Ein goldener Engel
Endlich war die Waschmaschine fertig. Das Abpumpen hatte wieder einmal viel zu lange Zeit in Anspruch genommen. Wird wohl bald eine Reparatur fällig werden, überlegte ich.
Es war kurz vor Mitternacht. Leise schlich ich mich in das Zimmer meines Sohnes, in dem ich mir seit
diesem denkwürdigen Tag ein provisorisches Nachtlager auf der Couch eingerichtet hatte. Das
Schlafzimmer zu betreten wagte ich nach knappen drei Wochen noch immer nicht. Zu sehr
schmerzten die Erinnerungen. Die Erinnerungen an dich, meinen über alles
geliebten Mann, der
großen Liebe meines Lebens. Lautlos zog ich mir die Decke über das Gesicht und versank ins Grübeln.
Hier im Dunkeln warst du nah bei mir. Ich glaubte deine Stimme zu hören und die schwarzen
Schatten der Gegenwart lösten sich langsam auf. Tagsüber versuchte ich Haltung zu bewahren, denn
die Welt drehte sich weiter, nur meine war ein einziges Chaos. Ich fiel in ein tiefes Loch und empfand
nur noch Leere. Mit wievielen e schreibt man eigentlich Leere? Ich sprach wenig und zog mich immer
mehr zurück. Tief in meinem Schmerz
versunken nahm ich meine Umwelt gar nicht mehr richtig
wahr, längst war mein Blick getrübt. Daran konnten auch Medikamente nichts ändern, die mir mein
Hausarzt vorsorglich verordnet hatte.
Immer wieder tauchte das Bild vor mir auf, als einmal abends die Polizei an der Tür läutete und nach dir fragte. Ich erklärte den beiden Beamten, du wärst im Dienst und würdest frühestens in einer Stunde heimkommen. Plötzlich die harten Worte: „Er wird nicht kommen“. Behutsam versuchten sie mir zu erklären, dass du einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt hättest. Ich sank kraftlos auf den
Sessel beim Küchentisch. Mein Blick fiel auf die Reste des Kapauns und das Stück Polenta, das ich vorsorglich für dein Abendessen bereitgestellt hatte. Mein schwarzer Unterrock, der auf der Kleiderablage hing, konnte doch nicht die Farbe meiner Zukunft tragen, ging mir durch den Kopf. Die ganze Situation erschien mir langsam unheimlich, ich weigerte mich innerlich, diese Nachricht zu akzeptieren. Wir waren gerade mal 10 Jahre verheiratet, hatten zwei reizende Kinder und erst vor einigen Monaten unser neu erbautes Haus bezogen. Das konnte nicht sein, so grausam konnte das Schicksal doch nicht sein. Was nützte all das Streben, wenn in Sekundenschnelle
alles zusammenbrechen kann? Ich zitterte bis in die Fingerspitzen. Das muss einfach ein Irrtum sein, doch mit einem mitleidigen Blick verneinten die Beamten meine Vermutung. Sie kondolierten und versprachen meine Eltern zu verständigen, die auch in unserem Ort wohnen.
Und wie in so vielen schlaflosen Nächten zuvor fing ich jetzt wieder bitterlich zu weinen an. Dieser furchtbare Schmerz in meiner Brust, wann würde ich wieder frei atmen können? Hört das denn niemals auf? Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, bis ich plötzlich eine leichte Berührung auf meiner Schulter verspürte.
Ich schlug die Bettdecke zurück und sah im diffusen Licht, das durch das Fenster ins Zimmer kam, in das erschrockene Gesicht meines 9jährigen Sohnes.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, begann er leise.
„Ja, aber da musst du das Licht anknipsen, sonst kann ich nichts sehen“, antwortete ich.
Er machte Licht und begann in der Bettzeuglade unter seinem Bett herumzukramen. Um sie zu öffnen, musste er sich schon sehr anstrengen. Aus einer seiner Schisocken zog er plötzlich etwas Glänzendes hervor und hielt es mir vors Gesicht. Bei näherem Hinsehen erkannte ich einen kleinen aus
Goldfolie gefalteten Engel. Sorgfältig hatte er die Flügel ausgeschnitten und mit allerlei Schnörkel kunstvoll verziert. So viel Geduld hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
„Der ist dir sehr gut gelungen, habt ihr das in der Schule gelernt?“ wollte ich wissen.
„Ja, aber es war aber sehr viel Arbeit und ich habe mich wirklich bemüht. Mutti, bitte sag ganz ehrlich, gefällt er dir wirklich?“ bohrte er weiter.
„Es ist der schönste Engel, den ich je gesehen habe“ wollte ich ihn beruhigen.
„Ich schenke ihn dir, damit du nicht immer so traurig bist“, sagte er jetzt leise.
„Danke! Das ist ganz lieb von dir. Ich freue mich sehr. Er wird mich jetzt immer beschützen. Es ist sicherlich ein Schutzengel“ Ich wollte ihn umarmen, doch er drehte sich verlegen weg.
„Nun schwing dich schnell ins Bett, sonst bist du morgen nicht ausgeschlafen. Gute Nacht, mein Sohn!“ Mit diesen Worten drehte ich das Licht ab.
Innerlich sehr aufgewühlt begab ich mich auch wieder auf meine Couch. Es würde wieder eine schlaflose Nacht werden.
Ich schämte mich sehr.
Plötzlich fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Wie sehr hatte ich meine Kinder vernachlässigt, mich nur meinem
eigenen Schmerz hingegeben. Ich sah nicht, wie sehr sie litten, war nicht bereit, ihnen Halt zu geben. Jetzt war es also schon soweit, dass mich mein Sohn trösten musste. Mir fielen die vielen kleinen Gesten ein, mit denen mich andere Menschen unterstützten. Meine Eltern, obwohl selbst berufstätig kümmerten sich rührend um meine Kinder. Meine Mutter kochte abends für uns alle, während ich untätig zusah. Ich erfuhr sehr viel Unterstützung von Freunden, Bekannten und auch wildfremden Menschen. Zur Beerdigung meines Mannes waren unzählige Menschen gekommen. Sämtliche Mitschüler meiner Kinder folgten mit
ihren Lehrkräften dem Sarg und wollten mit ihrem Kommen meinen Kindern zeigen, ihr seid nicht allein, wir sind bei euch.
So durfte es nicht weiter gehen, das nahm ich mir selbst vor. Meine Kinder durften nach ihrem Vater nicht auch noch ihre Mutter verlieren. Raus aus dem Loch und hinein ins Leben, ich allein trage die Verantwortung.