FB 59
Aufgabe:
Ihr sollt ein gebräuchliches Sprichwort, Zitat, Redewendung, etc. so abwandeln, dass sich der Inhalt gravierend ändert und dann über den neuen Inhalt einen Beitrag schreiben.
"Besser als Taube auf dem Dach denn als Spatz in der Hand"
Es gibt natürlich wieder 12 Vorgabewörter:
Larve,
Himmel,
bohren
schlüpfen,
Kasten,
selbstlos
Herzklopfen,
fadenscheinig,
Zahnbürste
Tannenzapfen,
singen,
abends.
als Taube auf dem Dach
Kati spürte, wie ihre Mutter über die Treppe zu ihr hinauf kam. Unter dem Gewicht der doch rundlichen gluckenhaften Frau vibrierte und schwankte das ganze Holzgestell, das ihr Vater ihr damals gebaut hatte.
„Damit mein Spatz dem Himmel ein Stück näher ist“, hatte er ihr lächelnd gesagt, sie anlässlich ihres 14. Geburtstags mit verbundenen Augen diese Leiter hoch geleitet und ihr dann in dem Kasten in der alten Kiefer die Augenbinde wieder abgenommen.
Ein Baumhaus mit Dachgarten, ganz für sie alleine! Wie glücklich war sie doch auch
heute noch hier oben, wo sie abends unter den Sternen träumen konnte und auch heute gern noch leise die Lieder sang, die Vater und Großmutter sie gelehrt hatten.
Das stets zu einer besorgten Maske verzogene Gesicht ihrer Mutter erschien im Einlass, wo die Leiter ins Baumhaus mündete.
„Kati, mein Spatz, komm doch runter, es wird schon kalt und auch bald dunkel“, sah Kati ihre Mutter sagen.
Seit fast zehn Jahren nun schon, jeden Abend das Selbe, seit sie und Vater diesen entsetzlichen Reitunfall hatten. Nur ungern erinnerte sich Kati. Der Tag hatte wunderschön begonnen. Es war Sonntag. Sie saßen im Baumhaus und planten ihren
Ausritt. Der Himmel leuchtete märzblau mit lauter Fotowölkchen, die Vögel sangen die fröhlichsten Frühlingslieder und Vater versprach ihr eine Überraschung. Noch heute bekam sie Herzklopfen. Und sofort packte sie eine ungeheure Traurigkeit. Die Überraschung hatte Vater ihr nicht mehr verraten können.
Man hatte ihn nur noch tot unter seinem Rappen hervorholen können. Dessen Rippen hatten sich in Vaters Brustkorb gebohrt. Es war schrecklich. Das Pferd musste noch vor Ort erschossen werden.
Kati war danach nie wieder auf ein Pferd und auch nie wieder in ein Flugzeug gestiegen, nachdem die Cessna mitten auf das Feld vor ihnen gestürzt und vor ihnen explodiert war.
Ihr Fuchs hatte zwar gescheut, sich aufgebäumt doch sie hatte ihn zum Stehen gebracht; aber durch das Knalltrauma und den Schock hatte es so schwere Schäden davon getragen, dass es nicht mehr zum Reiten taugte.
Die mütterliche Larve einer Gefängniswärterin holte sie in die Gegenwart zurück. Lächelnd, besorgt, lauernd und letztendlich irgendwie selbstsüchtig.
„Nun komm schon, mein Spatz, lass uns essen“, formulierte ihr Mund.
Kati warf einen Tannenzapfen vom Dach ihres Baumhauses in den Garten, verabschiedete sich mit einem langen Blick von dem sich abendlich färbenden
Wolkenhorizont und schlüpfte dann durch die geöffnete Fensterluke ihrer Mutter entgegen.
„Ja, ich komme schon“, antwortete sie.
Jeden Abend kam sie, um ihre Tochter zum Essen zu holen. Scheinbar selbstlos kümmerte sie sich seit damals unbändig und beengend um Kati, versuchte einen goldenen Käfig um ihren "Spatzen" zu bauen und sie immer fest in der Hand zu behalten. Kati kam das sorgenvolle Getue schon fast ein wenig scheinheilig vor. Schließlich war sie gesund und berufstätig, eine erfolgreiche EDV-Expertin mit eigenem Laden. Doch diese Unabhängigkeit passte ihrer Mutter ganz und gar nicht. Irgendwie schien sie mit dieser Überfürsorge den Verlust ihres
Mannes kompensieren zu wollen. Was sollte nur werden, wenn Kati tatsächlich auszog. Sie hatte sich neulich eine hübsche Wohnung angesehen, die in der Nähe ihres Geschäftes verkauft wurde.
Kati versuchte ihre Sorgenfalten wegzulächeln und ihren Unmut nicht nach außen zu tragen. Lächelnd folgte sie der Mutter ins Haus.
Nach dem Abendessen, vorm Spiegel im Bad, mit der Zahnbürste im Mund, sah sie sich kritisch an. Ihr gleichmäßiges Gesicht, der Lockenkopf wie ihr Vater, die dunklen Augen ihrer Mutter und niemand würde, wenn er sie so sah auf die Idee kommen, dass sie behindert war.
War sie es? Oder war es tatsächlich nur eine vorrübergehende Störung? Lange Gespräche mit ihrer Psychologin und dem behandelnden Ohrenarzt hatten ihr erst vor kurzem wieder etwas Hoffnung gemacht: psychogene Hörstörung nannte man ihre Art der Taubheit und ihre Ärzte hatten ihr gesagt, es könne sein, dass sie eines Tages wieder hören könne.
Doch dazu müsste sie ihr Leben ändern, es in die eigene Hand nehmen, empfahl ihre Therapeutin.
„Vielleicht ist ja die eigene Wohnung in der Stadt und ein neuer Freundeskreis ein guter Anfang“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, nachdem sie die Zahnbürste weggelegt hatte.
Ganz deutlich konnte sie jedes Wort, das sie zu sich sprach von ihren eigenen Lippen ablesen.
Aus der Tauben auf dem Dach, die sich dagegen wehrte, ein Spatz in der Hand ihrer Mutter zu sein, würde wieder eine lebensfrohe Kati werden. Das fühlte sich an wie ein Versprechen und wie ein guter Plan.
Kati knipste das Licht im Bad aus und verschwand in ihr Zimmer. Nachdem sie den Vibrationswecker an ihrer Armbanduhr aktiviert hatte, löschte sie das Licht und kuschelte sich in ihr Kissen.
"Besser als Taube auf dem Dach denn als Spatz in der Hand, das ist nur die halbe Wahrheit", mit diesem Gedanken schlief sie ein.