Der Sommelier
Es war das exclusivste Hotel der Stadt, gehörte zur Kategorie der "kleinen, feinen Hotels" weltweit. In einem weiträumigen ehemaligen Schlosspark gelegen und mit einem schmiedeeisernen Zaun von den angrenzenden Arealen abgegrenzt, bot es fernab vom hektischen Treiben des Stadtzentrums den Gästen Ruhe und Entspannung auf höchstem Niveau. Die Gäste, die hier eincheckten, gehörten nicht zu denen, die ihren Wohlstand zur Schau stellen wollten. Im Gegenteil! Sie suchten die Abgeschiedenheit um einmal zu sich selbst zu finden. In diesem Ambiente von Luxus gepaart mit Gediegenheit arbeitete
Constantin seit nunmehr drei Jahren. Als Sommelier. Seine Ausbildung hatte er nach den italienischen Zertifizierungsmaßstäben in Südtirol als einer der Besten abgeschlossen. Doch das genügte ihm nicht. Er wollte mehr. Nicht einer der Besten, sondern der Beste sein. Das entsprang nicht einem übersteigerten Selbstwertgefühl, zeugte vielmehr von seiner Liebe zu diesem Beruf und ... zum Wein. Also ging er nach London und legte nach einem mehrjährigen Studium die Prüfung zum Master of Wine ab. Endlich zufrieden mit dem Erreichten und ausgestattet mit einem Gaumen, der die Region bestimmen konnte, in dem die Traube gepflückt wurde, bereiste er die Welt und stellte sein Wissen in den besten Hotels
unter Beweis. Er trug die Verantwortung für einen nicht unerheblichen Kapitalbestandswert der gelagerten Weine und genoss zu Recht das Ansehen des jeweiligen Hotelmanagements.
Seine wechselnden Aufenthalte rund um den Globus standen einer dauerhaften Partnerschaft im Wege und somit hatte er das Thema Familiengründung eines Tages ad acta gelegt. Dabei war er dem weiblichen Geschlecht durchaus zugeneigt. Hier und da eine Liaison, niemals mit einem Gast, beflügelte ihn und ließ ihn seinen Beruf mit noch mehr Hingabe ausüben.
Sein jetziges Tätigkeitsfeld gefiel ihm ausgesprochen gut. Klein und fein! Vierzig Zimmer und zwanzig Suiten garantierten den
Ruhesuchenden einen angenehmen Aufenthalt. Obwohl das Hotel immer ausgebucht war, war die Anzahl der Gäste überschaubar. Constantin bevorzugte deutsche Gäste. Sie vermochten einen edlen Wein zu schätzen, würdigten ihn mit verzücktem Gesichtsausdruck und waren dankbar für die Ausführungen des Sommeliers. Wenn er einen grauen Burgunder kredenzte und der Gast erkannte beim ersten Probieren die würzige Kräuternote, durchströmte ihn Zufriedenheit, fast ein Glücksgefühl. Aber auch die Kanadier und Ausstralier verstanden durchaus einen köstlichen Rebensaft zu genießen ... und natürlich die Franzosen. Ganz anders die westeuropäischen
Inselbewohner. Erst kürzlich musste sich Constantin mit deren mangelnder Kultur auseinandersetzen. Ein Paar schenkte weder dem Doradenfilet mit Meeresfrüchte-Ravioli, erst recht nicht dem von Constantin dazu empfohlenen Chardonnay die gebotene Aufmerksamkeit. Der Wein diente ihnen allenfalls als Mundspülung um letzte Speisereste aus Zahnlücken zu entfernen.
Diese Nichtachtung des Weines bezeichnete Constantin als barbarisch. Feiner Schweiß hatte sich auf seiner Stirn und über der Oberlippe gesammelt. Seine Hände wurden schwitzig und das war weder der Weinflasche noch der Karaffe beim Vorgang des Dekantierens zuträglich. Am liebsten hätte er den Service gebeten,
diesen Gästen Mineralwasser zu servieren. Aber das ging natürlich nicht.
Obwohl es kleine Salons für besonders festliche Gelegenheiten gab, bevorzugten manche Paare ein romantisches Abendessen auf dem Zimmer oder in der Suite. Sie zu beraten und zu bedienen bereitete Constantin stets große Freude. An solchen Abenden kam es ihm auf eine Überstunde mehr oder weniger nicht an. Das Hotel stellte in einem der Nebengebäude den Mitarbeitern Zimmer zur Verfügung. Dort übernachtete er und sparte sich den späten Heimweg in die Stadt. Den darauf folgenden Vormittag verbrachte er mit einem Spaziergang in dem weiträumigen Park, in dem Sitzecken an lauschigen Plätzen die
Gäste einluden entspannt ein Buch zu lesen oder einfach nur ihren Gedanken nachzuhängen ... oder er inspizierte den zum Hotel gehörenden Kräutergarten und das riesige Gewächshaus. Es beherbergte eine Fülle tropischer Bäume und Blumen. Immer wenn er durch diese grüne Oase schritt, erinnerte er sich, dass noch der Samen des Wunderbaumes, den er sich von seinem letzten Aufenthalt in Costa Rica mitgebracht hatte, darauf wartete einen Platz zu finden.
Er wollte schon des öfteren mit dem Gärtner darüber sprechen, ob es Sinn machen würde, diesen im Gewächshaus auszusäen. Ein schöner dekorativer Baum. Allerdings war die Schale der Samenkapseln giftig.
Doch es gab auch andere Pflanzen im Gewächshaus, die bei unsachgemäßer Anwendung der Gesundheit ebenfalls nicht förderlich waren. Sie waren alle mit einem gut sichtbaren Holzschild gekennzeichnet.
Nach diesen Spaziergängen trat er seinen Dienst um 14:00 Uhr - er begann immer um diese Zeit - gut gelaunt und mit Elan an.
Seit zwei Tagen beobachtete er einen neuen Gast. Eine Dame, die erst kürzlich angereist war. Sie war von bestechender Schönheit. Dezente Kleidung, dezenter Schmuck, dezent geschminkt. Er fieberte ihrer ersten Weinauswahl entgegen und ... wurde auch am dritten Abend ihres Hierseins enttäuscht.
Sie aß wie ein Vögelchen, bestellte wie an
den Vorabenden nur eine Suppe und beschloß ihr spartanisches Mahl mit einem Kräutertee. Was sollte er ihr zur Suppe anbieten? Es kam nur ein Sherry in Frage.
Mit einem Lächeln trat er an ihren Tisch.
"Darf ich Ihnen einen Sherry zur Suppe empfehlen?", fragte er mit gewinnendem Lächeln.
Sie blickte hoch und schüttelte verneinend den Kopf. Ihr Bedauern war in ihrer Antwort zu hören als sie sagte:
"Eine leichte Unpässlichkeit ... schon seit einigen Tagen. Ich sollte vernünftigerweise auf Alkohol verzichten."
"Oh, das bedaure ich außerordentlich! Ich wünsche Ihnen gute Besserung!"
Mit diesen Worten zog sich Constantin
diskret zurück.
Der freundliche Blick aus ihren meergrünen Augen verfolgte ihn und ließ für einen Moment seine gewohnte Aufmerksamkeit einem Gast gegenüber vergessen, dessen Menü sich nach der Wahl des Weines richtete. Auch das kam vor. Der Gast konnte sich nicht zwischen einem Grauen Burgunder und einem Madeira entscheiden. Einen größeren Kontrast gab es wohl kaum. Constantin wies darauf hin, dass zum Madeira nur eine Käseplatte den gewünschten Genuss von Essen und Wein vermitteln würde. Diese lehnte der Gast ab und traf damit seine Entscheidung.
Zwei Tage später bemerkte Constantin, dass die freundliche Dame, die er nun schon seit Tagen beobachtete, interessiert die Speisekarte studierte. Etwas aufgeregt trat er an ihren Tisch.
"Geht es Ihnen besser?"
"Oh ja, ich werde nachholen was ich bisher versäumt habe", antwortete sie mit strahlendem Lächeln.
"Ich habe mich für den Kabeljau mit Oliveneis und Fenchelpüree entschieden.
Sie werden mir sicher einen passenden Wein dazu empfehlen, Constantin."
Dass sie sich seinen Namen gemerkt hatte, trug ihr einen weiteren Pluspunkt bei Contantin ein.
"Dazu würde ein Silvaner Werther Windisch - im Geschmack viel Rauch, etwas Pfeffer, viel Nuss, reife Birne oder ein ..."
"Den nehme ich", entschied sie sofort.
"Es ist kein offener Wein ...
"Das macht nichts - ich nehme die ganze Flasche. Den Rest nehme ich mir mit auf mein Zimmer."
Constantin schwebte davon. Natürlich würde er ihr den verbleibenden Wein aufs Zimmer bringen lassen. Einen Gast mit einer halbgefüllten Weinflasche durch das Hotel laufen zu lassen - undenkbar. Vielleicht würde er auch selbst diese Aufgabe übernehmen.
Kurze Zeit später trat er erneut an ihren Tisch, platzierte den Weinkühler und
dekantierte den Wein. Er goß eine geringe Menge zum Probieren ins Weinglas und sah sie erwartungsvoll an.
"Gießen sie das Glas ruhig voll. Es lohnt sich ja sonst nicht."
Constantin zuckte leicht zusammen, kam ihrem Wunsch aber sofort nach.
Sie setzte das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug leer.
"Na ja", sagte sie und verzog etwas das Gesicht.
"Füllen sie bitte die Karaffe ... ich gieße mir dann selbst ein."
Constantins Hände zitterten leicht als er die Karaffe füllte. Auf seiner Stirn hatten sich feine Schweißperlen gebildet.
Während sie ihr Essen zu sich nahm, das
ihr ausgezeichnet zu schmecken schien, warf er immer wieder verstohlene Blicke auf sie.
Die Karaffe war inzwischen leer. Ihr Glas füllte sie gleich aus der Weinflasche. Dabei schwenkte sie diese als wollte sie darin befindlichen Zucker lösen. Auch das gerade von ihr gefüllte Glas trank sie in einem Zug leer.
Constantin verspürte eine leichte Übelkeit.
Nachdem sie ihre Rechnung unterschrieben hatte, verließ sie mit etwas unsicheren Schritten den Tisch. Constantin schenkte sie zum Abschied ein strahlendes Lächeln.
Die Weinflasche auf ihr Zimmer zu bringen erübrigte sich. Sie war leer.
In der Nacht war ein kräftiges Gewitter über die Stadt gezogen. Der darauf folgende Morgen war kühl und tiefhängende graue Wolken ließen neue Schauer erwarten. Das bestätigte sich im Laufe des Tages. Die Gäste blieben im Hotel und nutzten die umfangreichen Angebote zur Freizeitgestaltung, die es zu bieten hatte. Viele nahmen das Abendessen zeitig ein und zogen sich danach auf ihr Zimmer zurück oder verbrachten noch einige Zeit in der Hotel- oder Zigarrenbar. Einige suchten den Leseraum, andere den kleinen Kinosaal auf.
Die freundliche Dame, die so große Sympathie bei Constantin hervorgerufen hatte, winkte ihn gleich nach Betreten des
Restaurants an ihren Tisch.
"Der Wein gestern war mir zu bitter, Constantin. Heute möchte ich einen süßen Wein."
"Ein Silvaner Werther Windisch bitter ... ?"
"Nun, jeder empfindet das wohl anders", unterbrach sie ihn.
"Was können sie empfehlen?"
"Es wird schwierig sein das passende Menü zu einem süßen Wein zu finden", bemerkte er vorsichtig.
"Ich habe schon gestern entschieden, mir heute ein Lammcarré mit Polenta-Sticks zu gönnen."
Sie krauste kurz die Stirn. Ihr schien etwas eingefallen zu sein.
" ... und ich nehme einen Eiswein dazu."
"Darf ich darauf aufmerksam machen, dass Eiswein von so hoher Qualität ist, dass man ihn ohne Hauptspeise genießen sollte, allenfalls mit etwas Blauschimmelkäse, vielleicht noch mit Datteln im Speckmantel", erwiderte Constantin heiser.
"Ach, das passt schon, Constantin ... ich bleibe beim Eiswein ... der ist wenigstens süß - und klebt trotzdem nicht!"
