Julia
"Warum wollt ihr euren Zwischenstopp in Jakarta einlegen? Das Zentrum javanischer Kultur ist Yogyakarta."
Alexander, Auslandskorrespondent einer deutschen Tageszeitung und unser langjähriger Freund, schüttelte den Kopf.
"Ich kenne in Yogyakarta einige Leute, die sicher gern bereit wären, euch Sehenswertes zu zeigen. Julia, eine Lehrerin, seit Jahren eine Freundin mit Herz und Verstand, wäre begeistert euch ein bisschen herumzuführen. Sie freut sich immer, wenn sie mit Deutschen zusammentrifft. Das gibt ihr Gelegenheit ihre Sprachkenntnisse zu festigen."
Weitaus überzeugendere Gründe, die er anführte, ließen uns die geplante Reiseroute nochmals überdenken.
Robert, mein Mann, hatte alle Reiseunterlagen auf dem Tisch ausgebreitet.
Die Buchungsbestätigung für den Flug nach Jakarta und den Weiterflug nach Melbourne sowie die Hotelreservierungen. Da die Reiseroute individuell von uns gestaltet war, hatten wir auf die Hilfe eines Reisebüros verzichtet und direkt bei den Fluggesellschaften und Hotels gebucht. Demzufolge stapelten sich auch etliche Faxschreiben auf dem Tisch. Es war alles komplett, nur die Flugtickets hatten wir noch nicht.
"Glaubst du, dass wir jetzt noch
Stornierungen und Umbuchungen ohne finanziellen Verlust vornehmen können?", fragte er mich
"Außerdem haben wir dem Hotel in Jakarta schon eine Anzahlung überwiesen."
Ich zuckte etwas hilflos mit den Schultern.
"Versuchen können wir es ja:"
Wir standen an der Gepäckausgabe des Flughafens Adisucipto in Yogyakarta. Nach 16stündigem Flug etwas erschöpft, doch neugierig auf das, was uns erwartete. Fünf Tage hatten wir für den hiesigen Aufenthalt eingeplant. Keine lange Zeit. Was würde Julia uns zeigen, wie würde sie sein? Die typische Fremdenführerin? Sicher nicht! Das hatte Alexander uns versichert.
Als wir die Flughalle betraten, sahen wir sofort das Schild mit unseren Namen. Von der Person, die es schwenkte, sahen wir nichts. Nur die hochgereckten Arme. Wir bahnten uns durch das Gewusel der an- und abreisenden Fluggäste einen Weg und standen kurze Zeit später vor einer kleinen, nicht unbedingt als zierlich zu beschreibenden Frau. Sie legte das Schild auf den Boden, musterte uns forschend und streckte uns dann mit einem warmen Lächeln die Hand entgegen.
"Ich bin Julia! Herzlich willkommen in meiner Heimat!"
Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln griff Julia nach einem unserer Gepäckstücke. Dabei fiel mir ihr am Hinterkopf kunstvoll
drapierter Haarknoten auf. Ich würde Stunden dafür brauchen. Wir verließen das Flughafengebäude und überquerten einen großen freien Platz, der keinerlei Schatten bot, sodass die Sonne erbarmungslos auf uns niederbrannte. Es war 10:00 Uhr und das Thermometer zeigte 31 °C. Julia spannte einen Regenschirm auf.
"Ich muss meine Haut schützen. Sie ist sehr empflindlich", erklärte sie uns.
"Leider müssen wir eine kurze Strecke bis zum Auto laufen. Die Parkplätze am Flughafen waren alle besetzt."
Abrupt blieb sie stehen.
"Ein Brautpaar!" Euer Aufenthalt auf Java steht unter einem glücklichen Stern. Aber wo ist die Hochzeitsgesellschaft?"
Ein schönes Paar in traditioneller Kleidung kam uns entgegen. Robert suchte in der Reisetasche nach dem Fotoapparat. Auf seiner Stirn bildeten sich die ersten Schweißperlen.
"Es ist heiß heute", sagte Julia.
"... und die Temperatur steigt weiter. Der Wetterdienst sagt 39 °C voraus. Ich werde das Paar fragen, ob ihr ein Foto von ihm machen dürft ... und dann sehen wir zu, dass wir aus der Sonne kommen."
Sie wechselte einige Worte mit den beiden und wandte sich lachend uns zu.
