MEIN TÜPFELHARRY
Ich unterteile mein Leben in zwei Abschnitte. Die Zeit ohne Harry und die Zeit mit Harry. Harry ist, sagen wir mal, etwas speziell. Etwas SEHR speziell.
Seit er hier bei mir eingezogen ist, bin ich bemüht, ihm alle seine Unarten abzugewöhnen. Das gestaltet sich relativ schwierig, denn größtenteils sind sie angeboren. Er hat ein richtig großes Maul und neigt dazu, sich nachts herumzutreiben, immer auf der Suche, etwas aufzureißen. Geht natürlich gar nicht. Ich musste ihm verklickern, dass ich hier der Boss bin und die Regeln vorgebe und dass er froh sein müsste, dass ich ihn aufgenommen habe. Ihn, ein verschlagen dreinblickendes Individuum, das den ganzen Tag nicht aus seinem mit Tupfen bemusterten Schlafanzug herauskommt. Erschwerend ist auch, dass der Kerl, wann immer er
sich unbeobachtet wähnt,
eklige Duftmarken versprüht. Ja, ja, Harry ist ein Drecksack und das weiß er auch. Er weiß aber auch, dass es sich bei unserer Beziehung um eine klassische Win-Win-Situation handelt, dass ich also auch von seiner Anwesenheit profitiere...
Verwirrendes Gelaber?
Okay, hör zu!
Es war ein langer, von düsterer Tristesse ummantelter Winter gewesen. Mir ging`s echt nicht gut. Während der vielen nasskalten Tage hatte sich das gelegentliche Stechen in meiner Schulter zu einem Dauerschmerz entwickelt, den
ich möglichst schnell wieder loswerden wollte. Erst probierte ich es mit allem, was die Pharmaindustrie zu bieten hat, das schlug sich mir allerdings schon bald heftig auf den Magen. Darauf hin verbrachte ich mehr Zeit im Wartezimmer meines Physiotherapeuten als in meinen eigenen vier Wänden. Wer könnte es mir da verdenken, dass ich auf eine Zeitungsanzeige mit dem Titel "Dem Schmerz mit PHANTASIE zu Leibe gerückt!" angesprungen bin wie ein ausgehungerter Straßenköter auf eine Schlachtschüssel.
Und so saß ich alsbald mit dreizehn weiteren Schmerzgeplagten in einem
Stuhlkreis bei Diplom Psychologin und Gestalttherapeutin Annelore Mitterlehner-Weißenfeldt. Die blässliche, in Erdtöne gewandete Mitvierzigerin ließ sich eingangs sämtliche Leidenswege der Hilfesuchenden mehr oder weniger wortreich beschreiben. Als ich dann nach gefühlten drei Stunden an der Reihe war, war ich schon leicht angesäuert.
Frau Mitterlehner-Weißenfeldt nickte mir aufmunternd zu und dreizehn Köpfe mit sechsundzwanzig gespitzten Öhrchen drehten sich in meine Richtung, in Erwartung einer weiteren schmerzbehafteten Geschichte.
"Stechen in der Schulter, seit einem
halben Jahr", murmelte ich unwillig.
"Ja, und weiter?" Annelore Mitterlehner-Weißenfeldt gab sich nicht mit Halbsätzen zufrieden, sie wollte ausformulierte Erzählungen haben, die Seminarzeit musste schließlich mit Inhalten gefüllt werden. Ich aber wollte für meinen bereits im Vorhinein am Eingang entrichteten Teilnehmerbetrag von sage und schreibe 159,98 €uro nichts anderes, als das im Zeitungsartikel versprochene Rezept der phantasievollen Schmerzbeseitigung.
Und genau das verkündete ich nun mit geschwollenem Kamm laut und vernehmlich in die Runde, was der Frau Diplom-Psychologin mit der ominösen
Zusatzausbildung in Gestalttherapie ihrerseits eine gewisse Röte ins Gesicht trieb. Sie versuchte die unangenehme Situation zu retten, indem sie mit einem aufreizend mitfühlenden Unterton in ihrer Stimme säuselte:
"Ach, sie Armer, warum so aggressiv? Der Schmerz hat sie wohl schon mürbe gemacht."
"Nein", widersprach ich vehement "nicht
der Schmerz, SIE! Ganz allein sie und ihre Verzögerungstaktik! Wenn sie jetzt nicht unverzüglich zur Sache kommen und mit ihrem Phantasierezept herausrücken, verlange ich mein Geld zurück".
"Aber nicht doch", versuchte sie mich zu
beschwichtigen. "So schnell geht das nicht. Erst muss man sich doch der Materie annähern. Sich bekannt machen. Eine Beziehung aufbauen. Der Schmerz will Anerkennung."
