Bereits im Kindesalter, als ich gerade mal so groß war, um mit ausgestreckten Ärmchen die Hüfte meiner Mutter zu umfassen, lehrte sie mich, die Dunkelheit zu fürchten. So sehr, dass ich es niemals wagte mein Bett oder gar mein Zimmer während der Nacht zu verlassen. Spät am Abend, wenn die Vorhänge eines jeden Fensters sanft raschelnd vorgeschoben wurden, um die Schatten zu verdrängen, sich vor ihnen zu verschließen, schob mich meine zärtliche Mutter mit warmen Händen in mein schlichtes kantiges Bett, das ich noch nie besonders mochte. Vorsichtig, als wäre ich ein junger Schmetterling, der gerade seinen Kokon verlassen hatte, strich sie mir mit den Fingerspitzen über die Stirn und die Haare zurück. Ihre Augen wurden dann ganz ungewöhnlich ernst, sorgenvolle Falten bildeten sich in ihrem Gesicht und sie begann, mir Geschichten von bösen, dunklen Kreaturen zu erzählen, die jede Nacht die Stadt durchstreiften
und nach unvorsichtigen Menschen Ausschau hielten, denen sie das Herz herausreißen konnten. Ja, meine Mutter sprach stets in harten, ehrlichen Worten zu mir und niemand hinderte sie daran. Wer sollte es auch, bis auf meine Mutter kannte ich keinen anderen Menschen, doch merkwürdig erschien mir das nie. Schaute ich des Tages aus dem Fenster, starrte eine helle Betonwand mit unbeweglichem Gesichtsausdruck zurück. Auch keine Stimmen waren zu hören. Meine Welt war leer. Auf wenige Quadratmeter beschränkt. Trotzdem machte ich mir nie weiter Gedanken darum. Meine Mutter hatte mir immer gesagt, ich müsse mir um nichts Sorgen machen.
Angst bestimmte die dunkle Hälfte meines Tages, panische, nervenzerstückelnde Angst, die durch meine Haut drang, meine Knochen Stück für Stück fast schon genüsslich durchbohrte und schließlich meine Seele erreichte. Ich wusste, dass ich anders war. Ich wusste ab einem Punkt
in meinem Leben, dass etwas falsch war, mit meinem ganzen Leben. Ungeachtet dessen wusste ich auch, das ich zu viel Angst, zu viel Schwäche in mir besaß, um zu versuchen etwas zu ändern.
Zentimeter für Zentimeter wurde mir die Angst antrainiert, bis sie so tief drang, sodass sie alles erfüllte. Je länger ich lebte, umso weiter ertrank ich in weiter Angst, geschürt durch die Geschichten, die harte Ehrlichkeit, die in den Worten meiner Mutter zu liegen schien. Oft hatte ich des Nachts geweint, mich unter der Bettdecke verkrochen und nicht gewagt ein einziges Auge zu öffnen, bis die hellen Sonnenstrahlen einen neuen Tag einläuteten. Zögerlich tappte ich mit klammen Herzen über die erkalteten Fliesen, auf denen sich nun die Sonne brach. Gelacht hatte ich dann, ein kindliches, glockenklares helles Lachen, wenn meine Mutter hinein kam, mich auf den Arm nahm und mich beglückwünschte eine weitere
Nacht überstanden zu haben.
Schon immer wurde uns in der Familie vermittelt und über Generationen weitergegeben, die Dunkelheit sei etwas Böses, Unverständliches und Eigenartiges, von dem man sich am besten fernhalten sollte. Dennoch war ich immer verwundert, wo war der Rest unserer, meiner Familie? Tausend kunterbunte Geschichte hatte sie mir von den Reisen und Expeditionen meiner Verwandten erzählt, wie oft ich mir wünschte einen von ihnen einmal treffen zu können! Jedes Mal begann sie auszuweichen, sich zurück zu ziehen und am Ende schlicht den Raum zu verlassen, sollte ich einmal wieder die Bitte äußern, sie kennenlernen zu dürfen.
Außer meiner Mutter, meiner wundervollen Mutter, betrat nie jemand mein Zimmer oder unsere Wohnung. Still war es. Doch die Stille machte mir bis jetzt nie Angst, genauso wenig, wie es die Helligkeit tat.
Als die Tür knarrte, dieses Geräusch hatte ich noch nie vernommen, wurde mir schwarz vor Augen und die Lichter verschwammen.