"Es sind Models, die in der Nähe ein Fotoshooting für Brautmode haben. Ihr dürft gerne ein Foto von ihnen machen."
So ´schoss` Robert das erste Foto auf Java.
Eine Sehenswürdigkeit der anderen Art.
Julia zu fotografieren gelang uns nicht. Sie sei nicht passend gekleidet wehrte sie ab. Dabei sah sie in ihrer dunkelblauen Hose und der weißen langärmeligen Bluse nett aus. Was war daran nicht passend? Julia war eitel. Das bemerkten wir erheitert zu einem späteren Zeitpunkt. Es erklärte auch den Regenschirm, der ihr ständiger Begleiter war. Sie wollte eine hellere Haut als ihre Landsmänninnen haben. Wie alt mochte sie sein? Vierzig? Vielleicht etwas jünger? Möglicherweise auch etwas älter. Alexander hatte uns erzählt, dass sie sich bezüglich ihres Alters immer zurückgehalten hatte. Nun, jeder hatte eben seine Eigenarten.
Endlich hatten wir das Auto erreicht. Ein
Mann stieg aus, den Julia uns als ihren Cousin Manik vorstellte. Er würde uns in den nächsten Tagen als Fahrer begleiten.
"Ich bin schon zweimal durch die Fahrprüfung gefallen", sagte sie betrübt.
"Dabei fahre ich mit dem Motorroller, kenne die Verkehrszeichen und hatte noch keinen Unfall - aber die Straßen sind mir mit dem Auto einfach zu schmal."
Wieder lachte sie. Das tat sie offenbar gern.
"Mein Mann sagt, dass ich ein Rollfeld zum Autofahren brauche."
Während der Fahrt zum Hotel machte uns Julia Vorschläge zur Gestaltung unseres Aufenthaltes.
"Möchtet ihr heute schon etwas anschauen oder seid ihr zu müde?", fragte
sie."
"Ich könnte eine Dusche gebrauchen und vielleicht zwei Stunden Schlaf. Doch dann wäre ich wieder fit und zu allem bereit", antwortete Robert.
Er blickte mich fragend an. Ich konnte ihm nur zustimmen.
"Gut", sagte Julia.
"Wir vereinbaren eine Zeit, zu der ich euch abhole. Heute gehen wir das ganz ruhig an und besuchen die Universität", sagte sie.
"Eine ganz besondere Seminargruppe", setzte sie geheimnisvoll hinzu.
"Morgen wird es anstrengender. Borobodur ist groß und der Aufstieg kostet Kraft. Es sind hohe Stufen."
Als sie unsere verständnislosen Blicke sah,
erklang wieder ihr fröhliches Lachen.
"Oh ja, der Weg ins Nirwana ist schwer, aber anschließend könnt ihr euch entspannen. Wir besuchen den Sultanspalast."
Sultanspalast? Hatten wir uns verhört?
Wir wussten von Alexander, dass die Stadt Yogyakarta ein Sultanat und autonomen Status in Indonesien hatte. Es war eine der wenigen Informationen, die er uns gab. Wir sollten unvoreingenommen selbst unsere Eindrücke sammeln und uns ein Bild machen.
"Wir sind angemeldet und werden durch die Palastgebäude und den Palastgarten geführt. Ihr werdet Interessantes erfahren. Nur die privaten Räume des Sultans sind
uns verwehrt. Verständlich! Wer lässt sich schon gern in sein Schlafzimmer schauen", setzte sie hinzu.
Julias hervorragendes Deutsch beeindruckte uns. Sogar Idiome flocht sie sinnvoll in ihre Ausführungen ein. Als wir sie darauf ansprachen, antwortete sie:
"Ich habe schon immer viel und gern gelesen. Eines Tages sagte mein Vater, wenn du die deutschen Klassiker lesen willst, dann lerne die deutsche Sprache. Keine Übersetzung kann das Original ersetzen. Also lernte ich! Und heute lehre ich diese Sprache an einem Gymnasium."
"Dann hat dein Vater sicher auch erheblichen Einfluss auf die Wahl deines Namens gehabt", sagte ich zu ihr.
"Julia ist ja eher ungewöhnlich für ein asiatisches Land."
"Oh ja! Mein Vater liebt Shakespeare. Für ihn stand fest, sollte er einmal eine Tochter haben, würde sie Julia heißen. Ich hatte Glück, dass ihm Desdemona nicht gefiel."
