Kurzgeschichte
Wie lang ist unendlich?

0
"Wie lang ist unendlich?"
Veröffentlicht am 26. März 2017, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Elena Okhremenko - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse. Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie. Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.
Wie lang ist unendlich?

Wie lang ist unendlich?

Reglos steht er am Fenster, sein Blick streift über das große gelbe Backsteingebäude gegenüber. SV hämmert sein Gehirn. Den bunt bemalten Flachbau nimmt er heute kaum war. Der kleine Teich direkt vor dem Gebäude glitzert im Schein der ersten Frühlingssonnenstrahlen. Sogar Goldfische sollen darin schwimmen. Ob die schmecken? Er hat schon vieles probiert hier, an diesem Ort. SV da ist er wieder , dieser immer währende Gedanke, den er normalerweise bei Seite schiebt, doch heute klammert er sich fest in seinem Hirn, während die knochigen Hände sich an den Gitterstäben verkrallen, bis die Knöchel weiß hervor

treten.

Was wird aus mir? Wie lang ist unendlich? Immer und immer wieder schießen die gleichen Fragen durch sein Hirn, fahren wie unsichtbare Züge stets dieselbe Strecke ohne Halt.


Damals das war in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit da war er jung, blutjung, da wollte er fort, wollte die Welt sehen, fuhr über die Ostsee. Republikflucht nannten sie sein Vergehen, 1 Jahr bekam er dafür. Das sitzt du mit Leichtigkeit ab, sagte er sich zähneknirschend, dennoch, er fühlte sich ungerecht behandelt und er  wurde gedemütigt. Das war eben so.

Und dann öffneten sich für ihn die Gefängnistore und erfuhr heim, zu seiner jungen Frau, zur kleinen Tochter. In der Bahnhofsgaststätte, beim Warten auf den Anschlusszug sah er ihn, seinen Peiniger und Schläger. Wie der da saß, entspannt, ausgeruht und die Bockwurst in sich hineinstopfte, da kam es über ihn, da konnte er nicht anders.

Er ging auf ihn zu und schlug ihn nieder, auch seine Wut und Verzweiflung legte er in die Schläge. So hatte seine Freiheit gerade einmal 3 Stunden gewährt.


Diesmal gingen sie härter vor, fesselten ihn mit Stahlbändern an den

Betonfußboden und schlugen auf ihn ein. Die Rippen brachen und kein Arzt kam, das hat er nicht vergessen.

Im Oktober 1989, da wurde plötzlich alles anders. Die Wärter wurden freundlicher. Er hörte von gewaltigen Demos in Leipzig und Dresden. Es rumorte unter den Gefangenen. War das auch ihre Stunde? Im November 89 rebellierten sie, forderten die Überprüfung ihrer Urteile, stiegen auf die Dächer der Haftanstalt. Er stellte sich in die erste Reihe, mit Stirnband, Transparent und stahlblauem Blick. Die Erinnerung zaubert ein Lächeln auf seine schmalen Lippen. Reporter kamen, schossen Fotos, stellten Fragen,

schrieben Artikel. Die Zeitung besitzt er noch heute. Er war der Star der Geschichte für den Bruchteil einer Sekunde. Er holt die Zeitung hervor, wenn die Hoffnungslosigkeit ihn zu zerbrechen droht.

Da ist es wieder, dieses SV - kein neues Angebot der Sozialversicherung hier im Knast.


Wieder in Freiheit wollte auch er ein Stück vom großen Kuchen abhaben, der gerade verteilt wurde. Andere bedienten sich, schamlos, problemlos, und sind jetzt Ehrenmänner.

Er besorgte sich eine Waffe, ging in Banken, hielt das Ding unter die Nase

der Angestellten und bat höflich um das Geld. Vom „Gentlemenräuber“ schreiben die Zeitungen, da war er sogar ein bisschen stolz drauf.

Einmal geriet die Sache etwas außer Kontrolle. Als sie ihn diesmal verhafteten, muss er für lange Zeit einziehen. Die neue Zeit kann er also auch nur durch Gitterstäbe verfolgen.

Er verbüßte seine Zeit, die Jahre gingen dahin - Schuld und Sühne. Und plötzlich gibt es kein Ende mehr. Da erhält er SV - Sicherungsverwahrung, dieses Wort, das ihm seine Zukunft nimmt. Dieses Wort bedeutet Unendlichkeit.

