Annas Blume
Es war Sonntag und die Sonne meinte es gut mit mir und meinem Besuch. Anna, das achtjährige Mädchen der Freundin unseres Sohnes, war gekommen. Sie streifte sich die Ringelsöckchen ab und sauste mit nackten Füßen wie ein Wirbelwind im Garten umher. Einem fleißigen Bienchen gleich, spürte sie in der Rasenfläche kleine Blütenschätze auf. Nach jeder Entdeckung stieß sie wahre Jubellaute aus. Plötzlich hatte sie wohl in der Nähe des Apfelbaumes eine ganz besonders schöne Blume gefunden.
"Komm doch auch und sieh dir das an",
lockte sie mich.
"Nein, das geht nicht, da ist der Boden
viel zu abschüssig. Da kippt mein Rolli
um", rief ich zurück. Anna nahm wohl den bedauernden Unterton in meiner Stimme wahr, denn sie machte sich sogleich Gedanken, wie sie mich trotz der mangelnden Geländegängigkeit meines Fahrzeugs an ihrer Entdeckung teilhaben lassen könnte.
"Der Opa soll Holzbretter bringen, die könnten wir dann so verlegen, dass du wie auf einem Steg zu der Blume kommst." schlug sie vor. Aber der Opa, der am Fenster seines Arbeitszimmers stand und Annas Überlegung mitgehört hatte, schüttelte den Kopf.
"Das ist viel zu steil, das wäre
gefährlich", rief er in Annas Richtung.
Die Kleine war enttäuscht.
"Ja, aber - du muss sie doch auch sehen können. Die Blume blüht doch ganz umsonst in deinem Garten, wenn du sie nicht sehen und nicht bewundern kannst", meinte Anna bedauernd und
setzte sich mit trauriger Miene zu mir auf die Terrasse.
Ich war gerührt, wie sehr das Kind bemüht war, mich an dem, was ihm selbst
augenscheinlich soviel Freude bereitete, auch teilhaben zu lassen. Und dass sie in ihrem Eifer nicht auf den Gedanken gekommen war, um des Herzeigens willen die Blüten einfach abzureißen,
fand ich auch beachtlich.
"Weißt du, Anna, ich glaube, nichts ist umsonst", versuchte ich sie zu trösten.
"Und in der Natur schon gar nicht. Schau
mal, die Blume hat dich mit ihrer Schönheit beglückt, du hast dein Empfinden an mich weitergegeben und noch etwas sehr, sehr Wertvolles daraufgelegt: Nämlich deinen Wunsch, dass ich mich mitfreuen sollte. Vielleicht hast du gemeint, das kann ich nur, wenn ich sie auch selbst sehen kann. Aber das ist nicht so. Solange es Kinder und Erwachsene wie dich gibt, ist es nicht wichtig, dass ALLE Menschen ALLES können. Es gibt so viele, die ein Handycap haben. Da gibt es welche, die können nicht sehen oder nicht hören, andere so wie ich können nicht laufen und wiederum andere nicht alles gut verstehen. Aber weil es eben Menschen
wie dich gibt, wird es immer auch Jemanden geben, der einem Anderen hilft - ganz egal was dieser selbst nicht kann. "
Anna hatte aufmerksam zugehört. Als ich geendet hatte, sprang sie auf und rief freudestrahlend:
"Jetzt habe ich eine Idee!"
Schwupps, war sie im Haus verschwunden, kam mit dem Fotoapparat meines Mannes wieder und hüpfte dann glücklich summend über die Wiese.
"Ich sag`s ja", freute ich mich "für (fast) jedes Problem gibt es auch eine Lösung!"
Ich brauche wohl nicht extra betonen, dass mir das neue Familienmitglied sehr
symphatisch ist. Annas besondere Blume war übrigens ein kleines Hornveilchen, das im letzten Jahr in einem Balkonkasten angesiedelt war und sich dann wohl irgendwie in die Rasenfläche verirrt hat.
Alle Fotos sind von Anna gemacht!