Und wieder erklang ihr fröhliches Lachen.
Wir hielten vor dem Hotel, luden gemeinsam unser Gepäck aus und vereinbarten die Zeit, zu der wir uns wieder treffen wollten.
Bevor Julia ins Auto stieg, drehte sie sich noch einmal um und rief:
"Was sagt ihr zur Fußball-WM? Deutschland schlägt sich gut! Ich liebe Schweinsteiger!"
Verdattert blickten wir sie an. In den vergangenen Tagen hatten wir keinen
Gedanken an die WM verschwendet. Die Vorbereitungen für die insgesamt 7wöchige Reise hatten uns voll in Anspruch genommen.
"Ja, was schaut ihr so? Die ganze Welt spricht darüber ... und wir leben doch hier nicht auf einem anderen Planeten."
Sie winkte uns zu.
"Obwohl ...", setzte sie hinzu und blickte zwei Frauen nach, die gerade vorbeigingen und in einen Tschador gehüllt waren.
Wir hatten an unserem ersten Tag in Yogyakarta Beeindruckendes gesehen. Der Besuch der Universität ist noch heute Gesprächsstoff, wenn Indonesien zum Thema wird. Doch das ist eine andere
Geschichte.
Nachdem wir die Universität verlassen hatten, wollte Julia uns noch den Art Market Nadzar zeigen.
"Wir gehen nicht über den ganzen Markt", sagte sie.
"Ich zeige euch, wie ihr am besten dort hinkommt. Vielleicht wollt ihr an einem Abend - wenn es etwas kühler geworden ist - allein und ganz in Ruhe einen Einkaufsbummel machen. Der Markt hat bis 21:00 Uhr geöffnet."
Schon die ersten Marktstände überzeugten mich. Hier musste ich noch einmal hin. Robert sah das etwas skeptischer. Er dachte an sein Portemonnaie.
Die Dunkelheit brach fast übergangslos
herein und Julia hatte ihren Regenschirm zugeklappt. Wir wollten ins Hotel, ein warmes Abendessen einnehmen - in der Universität hatte man uns freundlicherweise einen kalten Imbiss angeboten - und früh zu Bett gehen.
Doch Julia hatte andere Pläne.
"Ich lade euch zum Abendessen in mein Haus ein. Meine Familie würde sich freuen ... und ich ganz besonders. Natürlich werdet ihr nach dem Essen ins Hotel gebracht. Ach bitte, macht mir die Freude."
Sie sah uns erwartungsvoll an.
Meine Güte, was nun? Dieser liebenswerten Frau eine Absage zu erteilen fiel uns schwer.
Nach asiatischen Gepflogenheiten wäre es auch unhöflich ... und wir hatten kein
Gastgeschenk, das man bei einem Besuch überreichen konnte. Das Geschenk für Julia lag im Hotel im Koffer. Sie sollte es zum Abschied bekommen.
"Vielleicht gibt es einen Blumenladen in der Nähe", flüsterte mir Robert zu.
"Ich glaube, hier schenkt man keine Blumen", flüsterte ich zurück.
"Besser wären Pralinen. Wo bekommen wir die jetzt her?"
Julia war bei unserem leise geführten Gedankenaustausch etwas zurückgetreten. Doch sie hatte uns beobachtet.
Entweder hatte sie etwas gehört oder sie ahnte, worin unser Problem bestand.
Sie trat wieder zu uns, legte die Hand auf meinen Arm und sagte:
"Vergesst einmal alles, was ihr über dieses Land zu wissen glaubt. Es gibt immer Unvorhersehbares. Bitte, nehmt meine Einladung an."
Zwanzig Minuten später hatten wir ihr Haus, das inmitten eines großen Gartens lag, erreicht. Dieser wurde von vielen Lampions erleuchtet, die ihr flackerndes Licht auf ca. zwanzig Personen warfen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden. Einige Frauen liefen mit Tellern und Schüsseln zu einem Tisch, auf dem sich schon einige Speisen befanden. Gerade kam eine Frau, die einen Hidschab trug, mit einer Schale, die mit Obst gefüllt war.
Wir waren erschrocken. War das eine Familienfeier? Umso peinlicher, dass wir
kein Geschenk hatten.
Wir sprachen Julia darauf an.
"Nein", lachte sie.
