Schackeline und die Anderen
Meine Geschichte handelt von einem kleinen Mädchen. Ein Mädchen namens Jaqueline. Doch da aber auch alle(!) Schackeline zu ihr sagten, (und zwar genau so, wie es hier geschrieben steht!) wollen auch wir sie so nennen.
Schackeline war klein und mager, meist etwas blass um die Nase, aber das soll uns nicht stören. Schackeline konnte nämlich etwas ganz besonderes, und davon möchte ich heute erzählen.
Es war ein herrlicher Morgen. Schackeline reckte und streckte sich in ihrem weichen Nest aus Kissen und Decken. Und langsam, ganz langsam blinzelte sie ein wenig, bis sie erkannte, dass es die Sonne war, die sie genau im Gesicht kitzelte. Und weil sie bereits wusste, dass man von solchen Sonnenstrahlen auf der Nasenspitze niesen muss, rieb sie sich kräftig ihr Gesichtchen.
Und langsam, ja, ganz langsam wachten auch ihre Ohren auf. Sie hörte sehr leise die tapsigen Schritte ihrer lieben Oma Lolle. Sie hörte geflüsterte Worte. Oma Lolle sprach gern und ausführlich mit sich selbst und manchmal stritt sie sogar! Und die Kleine hörte auch das glockenhelle Klappern von Tassen.
Der einladende Duft von frischen Brötchen und leckerem Früchtetee stahl sich durch die schmale Ritze unter der Tür hindurch. Nun gab es kein Halten mehr! Schackeline schwang ihre Beine aus dem Bett, schlüpfte in den etwas zu großen, aber sehr warmen Morgenmantel, und eilte in die Küche zu ihrer Oma Lolle.
Diese stellte eilig die Tassen ab und breitete die Arme für ihre Enkelin aus. Sie beide lachten sich ein „guten Morgen, meine Liebe“ zu, und dann erzählte Schackeline ihrer Oma aufgeregt, wie ihre Ohren und auch ihre Nase aufgewacht waren.
Oma Lolle besah sich streng die nackten Füßchen des Mädchens und trug ihr auf, sich sofort warme Socken überzuziehen.
Schließlich war noch lange nicht Sommer und leider zog es immer ein wenig durch die undichten Türen in dem alten, dennoch sehr hübschen, wenn auch etwas windschiefen Haus.
Und Schackeline besaß eine Menge hübscher Strümpfe. Oma Lolle liebte das Stricken. Sie liebte es, die weiche Wolle durch ihre Finger gleiten zu lassen. Und am allerliebsten strickte sie Socken für Schackeline. Weil! Die waren sehr schnell fertig. Nicht mal eine Kerze brannte herunter und schon steckte ein neues Paar Socken auf den kleinen Füßchen von Schackeline. In den schönsten Mustern und den buntesten Farben bestrumpfte sie ihre Enkelin.
So flitzte Schackeline eilig zur alten Holztruhe,
in der ein paar Spielsachen, jede Menge Bommeln, die Schackeline übrigens selbst aus den Wollresten hergestellt hatte, und umso mehr Sockenpaare aufbewahrt wurden. An diesem Tag griff sie sich die kuscheligen Blauen. Also, die mit den roten Fußspitzen und zog sie schnell über. Strich kurz mit den Fingern über eine besonders weiche Bommel und schloss die Kiste dann wieder.
In den Tassen dampfte bereits der Tee, als es mit einem mal klingelte. Mit großen Augen sahen sich die beiden an. Dann erhob sich Oma Lolle und schlurfte in ihren warmen Schluffen zur Haustür. Schackeline, ein bisschen neugierig, hüpfte hinterher.
Zweimal musste der Schlüssel im Schloss gedreht werden, ehe Oma Lolle die Tür öffnen
konnte.
Da standen zwei Gestalten. Eine Frau und ein Mädchen, das ganz bestimmt nicht einen Tag älter war, als Schackeline selbst. Die beiden waren armselig gekleidet und auch ein bisschen schmutzig. Die Frau hielt ein Schild in der Hand.
Schackeline sah ihre Oma fragend an. Und Oma Lolle las vor, was da auf der abgegriffenen Pappe stand. „Bitte helfen Sie uns, wir haben Hunger.“
Schackeline sah auf die blanken Füße des Mädchens. Und auch die Frau hatte nur Sandalen an, so klein, dass ihre Zehen auf dem kalten Boden ruhten.
Schackeline fragte ihre Oma, was das für Leute seien. Oma Lolle sah ihre Enkelin
traurig an.
„Das sind Zigeuner“, sagte sie dann. Und auch, „das darf man aber heute nicht mehr sagen. Heute nennt man sie Sinti und Roma. Sie haben kein Zuhause, weißt du. Niemand möchte sie so richtig haben.“
„Oh, das ist schlimm. Was können wir tun?“, fragend sah sie zu ihrer Oma hoch und „Warum guckst du denn so traurig?“, denn ihr entging nicht, dass Oma Lolle feuchte Augen bekommen hatte.
Ja warum?
Oma Lolle erinnerte sich daran, wie es war, als sie selbst barfuß hierhergekommen war. Als sie vor dem Hass und den fliegenden Bomben fliehen mussten. Damals war sie selbst noch ein Kind gewesen, nicht viel älter,
als das verlotterte Mädchen auf der Türschwelle und auch nicht viel älter als ihre kleine Schackeline.
Unbeholfen stand Oma Lolle in der Tür und schaute in diese hungrigen Augen.
Schackeline sah zu ihrer Oma auf, „wir können doch alle zusammen frühstücken. Dann haben sie keinen Hunger mehr. Was meinst du, Oma?“
Oma Lolle sammelte sich und meinte, „das wäre zumindest ein Anfang“, und öffnete weit die Tür, um die Besucher einzulassen.
Schackeline hüpfte aufgeregt voraus. Sie eilte zu ihrer Truhe und zog ein Paar warme, gelbe Socken heraus. Die würden dem Mädchen bestimmt gefallen, so dachte sich die Kleine. Sie streckte sie dem Mädchen entgegen.
Und was geschah dann?
Zuerst lächelte das kleine Zigeunermädchen ein bisschen zaghaft.
Schackeline zog die Strümpfe auseinander und hielt sie dem Mädchen vor die Nase. Und dann … zog das Mädchen die Strümpfe an. Die passten ganz wunderbar und wärmten die kleinen Kinderfüßchen noch wunderbarer. Nun lachte das Mädchen richtig und ließ alle Befangenheitsknoten einfach so aufplatzen. Vom Kinderlachen angesteckt standen die Vier im Flur und lachten sich erstmal so richtig an.
Es war die unbändige Freude, die sie alle so laut lachen ließ. Die Erleichterung darüber, dass die anderen ja einfach nur Menschen waren. Einfach nur Menschen! Es war das voreingenommene Gefühl, dass von ihnen
abfiel und was übrig blieb, war die pure Fröhlichkeit.
So setzten sie sich an den Tisch. Oma Lolle goss heißen Tee ein und legte noch zwei Brettchen auf. Gemeinsam schmeckten die Brötchen noch leckerer, als sonst schon. Und auch ohne Worte, aber dafür mit Händen und Füßen, unterhielten sich die Vier auf ganz herzerfrischende Art und Weise. Ja, vor lauter Freude schienen sogar die kleinen Punkte auf den roten Tassen zu tanzen!
Das war die Geschichte von Schackeline, die etwas ganz besonderes konnte. Sie konnte teilen und Glück verteilen und vor allem Freude sähen. Und mit Händen und Füßen reden, ja, das konnte sie ganz besonders .