihr vorbei, jeder zweite einen Aktenkoffer in der Rechten. Füße trappelten in derartiger Menge an ihr vorbei, das der Eisenboden unter zu vibrieren schien. Der Rost war verschwunden, ebenso wie das Moos und die Pflanzen. Alles brummte vor Leben
und jetzt, das Mädchen reckte sich erneut zum Fensterrand, zog ein Zug mit ratternden Rändern in rasender Geschwindigkeit und grellen Lichtern ausgestattet unter ihr in den immer noch düsteren Wald hinein. Er ließ die Dampfpfeife ertönen und der Ton verschwand im Nebel wie von Geisterhand.
Ihr Körper bebte nun vor Energie, eine Hand ausgestreckt, betrachtete sie ihre zitternden Hände von beiden Seiten. Nichts.
Ein Mann stieß gegen sie, murmelte etwas unverständliches und verschwand in der Masse. Das Messinghaar wehte dem Luftzug, den der Mann mit sich
gebracht hatte, fließend hinterher.
Noch lange blickte das Mädchen ihm hinterher, die Atmosphäre übermannte sie. Erst als sie wieder den Boden betrachtete, fiel ihr der Gegenstand auf, den der Mann zurück gelassen hatte. Aber er sah doch wieder jeder andere der Schatten hier aus? Sich wundernd zog sie die feinen Brauen zusammen und stützte sich auf die knochigen Knie.
Ein Foto.
Ein Foto?
Sie hob es auf. Ein Spielplatz mit vielen, vielen Kindern, die sich an den Gerüsten austobten. Sie waren alle so glücklich und lächelten, lachten und schienen vor sich hin zu singen.
Freude.
Dem Mädchen mit dem Messinghaar krampfte sich das kleine Herzchen viel zu stark zusammen. Fast außerhalb des Bildes, nahe es Baumes, stand ein Kind, jung und gar unschuldiger könnte es kaum ausschauen, und hielt einen Stoffhasen an den langen Ohren in den winzigen Patschehänden. Doch es weinte.
War es ein Mädchen? Sie schüttelte sich. Die Haare des Kindes waren unnatürlich. Kurz und wirr, wie ein Vogelnest im Wind, ganz und gar anders als die des Mädchens mit den Stimmen im Kopf.
Wieder versteifte sie sich mit ganzer Kraft auf das Bild und suchte es nach
Details ab. Die Kinder auf dem Spielplatz, er schien sich mitten in einer Stadt zu befinden, waren alleine, denn der Ort im Hintergrund war leer von Menschen. Hatten sie ihre Eltern verloren?
Verloren?
Vermissten sie die Wärme der Umarmungen?
Wie fühlte sich das wohl an? Kalt liefen ihr die Tränen jetzt über Kinn, Nase, Backen und Hände, dennoch, sie brachte nur ein ersticktes Wimmern hinaus.
Tief erschüttert warf sie das Bild von sich, die Menschen verschwanden und sie lief wieder durch die verlassenen Hallen des Bahnhofs.