"Häh?"
"Ja, man muss ihm eine Farbe geben. Oder eine Gestalt. Stellen sie sich einfach mal vor, ihr Schmerz wäre ein Tier. Was für ein Tier wäre dann ihr Schmerz?"
Das war mir zu blöd. Schluss jetzt! Mit lautem Gepolter fiel mein Stuhl nach hinten, als ich mit einem Ruck aufstand. Ich forderte mein Geld zurück, jetzt sofort und zwar auf Heller und Pfennig. Aber die verdutzte Referentin schüttelte
unter lautem Gemurmel der Sitzengebliebenen ihren mit Psychoquark gesteuerten Kopf.
"Hyäne!" stieß ich wutentbrannt hervor und stapfte zur Tür.
"Hyäne - das ist ein sehr gutes Synonym für den Schmerz", hörte ich sie mir noch nachrufen, als ich schon auf der Treppe war und dem Ausgang zueilte. Und zu Hause angekommen, saß das Vieh schon in meinem Vorgarten!
Ja, richtig gehört! Eine ausgewachsene Tüpfelhyäne unbekannten Geschlechts trippelte auf Zehenspitzen um meine Mülltonne herum und drängelte zur
Türschwelle, als ich - wie von CIA, NSA, Mossad..., kurz gesagt sämtlichen
Geheimdiensten dieses Erdenballs gehetzt - den Haustürschlüssel umdrehte. Es gelang mir, ohne das abgrundtief hässliche Tier in das schützende Innere meines Hauses zu gelangen. Aber nun hatte ich einen Stalker, den ich nicht mehr los wurde.
Tagelang streunte sie fortan im Garten herum, machte sich an den Rabatten mit meinen Frühlingsblumen neben der Einfahrt zu schaffen und lauerte auf eine Gelegenheit, meinen Schutzwall zu knacken. Ich durchsuchte derweil das Netz und las alles, was über Hyänen im
allgemeinen und Tüpfelhyänen im Besonderen zu finden war. Mann, ich kann euch sagen, haben die einen miesen Leumund! Dumm, grausam, verschlagen..
Ein Image, das fast schon an Trump`sche
Ausmaße heran reicht. Aber was wollte sie von mir? Wer hatte sie auf mich angesetzt? Sollte sie mir das Fürchten lehren oder was? Mehr und mehr nutzte sie meine arglosen Momente. Wenn ich ganz entspannt bei einer Tasse Cappuccino an meinem Küchentisch saß, gedankenverloren die Stille genießend, dann tauchte sie plötzlich unvermittelt zwischen den zurückgebundenen Vorhängen am Fenster auf, bleckte ihre Zunge heraus und machte ein fürchterlich
knarrendes Geräusch "wuup, wuup" oder so ähnlich.
"Huch - verschwinde. Hau ab, du...du Harry du!", schrie ich dann hinaus und wedelte energisch mit den Armen. Dabei bemerkte ich mit freudigem Erstaunen, dass mir dies fast ohne nennenswerten Schulterschmerz
möglich war. Am Nachmittag des vierten Tages war Harry, die Hyäne dann tatsächlich verschwunden. Es fiel mir schwer, mir einzugestehen, dass mir mit ihrer Abwesenheit etwas fehlte und ich mich dabei ertappte, alle zehn Minuten
suchend aus dem Fenster zu schauen. Zum Abend hin war dann auch mein Schulterschmerz - intensiver als je zuvor
- wieder da. So langsam dämmerte mir der Zusammenhang. Nein, wie Schuppen fiel es von meinen Augen. Vielleicht hatte ich Frau Annelore Mitterlehner-Weißenfeldt Unrecht getan. Vielleicht verstand sie tatsächlich ihr Handwerk ähm ihr...Dingsda, ihr... ihre Wissenschaft von der Gestalttherapie.
Die Hyäne verkörperte meinen Schmerz, vielleicht ernährte sie sich auch davon. Wie auch immer - ich wollte meine
stinkende, verschlagen dreinblickende Hyäne zurück, die meine ganze Aufmerksamkeit an sich bindet und diesen grässlichen Dauerschmerz in den Hintergrund geraten lässt.
Tüpfelharry ließ mich drei Tage zappeln, am vierten Tag tauchte er wieder grinsend und bleckend am Küchenfenster auf. Ich bin schmerzbefreit, habe aber jede Menge zu tun, meinem kleinen Schmerzfresserchen Harry ein paar Manieren beizubringen. Wir sind jetzt Partner, unser Geschäftsmodell bringt jede Menge Kohle ein.
"Mietest du Tüpfelharry für dein Haus,
macht deinem Schmerz er den Garaus!"
Sonderpreis: 1 Std./159,98 €