Zeitumstellung
Bei der distinguierten Dame Franziska von Willershausen klingelte es. Sie trieb ihren Rollstuhl an die Tür. „Wer ist da“, piepste sie ängstlich und offensichtlich verstört.
„Wir sind es, die Polizei.“
Franziska hob die Kette weg und öffnete umständlich. Sie war nicht nur durch den Rollstuhl behindert, sondern auch ihr Alter war fortgeschritten. Sie mochte um die 70 Jahre alt sein. Sie rollte zurück ins Wohnzimmer und atmete schwer.
„Wo, Frau von Willershausen?“
„Unten!“
Die Polizisten waren zu zweit. Der eine ging die Kellertreppe hinunter und erschien bald
darauf wieder. Er war käsebleich.
„Tot“, murmelte er nur.
Die Spurensicherung wurde verständigt und bald wimmelte es im Hause von weißen Plastikgestalten, während die Dame des Hauses starr im Rollstuhl saß.
Der eingetroffene Kommissar Faller teilte der Alten eine Krankenpflegerin zu, während er selbst in den Keller stieg.
Der Keller war weiträumig und bestand aus mehreren Zimmern. Sämtliche Wände waren mit Uhren behangen. Uhren über Uhren. Am Boden lag die Leiche, daneben ein schwerer Klöppel. Davor eine Vitrine mit ausgesucht teuren Armbanduhren.
„Was gestohlen?“
„Sieht nicht so aus“, meldete ein Forensiker.
„Der Klöppel?“
„Massiv aus Messing, gehört zu der großen Wanduhr da.“
„Das ist doch eine antike Standuhr!“
„Wurst, jedenfalls gehört dieser Klöppel dazu. Der fehlt nämlich an der Aufzugkette der Uhr. Sie wissen schon, die Gewichte.“
„Und das Gewicht hat ihm den Schädel eingeschlagen?“
„Zweifellos!“
„Und so ein Gewicht hüpft doch nicht irgendwie durch die Gegend, oder?“ „Zweifellos.“
„Wir haben es also mit Mord zu tun.“
„Ahem, das muss nicht sein.“
„Wieso?“
„Schauen sie, neben ihm, da ist ein Porzellanbecher zersprungen und da ist auch die Flüssigkeit. Auf der muss er ausgerutscht sein.“
„Flüssigkeit?“
„Tee. Vielleicht hat er das Gewicht am Rand abgelegt, hat irgendwie die Tasse fallen gelassen, ist ausgerutscht. Dann kullerte der Klöppel über die Kante und zack!“
„Klingt aberwitzig.“
„Schon, ist aber möglich. Wir haben das schon durchgerechnet. So könnte es gewesen sein. Immerhin wiegt das Ding über 7,5 Kilo und die Vitrine ist ungewöhnlich hoch, über 120 cm und schräg.“
Der Kommissar fuhr sich ans Kinn. Der Spezialist fuhr fort.
„Der alte Mann ist einfach hingeschlagen. In dem Alter, ich schätze über 70, da richtet man sich nicht so schnell wieder auf. Vielleicht hat er sogar an das Vitrinenbein hingelangt, um sich aufzurichten und dann…“
Plötzlich fing überall im Keller sämtliche Uhrwerke zum klingeln, hupen, schlagen an. „Das hält man ja nicht aus“, maulte Faller. „Können wir?“
„Ja, sie können die Leiche wegbringen.“
Als Faller nach oben kam, da verklangen die Uhren im Erdgeschoss gerade. Auch hier waren an allen möglichen und unmöglichen Orten Uhren gelagert. An den Wänden, auf den Tischen, dem Fenstersims. Franziska von Willershausen schien immer noch entrückt.
Faller zog die Krankenschwester beiseite und setzte sich behutsam Franziska gegenüber.
