Die Sache mit dem Perserteppich
Es gibt Dinge, die schiebt man vor sich
her. Man schiebt und schiebt, nur weil man nicht so richtig weiß, wie man es angehen soll. Marlene sitzt nahe des geöffneten Fensters an ihrem Schreibtisch, vor sich die Tastatur des PCs und auf dem Bildschirm - nichts.
Sind es die vorwitzigen Strahlen der Frühlingssonne, die - auf ihren nackten Oberarmen tanzend - ihre Konzentration zerstreuen? Oder ist es einfach dieses
Thema, das ihr so gar nicht zusagt?
Zu sperrig, zu eingrenzend. Aber das ist ja gerade die Herausforderung, mahnt
sich Marlene zur Bündelung ihrer Gedanken. Sie hat sich bereits einen
ersten Satz, ein erstes klägliches Sätzchen abgerungen, da klingelt es an der Haustüre.
"Überfall" ruft Jana ihrer Schwester lachend entgegen und schiebt dann noch schnell hinterher:
"Oder hast du zu tun?"
"Ja, ähm, nein", windet sich Marlene.
"Prima, ich komme auch nur auf ein schnelles Tässchen vorbei. Ich muss ein halbes Stündchen überbrücken, bis das Fotostudio öffnet, Passbilder abholen. Danach muss ich noch fix ins Reisebüro und ..." Jana redet ohne Punkt und Komma, wie es ihre Art ist, während
Marlene ihre Saeco auf Touren bringt. Sie hört nicht wirklich zu, ist nur bemüht, jenes klitzekleine Ideenpflänzchen, das kurz vor Janas Erscheinen gewachsen war, nicht wieder zu verlieren.
"Marlene, hörst du mir nicht zu?"
"Doch, doch!"
"Ich habe dich gefragt, was DU so machst!"
"Ich? Och, öhm - ich muss gerade eine Challenge meistern", kommt es etwas widerwillig über Marlenes Lippen, während sie zwei aromatisch duftende
Kaffeetassen auf den Tisch stellt.
"Eine w a s?"
"Na, eine Challenge, eine Aufgabe."
"Ah ja, ist gut." Jana lächelt amüsiert und angelt sich ein Zuckerstückchen aus der blau gepunkteten Keramikdose.
"Ne, wirklich!", versichert Marlene mit ernsthafter Miene, was ihr Gegenüber
zu der knappen Feststellung veranlasst:
"Du hast wohl das Schreiben noch immer nicht aufgegeben."
Das Wort Schreiben kommt etwas gespreizt daher und wird von Jana mit imaginären in die Luft gemalten Anführungszeichen betont.
"Bingo!", bestätigt ihre Schwester
trocken: "und jetzt soll ich liefern."
"Thema?"
"Ein missglückter Aprilscherz."
"Pipifax", tönt Jana und fügt hinzu:
"Grundschulaufsatz, vierte Klasse."
"Kann sein, mir fällt aber trotzdem nichts ein. Du weißt, mit Scherzen hab` ich`s nicht so."
"Na ja, das war aber nicht immer so. Denk doch mal vierzig Jahre zurück."
"Wieso, was war da?"
"Wie, das weißt du wirklich nicht mehr? Marlenchen, ich hätte dir damals die Augen auskratzen sollen, dann hättest du es dir sicher gemerkt."
Jana stützt die Ellenbogen auf dem Küchentisch auf, beugt sich nach vorne und raunt in übertrieben geheimnisvollem Tonfall:
"Die Sache mit den Perserteppichen, mein Liebelein!"
Ja, da war was, dämmert es jetzt auch bei
Marlene. Damals, als sie Kinder waren und der Bauernhof, die Großfamilie und das Dorf ihre geordnete Lebenswelt war. Bilder tauchen auf. Von Kühen, über deren Stallplatz auf Holztäfelchen die Namen geschrieben waren. Von frisch geschlüpften Küken in der Holzkiste unterm Küchenherd und von jungen Kälbchen, die - nur durch eine Tür getrennt - im Stallbereich des Wohnhauses untergebracht waren.
"Was war das für eine Landidylle", seufzt Marlene und Jana ergänzt:
"Ja, Stallgeruch inbegriffen."
Dann schaut sie auf ihre Armbanduhr, kreischt "Huch, ich muss weg" und
springt eiligst auf.
"Hey, du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen", ruft Marlene und sprintet ihrer Schwester hinterher.
"Das ist unfair, was nützen mir deine diffusen Andeutungen, ich brauche Details für meine Challenge."
"Die Details der Perserteppichstory,
die weiß doch keiner so gut wie du selbst", ruft Jana über die Schulter zurück, "lass` lesen, wenn du fertig bist!"
