Vornüber gebeugt stand die junge Frau in den frühen Morgenstunden an dem alten Küchentisch. Er war aus Buchenholz mit einer wunderschönen Maserung. Mittig lag eine PERLENKETTE. Was den Anschein eines malerischen Stilllebens hatte, war der Anfang einer Geburt. Elisabeth stand breitbeinig vor dem hölzernen Prunkstück, die Hände abgestützt und hechelte. Schon wieder eine Wehe, nein, noch konnte sie es aushalten. Vor zwei Tagen war sie schon im Krankenhaus gewesen, man hatte sie wieder nach Hause geschickt. Fehlalarm, das sollte ihr nicht ein zweites Mal passieren. In der offenen Tür stand Barbara, ihre Schwiegermutter und sagte:
"Mädel, was ist, gehts los?" Die kräftige Dame mittleren Alters schaute auf ihre goldene Armbanduhr und zählte die Minuten. . Behutsam griff sie ihrer Schwiegertochter unter die Arme, führte sie langsam hinaus zu dem alten Jeep, der im Hof vor der Haustür stand. Sie half der werdenden Mutter ins Auto und murmelte: "Wir haben noch etliche Kilometer vor uns." Sie schloss die Wagentür und setzte sich ans Steuer, nicht ohne sich noch einmal zu vergewissern, ob auch nichts vergessen wurde. Der alte Motor schnurrte wie ein Kätzchen. Die Fahrt ging am FLUSS entlang, vorbei an Wiesen und Auen. Jetzt, im Spätsommer, wenn die
HERBSTZEITLOSEN blühten, sah es hier aus, als sei von Zauberhand ein riesiger Teppich ausgebreitet worden. Die ganze Landschaft war in ein helles Lila getaucht. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in dem fließendem Wasser, welches sich goldfarben, seinen Weg durch die unendlich wirkende Weite bahnte. Bis auf ein leichtes Stöhnen der jungen Frau war es sehr ruhig während der Fahrt. Mit sorgenvollem Blick steuerte Barbara den Wagen sehr sicher durch die zum Teil unwegsame Landschaft. Wo Robert jetzt sein mochte, schoss es ihr durch den Kopf. Das war wohl hier die GRETCHENFRAGE. Robert war ihr einziges Kind. Vor knapp
acht Monaten hatte er sich mit einem fadenscheinigen ALIBI ( er wolle Elisabeth überraschen) aus dem Staub gemacht. Nicht ohne seiner Mutter das SIEGEL der Verschwiegenheit abzuverlangen, welches ihr nicht schwer gefallen war. Sie gönnte den jungen Leuten ihr Glück und freute sich mit ihnen über das werdende Leben. Zurück blieb die kostbare Perlenkette, die all die Zeit auf dem Tisch lag als ein Zeichen unendlicher Liebe. Ein kurzer lauter Aufschrei ließ Barbara wie durch eine NEBELWAND in die Wirklichkeit zurückkehren. Die StadtGRENZE war erreicht. Nur noch wenige hundert Meter bis zur Klinik. Ein Blick zu Elisabeth
verriet, jeden Augenblick konnte es soweit sein. Sie musste das WAGNIS eingehen und trat auf das Gaspedal. Mit quietschenden Reifen hielt sie in wenigen Minuten vor der Notaufnahme. Stocksteif, regungslos, wie von einem SCHIERLINGSBECHER betäubt, saß die werdende Großmutter in ihrem alten Jeep. Eilig kamen Arzt und Sanitäter mit einer Trage. Die Geburt war in vollem Gange, so dass ein kleiner kräftiger Junge, noch vor dem Krankenhausgebäude, mit lautem Geschrei das Licht der Welt erblickte. Wie versteinert saß Barbara in ihrem Auto. In ihrem Schockzustand hatte sie nichts von dem, was um sie herum
passierte, mitbekommen. Erst als ein junger Arzt die Türe ihres Wagens öffnete, schaute sie verwirrt in dessen Gesicht. "Da wollen wir der frisch gebackenen Großmutter mal auf die Sprünge helfen," sagte er freundlich und reichte ihr die Hand. Noch sichtlich benommen stieg sie aus, machte einem Sanitäter Platz, der den Jeep auf einen nahegelegenen Parkplatz fuhr. Nach einer kleinen Aufbauspritze und einem Glas Wasser war Barbara schon wieder fast stabil. Der nette Mediziner begleitete sie noch bis in die Cafeteria, verabschiedete sich mit den Worten: "Jetzt wird erst einmal etwas gegessen. Bis dahin ist die junge Frau auf ihrem Zimmer und wir
sehen uns dann in der Nummer 213. Sollten Sie eine Tasche mit ihren Sachen dabei haben, bringen sie diese bitte mit." Barbara bestellte ein Tagesmenü, bezahlte, nahm ihr Tablett und suchte sich einen Fensterplatz. Während sie speiste, waren ihre Gedanken bei Robert. Sein Auto, den alten Jeep, hatte man am Flughafen in Frankfurt gefunden. Robert hatte schon eine Woche vorher einen Flug nach London gebucht. Von dort aus verlor sich jegliche Spur. Wie konnte ein Mensch sich so in Luft auflösen? Unfassbar, kein Lebenszeichen, nichts. Alles Suchen, alle Aufrufe durch Funk und Fernsehen waren vergeblich gewesen. Ihr einziger Sohn war und blieb
