Dicke Frauen werfen ihre Schatten voraus
Sie lackiert eilig ihre Fingernägel und hofft bei sich, der Lack würde rasch trocknen, ehe er irgendwo bei einer falschen Bewegung anbabbt.
Er zieht seinen Scheitel nach, doch die lange Strähne flattert heute über seinem kahlen Haupt hin und her, sodass er gerade nicht weiß, was er damit anstellen soll.
Ein wiederholter Blick aus dem Fenster. Sie strahlt. Denn der Himmel ist schon den ganzen Morgen azurblau und von Wolken gibt es keine Spur.
Mit vorgeschobener Unterlippe lässt er seine Strähne tanzen. Ein absolut lächerlicher Anblick, so denkt er bei sich. Doch noch zaudert er.
Ihr buntes Sommerkleid deckt nahezu das ganze Bett ab. So wie es ausgebreitet dort liegt, würde sie gerne abends am selben Orte dort liegen. Verführerisch und frohlockend.
Mit rasendem Herzklopfen rührt er den Rasierschaum an. Und weil es ein bedeutsamer Schritt für ihn ist, quillt der Becher bereits über und Schaumnasen patschen auf die Fliesen.
Beherzt greift sie zur Zahnbürste und schrubbt behutsam den Grünspan von den Stegplättchen ihrer Brille. Denn eines weiß sie ganz gewiss: Der erste Eindruck zählt!
Er setzt das Messer an!
Weil sie es gut machen will, rutscht ihr das seifige Mistding aus den Händen.
Die letzte Strähne landet im Waschbecken.
Er traut sich kaum in den Spiegel zu sehen.
Gläser hopsen über die Fliesen. Eines zerspringt, als es gegen die harte Kante der Badewanne kracht. Sieben Dioptrien, die ihr sehr fehlen werden!
Er richtet den Blick auf sein Spiegelbild. Ganz vorsichtig. Wird er sich wiedererkennen?
Mühsam tastet sie den Fliesenboden nach den Resten ihrer Brille ab. Doch es ist zwecklos, nur ein Glas kann sie finden und viel Zeit zum Suchen hat sie nicht mehr. Deswegen erhebt sie sich und kümmert sich lieber um ihr Make Up.
Was er sieht, ist gar nicht schlecht. Sogar ein wenig verjüngt betrachtet er sein Spiegelbild und streicht sich erstaunt über diese ungewohnt glatte Glatze.
Mit zittriger Hand versucht sie den Mascara aufzutragen. Das hat sie schon lange nicht
mehr getan, was sich in diesem Augenblick zu rächen scheint.
Er schlüpft in das etwas fadenscheinige Oberhemd, welches er sich schon vor drei Tagen für diesen Zweck zurechtgelegt hatte. Nun ist er froh darüber, denn für das Aufstellen des Bügelbrettes wäre die Zeit tatsächlich knapp geworden.
Sie hält die Uhr ganz dicht vor ihre Augen und erschrickt. Nun muss sie aber wirklich bald los!
Zum Glück haben sie sich nicht allzu weit von ihrem Heim entfernt verabredet. Sie muss sich nur zur nächsten Straßenecke tasten.
Er hat es nicht weit. Zum Glück! Er braucht nur beim Bäcker rechts abbiegen und schon ist er dort. Das ist ein Weg von wenigen Minuten.
Sie schlüpft in ihr ausgebreitetes Blütenkleid und stellt mit Entsetzen fest, dass sie darin sitzt wie eine Larve in ihrem Kokon!
Der seitliche Reißverschluss lässt sich nur mit ganz viel Baucheinziehen schließen.
Er zieht die Wohnungstür zu und schlurft, in Shorts und Oberhemd, vor sich hinsingend zum Biergarten.
Vorsichtig atmet sie aus. Ihr Spiegelbild kann sie nur schwer erahnen. Doch möchte sie
nicht über die Maßen zu spät kommen und deswegen greift sie noch fix in den geblümelten Kasten mit dem Glitzerschmuck, steckt sich die Brillies in die Ohrlöcher, nimmt die Handtasche und verlässt die Wohnung.
Keck kickt er einen Tannenzapfen quer über die Straße und beobachtet, wie er im gegenüberliegenden Rinnstein landet.
Sie übersieht die erste Stufe der kleinen Treppe vor ihrem Wohnhaus. Hätte sie doch nach dem Geländer gegriffen!
Ein riesiger Schatten legt sich über ihn. Ein markerschütterndes „Uuuuaaaaääähhhh“ holt ihn in das Hier und Jetzt. Selbstlos will er die
große Frau auffangen. Doch er ist zu schmächtig.
Sie fällt weich auf den kleinen Körper eines Passanten. Emsig rollt sie von ihm herunter und versucht ihr Kleid zu retten. Im Schreck hatte sie ganz vergessen den Bauch einzuziehen und dass sollte Spuren hinterlassen!
„Aber Frau Hubert, wo ist denn ihre Brille?“, fragt der schmächtige kleine Mann.
Frau Hubert sackt auf die Stufen. Muss erstmal den Schreck verarbeiten. Dann sieht sie ihr Gegenüber an. Ja, sie durchbohrt ihn geradezu mit ihrem Blick.
Doch was sie sieht, kann sie nicht zuordnen.
„Ich bin es bloß, der Friesinger.“
Frau Hubert tastet ungläubig über die glatte Glatze, „Herr Friesinger? Aber …!“
„Die Geschichte muss ich Ihnen erzählen! Aber ein anderes Mal! Denn ich habe eine Verabredung!“ Mit diesen Worten schwingt er sich auf und lässt sie auf den Stufen zurück.
Sie denkt bei sich, ihre Verabredung kann sie wohl in den Wind schreiben und zieht sich am Treppengeländer hoch. Mühsam und ein bisschen verheult kehrt sie in ihre Wohnung zurück.
Mit Handy und Lupe schreibt sie eine Nachricht: „Kann leider nicht kommen, der Handwerker hat sich angemeldet … und die Leute von der S-Bahn streiken … ! Und alles ist schrecklich und … ach … ich bin die Treppe runtergefallen … mein Kleid ist kaputt … jetzt sitze ich in der Wohnung und … heule“
Sein Tablet klopft. Eine Nachricht! Von ihr?!
Er liest. Er lächelt. Er zahlt seine Cola.
Er macht sich auf den Weg. Er klingelt.
Er umarmt die verheulte Frau Hubert, verschafft sich Eintritt.
Und dann …
Erzählt er seine Geschichte.