Kurzgeschichte
Entscheidungen

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"Es gäbe so viel dazu zu sagen ..."
Veröffentlicht am 09. April 2017, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Pixabay
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Über den Autor:

Meistens bin ich ruhig. Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands. Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann. Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben. Ergänzung: Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste ...
Es gäbe so viel dazu zu sagen ...

Entscheidungen

Entscheidungen Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend nehme ich das Gespräch entgegen. Wenn die Nummer des Heims in dem meine Eltern leben auf dem Display erscheint, bedeutet das nie etwas Gutes. Nur kurze Zeit später öffne ich leise die Tür von Zimmer 214. Viel zu warme Luft schlägt mir entgegen und nimmt dem sonnigen Frühlingstag vor dem Fenster jede Chance hier einzudringen. Eine Notärztin steht am Bett meines Vaters, neben ihm der Rettungssanitäter und dahinter die diensthabende Schwester. Dad schaut hilflos in die Runde, aber er schaut. Für mich wieder einmal Entwarnung. Was habe ich denn

erwartet? Was erwartet man, wenn der Notarzt zu einem sehr alten, schwer kranken Mann gerufen wird und die Angehörigen informiert werden? Kurz atme ich tief durch, bevor mein Blick zu meine Mom gleitet. Unsagbar traurig sitzt sie zusammengesunken auf ihrer Bettkante, hat Tränen in den Augen und schaut noch viel hilfloser ins Leere. In Sekundenschnelle muss ich entscheiden, wem ich mich zuerst zuwende. Mamas Blick zerreißt mir fast das Herz, also setze ich mich zu ihr, nehme sie in den Arm und versuche sie zu begrüßen. Ich weiß, dass jede Aufregung sie schrecklich mitnimmt und Abweichungen vom normalen Tagesgeschehen wie Gift auf sie wirken. Helfen kann ich nicht wirklich, aber sie begreift

langsam, dass ich da bin. Natürlich gehe ich davon aus, dass ihre Traurigkeit daher rührt, weil ein Arzt kommen musste und sie instinktiv auch weiß, was das bedeuten kann. Um so mehr verwirrt mich, als sie ihre Puppe unter der Bettdecke hervorzieht und mir wortlos in den Arm legt. So lange ich denken kann, war diese eine Puppe fester Bestandteil ihres Bettes. Nein, sie hat nicht diesen Puppen-Tick, aber diese eine, mit der sie wohl selbst als Kind schon gespielt hat, war immer anwesend. Als ich sie ansehe, begreife ich das ganze Ausmaß der Katastrophe. „Meine Puppe hatte einen Unfall und der Arzt kommt nur zu ihm!“ Vorwurfsvoll zeigt sie zum Bett meines Vaters, ihres Ehemannes, mit dem sie im letzten Jahr den 66. Hochzeitstag

feierte. Eltern, die für mich immer Vorbild für wundervolle Liebe, Achtung und Ehrlichkeit waren. Als sie wieder zur Puppe schaut, laufen erneut die Tränen. „Alle meine Erinnerungen hängen an der Puppe“, schnieft sie fassungslos. Mom ist dement und hatte im letzten Sommer einen Schlaganfall, ihre Erinnerungen sind praktisch nicht mehr vorhanden. Trotzdem wählt sie diese Worte und legt ihr ganzes Leid hinein. Die Puppe ist offensichtlich heruntergefallen, der Porzellankopf ist völlig kaputt und sie bietet wirklich ein schlimmes Bild. Auch wenn ich mit der Puppe nie etwas zu tun hatte, geht auch in mir etwas kaputt. Gefühle, die ich nicht brauchen kann versuchen mich zu lähmen, aber jetzt muss

ich mich meinem Vater widmen. Die Ärztin schaut fragend zu mir und als ich näher trete, sehe ich, dass sie eine Krankenhaus-Einweisung schreibt. Ich werde kurz aufgeklärt über eine Kreislaufschwäche, mangelnde Sauerstoffsättigung, schlechten Blutdruck, schwache Atmung und soll der Einweisung zustimmen. Über seinen Kopf hinweg wird über seinen Aufenthalt verhandelt. Dad, der alles mitbekommt, schüttelt immer wieder den Kopf und murmelt, dass er nicht in ein Krankenhaus möchte. Er ist nicht entmündigt, hat keinen Betreuer, ist aber sehr alt und besitzt eine lange Liste an unheilbaren Diagnosen. Was soll er an einem Sonntag im Krankenhaus? Er möchte das nicht und ich möchte das auch

nicht. Wer trifft die Entscheidung? Die Ärztin redet auf mich ein, es sei verantwortungslos, nicht zu handeln, der Rettungssanitäter hinter ihr schüttelt den Kopf, die Pflegefachkraft hebt fragend die Schultern und Mom wiegt weinend ihre Puppe. Jung zu sterben ist unsäglich schlimm, aber so alt zu werden ist auch kein Segen. Alle meine Gedanken und Gefühle rasen durch meinen Kopf und machen mich hilflos. Hilflosigkeit behindert Verantwortung. Wen soll ich um Rat fragen? Früher waren meine Eltern immer für mich da, wussten zu jeder Zeit Hilfe und standen mit Rat und Tat an meiner Seite. Wann hat sich das alles verschoben und warum ist es für mich so schwer? Ist es herzlos, wenn ich die