"Das sind Nachbarn und Freunde. Heute ist doch das Halbfinale Deutschland - Italien ... und wir haben den größten Fernseher. Immer wenn etwas Besonders im Fernsehen übertragen wird, kommen sie zu uns."
Dann stellte sie uns ihren Mann und ihre beiden Töchter vor. Die beiden waren zwölf und vierzehn Jahre alt. Das erfuhren wir im Laufe des Abends.
Sie führte uns in einen etwas abgelegenen Teil des Gartens. Dort saß ein älterer Mann in einem Rattansessel. Bei unserem Näherkommen wollte er aufstehen. Doch Julia drückte ihn in den Sessel zurück und
sagte etwas in ihrer Muttersprache zu ihm.
Bahasa, so femd klingend für uns.
Dann setzte sie in Englisch fort:
"Ich habe Gäste aus Deutschland mitgebracht, Vater. Aus dem Land der Dichter und Denker, wie du immer sagst."
"Willkommen", sagte er.
"Meine Tochter hat heute einen glücklichen Tag."
Bezogen sich seine Worte auf unsere Anwesenheit?
Julia berührte liebevoll seinen Arm und bat uns dann zu den anderen Gästen, um uns einander vorzustellen. Auf dem Weg zu ihnen sagte sie:
"Die Beine meines Vaters gehorchen nicht mehr seinem Willen. Auch das gehört zum
Unvorhersehbaren."
Fremd klingende Namen, Stimmengewirr und Musik aus dem Fernseher, die aus einem Zimmer drang, dessen weit geöffnete Tür direkt in den Garten führte, verbanden sich zu einer Geräuschkulisse, die uns doch etwas verwirrte.
Gerade als Julia uns bat, uns am reich gedeckten Tisch zu bedienen, trat ein Mann heran, der gerade gekommen zu sein schien. Er trug einen weißen Dhoti und eine weiße Kurta. Er begrüßte Julia mit einer Umarmung.
"Das ist Ranga stellte sie ihn vor. Er ist Apotheker. Seine Wundermittel waren uns immer eine große Hilfe."
Ranga verbeugte sich vor uns und mischte
sich unter die anderen Gäste. Später sahen wir ihn neben Julias Vater sitzen.
Julia blickte ihm hinterher. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
"Ich kenne Ranga seit fünfzehn Jahren und konnte bisher nicht ergründen, worauf er mehr stolz ist. Auf seine Apotheke oder dass er Brahmane ist. Er ist ein verlässlicher Freund. Ich will glauben, dass ihm die Apotheke mehr bedeutet."
Wir genossen nicht nur das köstliche Essen, auch die bunte Gesellschaft, die uns einen schönen Abschluss unseres ersten Tages auf Java bereitet hatte.
Julia gesellte sich zu dieser und jener kleinen Gruppe, sorgte dafür, dass ein Engländer, der schon einige Jahre auf Java
lebte, ein Bier bekam ... und ließ uns bei aller Geschäftigkeit nicht aus den Augen. Wir sollten uns wohlfühlen. Sie hatte sich umgezogen und trug nun einen weit schwingenden bunt gemusterten Rock und ein leichtes kurzärmeliges T-Shirt. Es bestand keine Gefahr mehr. Die Sonne war schon lange untergegangen.
Nach zwei Stunden verabschiedeten wir uns von Julia und baten sie, uns ein Taxi zu rufen.
"Ich bringe euch selbstverständlich zum Hotel zurück. Dort habe ich euch auch abgeholt."
Und schon rief sie nach Manik.
"Du möchtest doch das Fußballspiel sehen", wandte Robert ein."
Auch ich versuchte Julia zu überzeugen, dass sie bei ihren Gästen bleiben sollte. Vorsichtig wies ich darauf hin, dass der nächste Tag auch für sie anstrengend werden würde.
Sie winkte lachend ab.
"Ausruhen kann ich mich, wenn Java nur noch eine Erinnerung für euch ist ... und das
Spiel wird erst nach Mitternacht übertragen. Dann bin ich lange wieder hier ... und ich kann auf dem Rückweg noch in die Moschee gehen. Ich werde ein Bittgebet sprechen. Vielleicht hilft es, dass Deutschland heute gewinnt."
Julia war Muslima.
Das hatte Alexander uns verschwiegen.
© KaraList 07/2017