Kapitel 1
Das trübe Mondlicht hüllt das Zimmer ins Halbdunkel. Die Bäume vor dem Fenster bewegen sich sacht im Wind und ihre kahlen, dürren Äste werfen bizarre Schatten in den Raum. Geradezu magisch tanzen sie über den Boden und recken sich wie lange Finger nach mir. Mit jeder Stunde, mit jeder weiteren Minute kriechen sie näher zu mir, und ich beobachte sie und warte... und sehne.
Die Schatten werden immer länger und ihr Tanz fesselt mich. Ich bin nicht in der Lage weg zu schauen. Im wirbelnden, flackernden Rhythmus näheren sie sich dem Bett, in dem ich liege. Und dann
endlich - endlich! - berühren sie den Saum meiner Decke. In mir jubiliert es.
Ich liebe diesen Moment. Den Moment, wenn endlich die Sonne aufgeht.
Und jetzt glaubt nicht, ich wäre so romantisch veranlagt oder würde auf dieses rosige Weichzeichnerlicht stehen. Nein, ich bin wohl zu pragmatisch um ernsthaft romantisch zu sein. Die Schönheit eines Sonnenaufgangs entgeht mir zwar sicherlich nicht, aber ich halte es schlicht für Zeitverschwendung ihm eine größere Bedeutung zuzuschreiben. Nein, ich warte jede Nacht auf diesen Moment, wenn die schwache Morgensonne die Schatten der Nacht zurück in ihre Verstecke treibt, dort wo
sie den Tag über weilen und auf ihren erneuten Auftritt warten. Dieser Moment, wenn eine weitere Nacht überstanden ist.
Die langen Schatten legen sich über mich wie eine Decke aus Finsternis. Beinahe hätte ich gelächelt. Aber eben nur beinahe. Stattdessen drehe ich mich zur Tür. Unter meiner Bewegung klirren die eisernen Ketten leise.
Still liege ich da und starre auf die Tür, so als könnte mein Blick sie öffnen. Doch nichts passiert. Die Tür bleibt zu. Die Minuten verstreichen quälend langsam und ich starre und warte. Warte und starre. Auch wenn ich ruhig daliege, bin ich innerlich unruhig.
Man lässt mich warten! Der Gedanke macht mich so wütend, dass ich ohne es zu wollen mit den Zähnen knirsche. Nur mit Mühe kann ich das wilde, animalische Knurren unterdrücken, welches schon in meiner Kehle vibriert. Man lässt mich nur warten, um mich auf die Folter zu spannen, um mit mir zu spielen. Am liebsten würde ich um mich schlagen, doch ich bleibe ruhig liegen, atme tief durch und warte weiter.
Schließlich höre ich, wie sich Schritte nähren und ich schließe die Augen. Vor Erleichterung könnte ich glatt weinen. Mit geschlossen Augen liege ich da und höre das Klimpern der Schlüssel, höre
wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt und dann einmal gedreht wird. Dann ein zweites mal. Als der schwere Bolzen zurück fährt, öffne ich die Augen wieder und schaue erneut zur Tür.
Im selben Moment fliegt die Tür so krachend auf, dass sie mit einem lauten Knall an die Wand schmettert. Hätte ich geschlafen, so wäre ich nun wohl vor Schreck aus dem Bett gefallen. Aber ich war schon wach, ich hatte gar nicht erst geschlafen, also kann ich entspannt liegen bleiben und mit einem Anflug von Genugtuung zusehen, wie Enttäuschung und Zorn über Bilwis' Gesicht huschen. Aber er fängt sich schnell und tritt mit kühlen und gelassenen Blick zu mir ans
Bett.
„Mensch, du siehst aber müde aus. Schlecht geschlafen, was?“ seine Stimme klingt rau und animalisch, fast wie das Knurren eines Bären. Nur seine Stimme gibt Auskunft darüber, was er wirklich ist. „Wenn du müde bist kannst du ruhig noch ein wenig schlafen. Ich komme dann einfach in ein paar Stunden wieder...“ Der Schreck fährt mir sofort in die Knochen. Augenblicklich erstarre ich und am liebsten würde ich laut schreien. Doch ich reiße mich zusammen und bleibe so ruhig wie nur möglich. Das darf er doch gar nicht! Es sind nur leere Drohungen, mit denen er mich aus der Reserve locken will. Trotz meiner
gespielten Ruhe, muss Bilwis dennoch etwas von meiner Panik spüren, denn ein sehr zufriedener Ausdruck legt sich auf seinen Zügen, als er den Schlüsselbund in seinen groben Klauen dreht und nach dem richtigen Schlüssel sucht. In Seelenruhe beugt er sich über mich und löst nach und nach die Fesseln an meinen Hand- und Fußgelenken. Mit tauben Fingern reibe ich mir die wundgeriebenen Stellen. Wieder lächelt Bilwis selbstgefällig. Die Vorstellung, dass ich Schmerzen habe, erfreut ihn. In der Hinsicht war er schon von klein auf ein Sadist der Schlimmsten Sorte. Wütend stoße ich Bilwis von mir und stehe mit wackeligen Beinen auf. Er
sieht es und ein spöttisches Grinsen umspielt seine Lippen. Bevor er etwas sagen kann, rahme ich ihm die Faust in die Magengrube und schubse ihn durch die Tür.
„Dann bis morgen, Prinzessin“ faucht er noch mit gepresster Stimme, dann schlage ich ihm die Tür vor der Nase zu und lasse mich erschöpft dagegen sinken.