Klack, Türe zu und weg ist sie.
Marlenes ursprüngliche Idee ist jetzt gänzlich gelöscht.
Cancellato totale!
Aber schon bald merkt sie, wie sich um
Perserteppiche rankende Erinnerungen,
genau genommen Erinnerungsfetzen, in ihrem Kopf breit machen und sich zu verschriftbarem Material formen.
Also gut, warum nicht?
Neues Challenge-Thema!
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Auf einem Bauernhof gab es zu früheren Zeiten eine feste Struktur, für alles und für jeden. Der Tagesablauf wurde
bestimmt von den Bedürfnissen der Tiere mit festen Stallzeiten und vom Wetter, was die Feld- und Erntearbeiten betraf.
Für die Kinder gab es kein eigenes Programm wie heute, teils mussten sie bei den Arbeiten der Erwachsenen
mithelfen, teils beschäftigten sie sich selbst und miteinander. Aber auch die Nachbarn spielten damals im dörflichen Zusammenleben eine wichtige Rolle. Als Jana und ich ungefähr zehn waren, zog in einem kleinen Häuschen nahe unseres
Hofes eine neumodische Madame ein. Diese von unserer Oma so zweifelhaft
Titulierte nannte sich Marylin, obwohl sie eigentlich Maria hieß. Sie rauchte und lackierte sich die Fingernägel knallrot, was sie für die älteren Dorfbewohner natürlich suspekt, für meine Schwester und mich aber enorm
interessant machte. Zumeist heimlich verbrachten wir viele Nachmittage bei ihr und saugten dabei begierig alles auf,
was sie erzählte und was es bei ihr zu sehen gab. Marylin hatte eine große
Leidenschaft für Zeitschriften und Romanheftchen. Ich auch. Jana war mehr an den vielen Postkarten, die auf den bunten Heftseiten eingeklebt waren, interessiert und Marilyn erlaubte ihr, sie herauszutrennen und sie auszufüllen.
Da ging es um alles mögliche: Wärmedecken, Teppiche, Emailkochtöpfe
Feinstrumpfhosen, Rundfunkempfänger, Warenhauskataloge aller Art und vieles mehr. Jana tat sich ganz wichtig mit diesen Karten, füllte sie fein säuberlich aus und kreuzte die Kästchen zu Fragen wie "Wünschen sie die Zusendung von Infomaterial? an. Sie schrieb auch noch
ihre Adresse darauf und legte sie dann zu Hause in ihr Spanholzkästchen, das sie in ihrem Nachttischschubladen verwahrte. Als wir dann in der zweiten Märzhälfte in der Schule einen Aufsatz über einen Aprilscherz schreiben mussten, brachte mich das auf die Idee, Jana mit ihren Kärtchen einen Streich zu spielen. Nachdem sowieso kein Porto entrichtet werden musste - ... zahlt der Empfänger - war es mir ein leichtes, zehn wahllos aus Janas Schublade stibitzte Karten nach der Schule in den gelben Kasten beim
Postamt zu werfen.
In Gedanken sah ich voller Vorfreude
das Gesicht meiner Schwester vor mir, wenn sie dann am ersten April mit einer
Unmenge von Paketen mit Katalogen und Produktbeschreibungen von für sie unnützen Haushaltsutensilien, überhäuft würde.
Tatsächlich trudelte am 30. März das erste Päckchen ein. Da es sich um ein Musterexemplar einer Feinstrumpfhose Größe 46 handelte, wurde es von meiner Mutter freudestrahlend, ohne diese scheinbar unaufgeforderte Zusendung speziell zu hinterfragen, in Empfang genommen. Prekär wurde es erst am übernächsten Tag, also dem 1. April, als Otto, der einarmige Postbote, acht mehr oder minder große Infopäckchen, auf unserer hölzernen Hausbank ablud.
Ich verhielt mich ganz unauffällig,
beobachtete die Verwunderung des Rests der Familie aus der Ferne und sah, wie
Mama wild gestikulierend auf Jana einredete. Aha, anscheinend hatten sie bereits bemerkt, dass die Adressaufkleber den Namen meiner Schwester trugen und verhörten sie nun auf Deibel komm raus, wobei diese aber
permanent den Kopf schüttelte und drei Finger zum Schwur `gen Himmel reckte.
"Hast du von den Heimlichkeiten was mitbekommen, Marlene", fragte Mama, als ich mich nach einiger Zeit dazu gesellte. Ich verneinte erst, aber dann wollte ich doch die Sache auflösen und sagen: He, he - reingefallen.
1. April. Ein Aprilscherz darf doch schließlich auch nicht übel genommen werden. Aber ich kam nicht dazu. Mama war - pragmatisch wie immer - bemüht, schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen.