Ich bin doch kein Kinderschänder, ich bin nicht krank, sagt er immer wieder,

schreit es hinaus aus seiner Zelle, die keine Zelle ist, denn in Zellen sind nur Häftlinge untergebracht. Er aber ist in Gewahrsam. Er hat ein größeres Zimmer, darf es nach seinem Geschmack einrichten. Er hat genug Geld verdient, was soll er damit machen? Frau und Tochter haben längst jeden Kontakt abgebrochen, er ist inzwischen Opa, doch die Enkel wird er niemals zu Gesicht bekommen. Selten nur geht er ins benachbarte „Kaufland“ zum Einkauf. Es darf es in Begleitung, sein Begleiter hält ihn mit der metallenen Acht. Das möchte er seinen Mitmenschen nicht zumuten, er schämt sich deshalb. Geld spielt für ihn keine Rolle mehr.

Er versucht immer wieder, mit Gesuchen auf sich aufmerksam zu machen. Vergebens!

Immer neue Gutachter und eine blonde Staatsanwältin bescheinigen ihm ein unberechenbares Gewaltpotential.Er soll eine Gefahr für die Gesellschaft sein. Ist er das wirklich? Längst ist er still geworden mit seinen 66 Jahren, sehnt sich nach Sonne und einem kleinen Garten, das wäre schön. Wer kann mir noch helfen? Habe ich nicht genug gebüßt? fragt er mit leerem Blick.

Manchmal denkt er an Suizid, hier drinnen will er nicht als Greis seinen letzten Atemzug tun.


Ein kleiner Vogel stimmt sein Liebeslied an. Er kann problemlos die gelben Mauern überfliegen. Der Mann schickt im einen Triller hinunter. Ein neuer Frühling hat begonnen, wieder einer auf dem Weg der Unendlichkeit.

0

Hörbuch

Über den Autor

Albatros99
Ich wohne in der Oberlausitz und schreibe gern über meine schöne Heimat, schon seit der ersten Klasse.
Ich liebe meine vier Kinder und bin sehr stolz auf sie.
Nun sind sie in die Welt gezogen von Berlin bis Tokio, also besorgten wir, mein Mann und ich uns zwei neue Babies: Katze Nala und Hund Willy. Jeder von uns hält einen im Arm.

Leser-Statistik
28

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Feedre Es geht unter die Haut, wenn man darüber nachdenkt,
wie verloren und vergeudet so ein Menschenleben ist.
Ich denke, wenn man in diesen Strudel gerät, braucht man
alle Kraft, um Inne zu halten, wenn man das nicht kann,
ist man verloren. Sehr gute Geschichte!
LgF
Vor langer Zeit - Antworten
christinez Liebe Christine! Deine Geschichte macht mich betroffen, denn sie betrifft Menschen, die ich jahrelang begleitet habe, mich mit ihnen geschrieben, sie in der JVA Brandenburg besucht, sie auf gemeinsamen Ausgängen, Radtouren, als starke Hilfe bei einem meiner Umzüge erlebt. Ich hatte also Gelegenheit, Schwerverbrecher von ihrer besten Seite kennen zu lernen.
Mit den Dachbesetzern der Wendezeit teilte ich die Hoffnung auf Amnestie und pflegte mit einigen noch jahrelang Kontakt.
SV ist eine Ohnmachtserklärung des Strafvollzugs, dessen Aufgabe es ist, straffällig gewordenen Menschen zu helfen, ein Leben ohne Straftaten zu führen mit dem Ziel, sie wieder in der Gesellschaft einzugliedern. SV hat nicht dieses Ziel. Wenn ihre Notwendigkeit nicht immer wieder durch erneute Gutachten bestätigt wird, ist sie m.E. Freiheitsberaubung, mag sie auch so angenehm wie möglich gestaltet sein, bleibt sie doch unmenschlich, weil die Hoffnung auf Aufhebung fehlt und auch bei guter Führung und ehrlichem Bemuhen keine Lockerung erreicht werden kann, also absolut keinen Ansporn darstellt.
Im Übrigen wird die Gesellschaft keineswegs wie vielleicht vermutet und erhofft durch SV vor Straftaten geschützt, denn schwere Straftaten werden bis auf ganz wenige Ausnahmen von Ersttätern begangen und kaum ein Schwerverbrecher wird nach seiner Haftentlassung zum Wiederholungstäter,
auch der von Dir beschriebene Mensch hatte ja vorher keine schweren Straftaten begangen.
Alles Gute für Dich und ihn.
christine
Vor langer Zeit - Antworten
pekaberlin Es sind Gedanken, Christine.
Gedanken, die aus Empathie für den von ihnen betroffenen quellen.
Und ich glaube schon, dass du dich sehr gut in ihn hineinversetzt hast.
Ja, so kann er denken ...
Aber ich erkenne einen kleinen Hinweis in deiner Geschichte. Anders als Andere vor mir, sehe ich eine Gleichsetzung, eine Fortführung des Unrechtes gegenüber dem einzelnen, einzigartigen Menschen.
"... Das war eben so. ..." Schriebst du! Und ich denke, sehr bewusst! Denn hier beginnt und endet die Freiheit des Einzelnen.
Und wieder, entscheidet er sich, aus freiem Willen wie damals, gegen eine Norm, die EBEN SO IST. Ja, und weil es eben so ist ... sitzt er nun in SV ... Oder doch, weil ER eben so ist? Der einzelne, einzigartige Mensch bleibt auf der Strecke ... wiedermal!
Eine wunderbare Geschichte ... nicht zum Werten ... vielmehr zum Nachdenken!
Liebe Grüße
Peter
P.S. Ich denke, du kennst die "blonde Staatsanwältin" persönlich.
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Eine Geschichte, in der ich den Focus nicht auf Recht oder Unrecht, auf das Treffen von richtigen oder falschen Entscheidungen, auf Vermeidbares oder Unvermeidbares richten möchte, sondern auf das Schicksal eines Menschen, der dem Sog einer Spirale nicht gewachsen war. Alle Fragen, die ein "was wäre gewesen, wenn..." beinhalten, könnten nur im Konjunktiv beantwortet werden. Übrig bleibt ein verpfuschtes, bedauernswertes Leben.
Eine traurige und nachdenklich stimmende Geschichte, die keinen Raum für Interpretationen lässt und deshalb um so nachhaltiger wirkt.
Wie von Dir gewohnt, großartig geschrieben, liebe Christine.
LG
Kara