„Geht es?“
Sie nickte und es entglitt ihr ein Schniefen. „Ich muss ihnen ein paar Fragen stellen. Wenn sie wollen, dann komme ich auch später, wenn…“
„Nein, nein, es geht schon“, sagte Franziska fest. „Ich will es hinter mir haben, damit ich dann in Ruhe die Sache verarbeiten kann. Ich bin schon seit längerem nervlich am Ende.“
Faller begann.
„Hatte irgendjemand, außer ihnen Beiden, Zugang zum Haus?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir leben schon seit Jahren sehr zurückgezogen.“
„Sie waren allein?“ Sie nickte.
„Was wollte ihr Mann unten im Keller, was meinen sie?“
„Uhren stellen. Heute Nacht war doch die Zeitumstellung.“
Der Kommissar lehnte sich zurück und musste ein Schmunzeln unterdrücken. Bei den geschätzten 3000 Uhrwerken hatte Alfons, so hatte ihr 73 jähriger Mann geheißen, einiges vorgehabt.
„Er machte das immer bei der Zeitumstellung. Er war sehr penibel.“
„Aha! Wann ging er denn nach unten?“
„So um ein Uhr. Um zwei Uhr musste doch alles bereit sein. Um halb zwei kam er nach oben, um auch die Uhren hier im Erdgeschoss zu überprüfen.
Da habe ich ihm eine Tasse Tee gekocht. Die
nahm er immer mit nach unten, wenn es um die Wurst ging, wie er sagte.“
„Uhren waren ihm wichtig?“
„Wichtig“, echote sie spöttisch. „Er war Fanatiker. Seit dreißig Jahren sammelt er Uhren. Keine Anschaffung war ihm zu teuer. Er lebte nur noch für seine Uhren.“
„Und sie?“
„Ich wäre gerne mal verreist. Urlaub, oder so. Ich kenne das nämlich nur vom Hören und Sagen.“
„Ich verstehe.“
„Und er war allein?“
„Natürlich!“
Sie zeigte auf ihre Beine, während sie sich im Rollstuhl vornüber beugte.
„Sie wollen nicht mehr so richtig.“
„Unfall?“
„Nein, Gicht. Mal schlimmer, mal besser.“
„Und wie ging es weiter?“
„Er kam einfach nicht mehr nach oben. So um halb sechs war er meist fertig. Wir haben unten eine ziemlich dicke Tür. Jedenfalls kam er nicht.“
Sie packte zittrig ein Taschentuch aus. Faller ließ ihr Zeit.
„Schließlich rief ich die Polizei an. Was hätte ich denn sonst tun sollen?“
Der Kommissar tätschelte.
„Sie haben alles richtig gemacht, Frau Willershausen.“
Faller erhob sich, verneigte und bedankte sich. Er wünschte noch gute Besserung, als er das Haus verließ.
Auch die Spurensicherung hatte das Haus schon fast verlassen. Der Kommissar grübelte. An diesem Unfall-Zufall passte ihm etwas nicht. Er eilte zurück und schaute nochmals in den Keller, betrachtete den Unglücksort, wobei die Uhren wie verrückt tickten. Er sah eine kleine Blut-Schleifspur am Boden. Wie konnte das sein, wenn der Klöppel direkt von oben auf dem Schädel eingeschlagen war? Er fragte nach.
„Muss wohl beim Abtransport geschehen sein“, erklärte der Mitarbeiter. "Sie sagten doch, dass er mitgenommen werden könnte.“
Der Kommissar gab sich zufrieden. Ein Unfall, wie das Leben eben so spielt.
Drei Wochen später ging es Franziska von
Willershausen deutlich besser. Offensichtlich hatten irgendwelche teuren Medikamente gewirkt. Sie hatte sogar ein Flugticket auf die Bahamas erworben. Ohne Rückflug! Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn die Uhrensammlung hatte einen immensen Gewinn abgeworfen.
Es war für sie nicht nur eine Zeitumstellung, sondern eine Zeitenwende, als sie behände die Gangway zum Flugzeug nach oben sprang. Gerade noch rechtzeitig, weil sie nämlich keine Uhr mehr bei sich hatte.