"Nun gut, Jana, wie dem auch sei - du kannst von Glück reden, dass keine Kosten entstanden sind. Du kehrst die Diele und die Kellertreppe, vielleicht fällt dir dabei ein, ob du nicht doch etwas zu beichten hast."
In dem Moment passierte ein großer Wagen, ich glaube es war ein Mercedes, die Hofeinfahrt. Auf den rückwärtigen Sitzen und auf dem Dachträger stapelten sich Unmengen von Teppichrollen und
aus dem Auto stiegen zwei feine Herrschaften, ein Mann und eine Frau. Sie fragten, ob sie hier richtig wären bei der Frau Jana Mitterdobler. Diese hätte nämlich ihren Besuch angefordert, weil sie an Perserteppichen interessiert sei.
Gott, waren wir alle perplex!!
Janas Gesicht war rot angelaufen, meins auch. Als Mama sich halbwegs wieder gefangen hatte, sagte sie:
"Das muss ein Missverständnis sein. Eine Jana Mitterdobler gibt es hier, aber die ist garantiert nicht an ihren Teppichen interessiert."
"Doch, doch", entgegnete die mit Klunkern behangene Teppichtussi. "Warten sie, ich zeige ihnen die
Anforderung, die uns zugegangen ist." Sie holte aus dem Auto eine mir wohlbekannte Karte, hielt sie meiner Mutter unter die Nase und deutete auf die Unterschrift und auf den angekreuzten Passus:
Ich interessiere mich verbindlich für ihre Teppichkollektion und wünsche einen Hausbesuch".
"Das habe ich nicht abgeschickt!", beteuerte meine Schwester und fing prompt zu heulen an.
"Lüge nicht, das ist deine Handschrift!", hielt ihr Mama erzürnt entgegen und gab ihr eine Ohrfeige.
Währenddessen ihr Begleiter schon zwei Teppiche auf der betonierten
Abdeckfläche unserer Klärgrube ausgebreitet hatte, zitierte die Frau aus ihren Vertragsbedingungen und teilte meiner Mutter mit, dass sie entweder
einen Teppich abnehmen müsste oder eine Entschädigung von 300.--DM zu zahlen hätte. Sie kämen von Bergisch-Gladbach bis hierher nach Niederbayern und könnten doch nicht umsonst in der Weltgeschichte herumfahren. In dieser Zeit hätten sie andernorts schon jede Menge Perserteppiche verkaufen können.
Damit brachte sie meine Mutter nun vollends in Rage. Außerdem bemerkte sie, wie gefährlich nahe unsere freilaufenden Hühner den ausgerollten Teppichen schon waren. Sie sah sich
wohl bereits weiteren Schadensersatzforderungen ausgesetzt und ging nun zum Angriff über:
"Zeigen sie mir die Karte noch einmal", bat sie und als sie sie in Händen hatte, machte es ratsch-ratsch und schon war sie in viele klitzekleine Fitzelchen
zerrissen.
"So, und nun lasse ich den Ludwig aus seinem Stall! Damit sie es wissen, das ist unser Stier. Der wird wild, wenn er Rotes sieht und in ihren Teppichen ist verdammt viel rot enthalten."
Mama machte auch gleich Anstalten, ihre Ankündigung in die Tat umzusetzen und schickte uns ins Haus, weil es hier nun ja gefährlich werden würde.
Die beiden Teppichverkäufer schimpften
und lamentierten, was das Zeug hielt. Aber in Windeseile verstauten sie ihre Ware im Auto und brausten davon.
Manno, ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen und machte mich auf die Suche nach Jana. Sie hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen, lag schniefend auf ihrem Bett, als ich eintrat. Ich beichtete ihr meinen verunglückten Aprilscherz und dass ich jetzt zu Mama gehen und ihr die Wahrheit sagen würde. Aber Jana meinte, ich solle das lassen, denn eine Ohrfeige könne man sowieso nicht rückgängig machen.
"Jetzt habe ich etwas gut bei dir,
Lenchen", sagte sie und konnte sich schon wieder ein kleines Lächeln abringen. Ja, so war das mit dem ersten und letzten Aprilscherz meines Lebens.
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Marlene hat die letzten Zeilen in die Tastatur getippt, als das Telefon klingelt.
"Und, kommst du vorwärts?", fragt Jana am anderen Ende der Leitung.
"Ja, soeben fertig geworden. Danke für deinen Tipp!"
"Na siehst du, wer sagt`s denn. Dann also tschüss, Marlene"
"Halt, Jana!"
"Ja, was ist denn noch?"
"Wünsch dir was!"
"Wie das?"
"Du hast noch immer etwas gut bei mir, Schwesterherz!"