unauffindbar. Tiefe Sorgen-falten hatten sich zwischen Barbaras Augenbrauen eingenistet, was dem Gesicht der sonst sehr jung gebliebenen Dame eine gewisse Reife verlieh. Elisabeth hatte wochenlang geweint, sprach seitdem kaum noch. Es hatte den Anschein, als lebe sie nur für ihr ungeborenes Kind. Nein, sie traf ganz sicher keine Schuld. Sie war bildhübsch, gebildet und hatte eine sportliche Figur. Wie sie ihrem Robert bei jeder Gelegenheit bewundernde Blicke zugeworfen hatte! Ihre Augen sprühten nur so vor Leidenschaft, die sie ihrem Mann entgegenbrachte. Nein, was hatte
ihr Fleisch und Blut dieser jungen Frau angetan. Das konnte er nie wieder gut machen. Barbara sah sich in der Pflicht, alles Erdenkliche zu unternehmen, um Mutter und Kind eine glückliche Zukunft zu ermöglichen. Sie ließ das halb-leere Tablett stehen und bewegte sich zum Ausgang. An der Pforte ließ sie sich den Autoschlüssel aushändigen und holte die Reisetasche, um die junge Mutter aufzusuchen. Nach einem Anklopfen, vernahm man aus dem geschlossenem Zimmer eine zarte Stimme: "Herein!" Barbara öffnete die Tür und traute ihren Augen nicht. Da lag ihre Schwiegertochter mit dem Baby im Arm und strahlte vor Glück. Die Augen
funkelten, wie sie es lange nicht gesehen hatte. Ein Schauer von Rührung durchfuhr ihren Körper. Die von harter Arbeit gezeichnete Hand streichelte zärtlich den Kopf von Elisabeth mit den Worten: "Mein Mädchen, jetzt hast du es geschafft." "Ja Mutter, möchtest du gar nicht wissen, was es ist?" Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte sie: "Es ist ein Junge, Paul soll er heißen, wie mein verstorbener Vater. Ist es dir recht?" "Aber sicher, mein Kind, alles ist mir recht, wenn es dich glücklich macht." Die beiden Frauen hielten sich die Hände, schauten sich an und es begann eine glückliche
Zeit. Mittlerweile war fast ein Jahr vergangen. Paul startete seine ersten Gehversuche, die schon etliche Tränen gekostet hatten. Was sich anfangs wie O Mama anhörte entpuppte sich als Omama. Damit waren beide Frauen gemeint, was ihnen ein herzliches Lachen entlockte. Er war ein richtiger Sonnenschein, er brachte Leben in den vorher so tristen Alltag. Überhaupt hatte sich vieles verändert. Die Räume hatten einen neuen hellen Anstrich bekommen, eine Spielecke war eingerichtet, hier wurde gelebt. Über der Haustür hatte die junge Mutter eine Gravur angebracht: "There´s no place
like home". Der Film "Das zauberhafte Land" hatte bei ihr einen tiefen Eindruck hinterlassen, so dass sie dieses Zitat von Judy Garland passend fand. Nur die Perlenkette, die lag immer noch auf dem Küchentisch und brachte am Abend sehnsuchtsvolle, manchmal sogar hässliche Gedanken in die sonst so friedliche Gemeinschaft. Am Abend vor Pauls Geburtstag roch es im Haus nach frisch gebackenem Kuchen. Elisabeth war auf dem Weg in den Keller, um eine Flasche Wein zu holen. Da klingelte es. Barbara öffnete die Haustür und vor ihr stand Robert. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, doch in ihrem Blick war eisige Kälte. Alle Enttäuschung kam in ihr
hoch, ihr stockte der Atem, kein Wort kam über ihre Lippen. Robert sah nicht nur aus wie ein Obdachloser, allem Anschein nach war er einer. Sein Blick glich dem eines reumütigen Hundes. Sie schob ihren Sohn sachte, aber bestimmt vor die Haustür. Ging mit hinaus, zog die Tür hinter sich zu und fragte mit monotoner Stimme: "Was willst du hier?" Er schaute sie nur an, versuchte sie zu umarmen. In diesem Moment brach er weinend vor ihr zusammen. Fröhlich, ein Lied summend, kam Elisabeth aus dem Keller. "Mutter, es hat geklingelt, haben wir Besuch bekommen?", fragte sie mit freundlicher, warmer Stimme. Da sie keine Antwort erhielt, stellte sie die
Flasche Wein auf den Esstisch. Sie ging zur Haustür, öffnete diese und was sie jetzt sah, berührte sie zutiefst. Zu Füßen ihrer Schwiegermutter lag ein Häufchen Lumpen, in denen sich ein Mensch vermuten ließ. Spontan griff Elisabeth nach dessen Arm und fühlte den Puls. Lief zum Telefon, rief den Notdienst, eilte wieder zurück, wo sie das gleiche Bild erwartete, wie sie es verlassen hatte. Ein Kissen, welches sie sich auf dem Weg nach draußen mitnahm, legte sie dem Fremden unter den Kopf. Sein langes, ungepflegtes Haar verdeckte das unrasierte Gesicht. Barbara stand, einer Statue gleich, wie angewurzelt an der Haustür.. Elisabeth legte behutsam einen
Arm um ihre Schulter und führte sie ins Haus, drückte sie sanft in einen Sessel und sagte: "Mutter, ich bin gleich wieder da, draußen höre ich schon die Sirene vom Krankenwagen." Sie eilte vor die Tür, wo Notarzt und Sanitäter sich schon mit dem Fremden beschäftigten. Nachdem sie die Frage des Arztes, ob sie den Mann kenne, verneint hatte, fuhren diese mit ihm davon. Im Haus saß eine Mutter, die bittere Tränen weinte. Tränen, die ihre kranke Seele erlösten.
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