Krankenhaus-Einweisung verweigere? Oder beweise ich damit Rückgrat? Hat meine Abneigung gegen Krankenhäuser nicht einen ganz persönlichen Grund und bin ich in meiner Entscheidung noch objektiv? Was soll ich mit der Puppe tun? Warum muss sie ausgerechnet heute sterben und wie kann ich das ganze Leid und die Traurigkeit lindern? Entscheidungen müssen getroffen werden, wieder einmal muss ich funktionieren. Zwei Stunden später hat die Notärztin das Heim verlassen. Ohne meinen Dad. Die Puppe liegt eingewickelt in meiner Jacke im Auto. Ich habe das Fenster weit geöffnet, um wenigstens ein wenig vom Frühling in das Zimmer zu locken. Kuchen und Kaffee stehen

auf dem Tisch und in diesem Moment ist erst mal wieder alles gut. Oder auch nicht … © Memory (April 2017)

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Über den Autor

Memory
Meistens bin ich ruhig.
Im wahren Leben habe ich einen Mann, zwei Töchter, eine Hand voll Enkelkinder, zwei Katzen und alle zusammen leben wir im Süden Deutschlands.
Wenn ich nicht schreibe, fotografiere ich, denn Fotos sind für mich auch kleine Geschichten - wenn man sie lesen kann.
Ansonsten bin ich optimistisch, (fast) immer gut drauf und stehe mit beiden Beinen fest im Leben.
Ergänzung:
Das wahre Leben gibt es nicht mehr. Ich musste meinen Mann, meine große Liebe, ziehen lassen. Seit dem steht die Welt still.

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PuckPucks Liebe Sabine,
dein Text rührt mich sehr, sehr an. Und macht mich wütend, dass so wichtige Entscheidungen unter einem solchen Druck stattfinden müssen. Aus den Kommentaren entnehme ich, dass du die Ich-Erzählerin bist. Wie klar du beschreibst, welche Gedanken da gerade durcheinanderwirbeln. Und wie mutig, dass du es "gewagt" hast, deine, eure Entscheidung zu fällen.
Liebe Grüße
Judith
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Vielen Dank, liebe Judith.
Ja, es war eine schwierige Zeit manchmal und ich könnte noch mehrere Bücher füllen.
Man soll ja immer versuchen, beide Seiten zu verstehen - ein Notarzt hat mir mal privat erzählt, dass sie ja Ärzte geworden sind, um zu helfen und Leben zu retten. Vielleicht verlieren manche mit der Zeit und unter Zeitdruck den Blick fürs Detail.
Zum Glück ging es in diesem Fall gut.
Lieben Gruß zu dir
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Liebe Sabine,
eine Geschichte, die mich mal wieder sehr nachdenklich werden lässt. Ich denke, da ist ganz viel Reales dabei.
Immer war es für mich wichtig zu wissen, zu erspüren, was dem Betroffenen guttut. Nicht immer konnten die Entscheidungen so ausfallen, dass ich mich gut gefühlt habe.
Bei meiner Oma haben meine Mutter, mein Opa und ich entschieden, sie zu Hause zu lassen. Sie wollte es, das wussten wir. Bei Mama und meiner Tante ging alles so schnell, dass diese Entscheidung nicht zur Sprache kam.
Es ist so wichtig, dass wir selbst uns Gedanken machen, was wir wünschen. Man schiebt es oft. Dabei sollte man dieses Thema nicht ausklammern, darüber sprechen, so lange es möglich ist, ohne unter diesem Druck zu stehen.

Du hast die Problematik des Themas sehr gut beschrieben. Hut ab.
Liebe Grüße
Enya

Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Liebe Enya,
vielen lieben Dank fürs Lesen und deinen Kommentar.
Ich kann mich genau an diesen Tag erinnern, es ist alles ganz genau so passiert.
Meine Eltern hatten alles mit mir besprochen und mein Dad hat ja selbst klar artikuliert, was er möchte, bzw. nicht möchte.
Das Problem war die Ärztin, die mich vor allen Beteiligten beschimpfte, weil ich meinem Dad die "Hilfe" verweigern wollte.
Zum Glück wurde ich vom Heim angerufen und war in zwei Minuten dort, ansonsten hätten sie ihn natürlich mitgenommen.
Es war eine schwierige Zeit ...
Ganz liebe Sonnengrüße zu dir
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
SaenaPJ Liebe Sabine,
Da steht man und muss sich erst einmal selbst sortieren um alles um einen herum wahr zu nehmen. Ein ernstes Thema sehr gut beschrieben.
liebe Grüße und alles Liebe Petra-Josie

Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Vielen Dank, liebe Petra-Josie,
ich freue mich, dass du die Geschichte gelesen hast.
Sie war ja nahezu authentisch, aber inzwischen sind meine Eltern beide nicht mehr da.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
derrainer liebe sabine,
gern, war ich noch mal dein gast ,

lieben gruß zu dir rainer
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Danke, lieber Rainer. Ich freue mich, dass auch du noch einmal hier warst.
Lieben Vatertags-Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ich stehe noch zu meinem ersten Kommentar, liebe Sabine. Das nochmalige Lesen dieser berührenden Geschichte regt zu neuem Nachdenken an. Treffen wir die richtigen Entscheidungen ... für einen anderen? Wenn seine Würde, unsere Menschlichkeit und Liebe im Vordergrund stehen, können es nur die richtigen Entscheidungen sein, auch wenn sie uns noch so schwer fallen.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Danke, dass du noch einmal hier warst, liebe Kara. Freue mich und die Taler kommen in die Rentenkasse :)
Ein schwieriges Thema, habe es gerade wieder in der Arbeit und auch im privaten Umfeld erlebt.
Lieben Gruß
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
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