PS: Ich glaube, die Geschichte hat einen realen Hintergrund.
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Mit Sicherheit ein berührendes Schicksal! Und natürlich wieder sehr gut geschrieben.
Dennoch, ich finde, dass Louis es perfekt erklärt hat ....
Ich hätte auch nicht die jeweilige Bankangestellte sein wollen, wenn da so ein "Gentleman" mit gezogener Pistole reinkommt und anderer Leute Geld verlangt ... Bewaffneter Raub ist ein schweres Delikt.
Am Ende war er es doch selbst, der die Kurve nicht gekriegt hat ...

Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
AngiePfeiffer Whow - was für eine Shortstory! Sie geht unter die Haut.
Eigentlich könntest du aus diesem Stoff einen Roman machen!!!!!
Liebe Grüße
Angie
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Das mit dem Roman hatte ich fast vor, leider fehlt die Zeit. Und außerdem, wer verlegt schon so etwas, es gibt viel zu viele Bücher. Da muss man solch ein Glück haben. Aber die Geschichte, die auf wahren Erlebnissen fußt, beschäftigt mich immer noch.
Danke für deinen Kommi.
Lieben Gruß
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks boah, da hast Du eine traurige geschichte erzählt, die sicher in der Wirklichkeit ihre ungerechten Wurzeln hat.
Ja Recht und Gerechtigkeit. Einiges ist schief gelaufen als sich die Zeiten wendeten. Und oft wurden aus den ehemaligen Opfern unverstandene neue, auch wenn sie zwischendurch zu Tätern wurden. Und keine medizinische Betreuung möglich?
Habe Deine Geschichte mit einer Gänsehaut gelesen.
Ziffern im Text würde ich in Zahlwörter umwandeln :-)
LG vom Klecks
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Ja, du hast Recht, die Geschichte beruht auf wahren Tatsachen.
Medizinische Betreuung und Knast - davon könnte ich auch eine oder mehrere Geschichten schreiben (aus neuer Zeit) Das würde vielleicht keiner glauben.
Ganz liebe Grüße
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Eine sehr einfühlsam erzählte Geschichte. Das lässt einen solch einen Menschen mit doch etwas anderen Augen betrachten.
Das entschuldigt natürlich keinesfalls die Banküberfälle, doch wer einmal in den Mühlen des Gestzes gefangen ist, dem wird solches wohl auch zeitlebens anhaften.

Liebe Grüße und einen schönen Sonntag.
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
11
0
Senden

151565
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung