Das Grauen erwach
Das flackernde Licht erhellte die gesprungenen, und teilweise fehlende Fliesen in der Sanitärraum. Geisterhafte Schatten tanzten auf den Wänden. Ein kalter Schauder krabbelte Rebecca den Rücken hinauf. Es war kein Ort, an dem sie sich je wohl fühlen würde. Ironischerweise war dies aber ein Ort, an dem sich erholen und wieder gesund werden sollte. Das Sanatorium wurde vor einigen Jahren geschlossen, weil einige Patienten hier den Tod gefunden hatten. Einige sagten, sie seien wahnsinnig geworden, andere behaupten, die Pfleger hätten sie abgemurkst. Was davon
stimmte, konnte Rebecca nicht mit Sicherheit sagen. Das eine musste nicht zwangsläufig das andere ausschließen.
Blödsinn, rief sich Rebecca in den Sinn, das Sanatorium wurde wegen mangelnden Geldes eingestellt. Zumindest hoffte sie es.
Mit ihrer Digitalkamera lief sie durch die verlassene und zerfallene Heilanstalt, filmte alles, was ihr vor die Linse kam. Auch wenn es hier keine Geister vorfinden würde, so hätte sie zumindest Filmmaterial für ihre Webseite. Die unheimliche Stimmung war hervorragend. Fast schon zu hervorragend. Der abblätternde Putz der Korridore, die aufeinander gestapelten
Bettgestelle aus Eisen. Hier und da hatte sie sogar Einschlaglöcher gefunden. Es erweckte beinahe den Eindruck, als gab es hier eine Revolte der Patienten.
Sie war kein Mensch, der man leicht Angst einjagen konnte. Aber dieser Ort hatte etwas an sich, dass das Adrenalin durch ihre Adern jagte. Wahrscheinlich waren es nur die Horrorgeschichten, die um das Sanatorium rankten, gepaart mit der auffälligen Abwesenheit jeglicher Geräusche. Nur ihre Schritte hallten laut durch den Sanitärraum. Oder es kam ihr nur so laut vor?
Nicht zum ersten mal an diesem Abend fragte sie sich, warum sie eigentlich mutterseelenallein hier war. Der einzige
plausible Grund, denn es gab, war der Vorabend, an dem sie von einem Vagabund gehört hatte, dass es hier spuken sollte, woraufhin sie und ihre Freunde aus Lust uns Suff eine Wette vereinbarten, dass derjenige der Sieger war, der am längsten allein hier drinnen verbringen konnte. Sollte es zwei oder mehr geben, die die ganze Nacht durchhielten, sollte es von vorne anfangen, bis nur noch ein einziger übrig blieb. Heute war sie an der Reihe. Vanessa hatte gestern keine halbe Stunde ausgehalten, und ist mit nassen Augen wieder heraus gerannt, weil sie geglaubt hatte, es sei jemand hinter ihr her
gewesen.
Hatte Rebecca was gehört?
Sicherlich waren es die alten Leitungen, die sich anhörten wie ein Stöhnen. Dieser Gedanke konnte sie aber nicht wirklich beruhigen. Aus dem Augenwinkel glaubte sie einen menschlichen Schatten gesehen zu haben. Als sie den Blick darauf richtete war der Schatten verschwunden.
»Bleib ruhig, Becky. hier sind überall Schatten, die kommen und gehen. Es ist ganz normal«, versuchte sie sich einzureden. Obwohl sie vor sich her flüsterte, erschien ihr die eigene Stimme verdammt laut.
Sie richtete die Kamera dorthin, wo sie
zuvor den Schatten gesehen glaubte. So leise wie möglich ging sie zu dieser Stelle. Obwohl die Angst in ihr größer wurde, wollte sie sich doch davon überzeugen, dass ihre Sinne ihr einen Streich spielten. Nur so konnte sie ihre Angst bändigen.
Kaum war sie um die Ecke gegangen, war in dem langen, kaum erleuchteten Gang nichts und niemand zu sehen. Ein Film aus Angstschweiß bildete sich auf ihrer Stirn.
»Es ist niemand hier.«
Einige Meter vor ihr, ungefähr in der Mitte des Ganges flackerte eine Deckenlampe auf, und blieb für einige Augenblicke erleuchtet. Genau im Schein
des Lichtkegels war deutlich eine menschliche Silhouette zu sehen. Vor Schreck fiel Rebecca rückwärts auf den harten Boden. Ihre Kamera zerbrach dabei. Sie krabbelte rückwärts in den Sanitärraum, bis die Wand sie aufhielt. Als das Licht wieder zu flackern begann, verschwand die Silhouette spurlos.
Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, der Atem war flach. Der ganze Körper zitterte. Sie brauchte einen Moment, um wieder halbwegs zu Sinnen zu kommen. Der einzige Gedanke, zu dem sie noch fähig war; sie musste hier raus. Sofort!!
Sie sprang auf, lief so schnell ihre weichen Knie es zuließen den Weg zurück, den sie gekommen war. Kaum
hatte sie den anderen Korridor erreicht, aus dem sie kam, merkte sie, dass sie nicht mehr genau wusste, wo sie hin musste. Blickte nach rechts, nach links und geradeaus.
Verflucht, wo war sie bloß hergekommen? Der Gedanke, dass ein Psychopath hinter ihr her war, spornte ihr Gedächtnis nicht gerade an. Intuitiv nahm sie den Weg nach rechts. An den Türen zu ihrer Rechten standen in großen Lettern Namen, die ihr unheimlich vertraut vorkamen. Rebecca selbst erkannte wie skurril es war an Namen wie Krüger, Myers und Voorhees zu denken, wenn man von einem vermutlich Geistesgestörten verfolgt
wurde.
Am Ende des Korridors war eine Sackgasse. Verdammt! Jetzt musste sie den ganzen Weg zurücklaufen. Aber wenn sie hier blieb, war es aus mit ihr. Ihre ohnehin weiche Knie fingen auch noch an Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Aber sie durfte nicht Halt machen. Sie schoss durch die Kreuzung und glaubte für einen Augenblick die Silhouette im Augenwinkel gesehen zu haben, was den Zufuhr von Adrenalin erhöhte.
Endlich. Sie erreichte die Empfangshalle. Jetzt nichts wie raus aus dem verfluchten Sanatorium. Mit erregter Vorfreude dem Grauen hinter sich zu lassen eilte sie zu
der doppelflügeligen Eingangstür und drückte dagegen. Ihr Herz blieb stehen, als die Tür sich nicht regte. Als sie sich wieder gefasst hatte, stemmte sie sich mit ihrem gesamten Gewicht dagegen, rammte mit der Schulter, und zerrte an der verschlossenen Tür. Verzweiflung breitete sich in ihr aus, wie ein Geschwür. Kraftlos brach sie schließlich zusammen.
Die Gestalt näherte sich ihr mit gemächlichen Schritten. So sehr sich Rebecca bemühte, sie erkannte keinen Fluchtweg. Hinter ihr die verschlossene Tür, vor ihr der Psychopath. Zu ihrer linken Seite der Empfang, in der Höhe des Psychopathen und zu ihrer rechten
eine Wand.
Resignierend blickte sie zum Fremden hinauf. Die Silhouette zeichnete sich ein großer, kräftig gebauter Mann ab, der in Krankenhauskleidung steckte. Sein vernarbtes Gesicht war gebrannt von innerem Pein. Die Stumpfe, die einst seine Finger waren, griffen nach ihr, umfassten ihren Hals, hob sie in die Luft.
»Mörderin!«
Die tonlose Stimme erschreckte Rebecca genauso sehr, wie das Wissen darüber, dass sie gleich das Zeitliche segnen würde.