Constantin fasste sich ans Ohr. Bekam er jetzt Tinnitus?
Kurze Zeit später füllte er ihr Glas mit dem köstenlichen Getränk, von dem sie sofort einige tiefe Schlucke nahm. Einer Karaffe bedurfte es nicht. Der Wein wurde aus der Flasche eingeschenkt. Raumtemperatur würde sein Aroma verfälschen, somit gehörte
die Flasche in den Weinkühler.
Doch diese Feinheiten bemerkte diese Dame nicht. Sie wäre auch nicht fähig gewesen diese zu würdigen. Eine überaus schmerzliche Erkenntnis zu der Constantin gekommen war. Sie beschäftigte ihn dermaßen, dass er sich nicht mit der gewohnten Sorgfalt und Hingabe den anderen Gästen widmen konnte. Seine Hände waren schwitzig, auf seiner Stirn hatten sich wieder Schweißperlen gebildet,
eine leichte Übelkeit befiel ihn intervallartig, er war fahrig und unkonzentriert. Den Höhepunkt erreichte sein Zustand als sich beim Dekantieren eines Chablis der Wein über das Wildragout eines Gastes ergoss.
Das geschulte Hotelpersonal beseitigte die
Folgen dieses Fauxpas umgehend. Der Gast wurde großzügig entschädigt. Constantin jedoch war einem Nervenzusammenbruch nahe. So ging das nicht weiter. Sollte er ein paar Tage Urlaub anmelden? Wenigstens solange bis die Meerjungfrau abgereist war?
In der Hauptsaison ... ? Das ging nicht!
"Constantin!"
Am liebsten hätte er so getan als höre er nicht, dass sie nach ihm gerufen hatte. Doch das wäre schlecht möglich gewesen, denn er stand unweit ihres Tisches. Also trat er zu ihr und blickte mit eingefrorenem Lächeln auf die Reste des Lammcarrés.
"Ich mache mir heute einen gemütlichen Fernsehabend. Könnten Sie veranlassen, dass mir gegen 21:00 Uhr eine Flasche
Eiswein auf´s Zimmer gebracht wird?"
"Selbstverständlich, gerne!"
Constantin verbeugte sich und suchte die Toilette auf um sich etwas frisch zu machen.
Pünktlich um 21:00 Uhr servierte er persönlich den gewünschten Wein. Sie hatte es sich auf der großen Couch bequem gemacht. Knabberzeug und Konfekt standen in kleinen Schalen auf dem Tisch. Sie schien sich schon üppig bedient zu haben.
Nach zwei Stunden klopfte er erneut an ihre Zimmertür. Auf einem Tablett hatte er eine schon entkorkte Flasche Eiswein und ein sauberes Glas. Als niemand öffnete, bediente er sich seiner Türkarte.
Sie lag angekleidet auf dem Bett und schlief fest. Prüfend schweifte sein Blick durchs
Zimmer. Nachdem er einige Verrichtungen vorgenommen hatte, verließ er es leise.
Am darauffolgenden Abend blieb der Tisch der freundlichen Dame frei. Auch am nächsten Tag tauchte sie nicht auf. Als Constantin seinen Dienst antrat, hörte er zufällig vom Zimmerservice, dass es der Dame auf Zimmer 23 gar nicht gut gehen würde. Wahrscheinlich eine erneute Unpässlichkeit. Sie würde nur Kräutertee bestellen.
In der Nacht rief das Hotel den Notarzt. Doch der konnte nur noch den Tod feststellen. Kreislaufversagen! Am Morgen hielt am Hinterausgang des Hotels ein dunkler Wagen mit getönten Scheiben. Das alles
geschah äußerst diskret. Die Gäste bemerkten diese Aktivitäten nicht.
Constantin konnte seinen Beruf wieder mit Freude und Hingabe ausüben. Immer wenn sich die Gelegenheit bot, genoss er die Spaziergänge im Park oder die Besuche im Gewächshaus. Ein Gespräch mit dem Gärtner über das Ausbringen des Samens des Wunderbaumes war nicht mehr nötig.
© Kara List 03/2017