Beschreibung
ein kleines Märchen -
dreiwillig - freiwillig
Es war einmal ein filigraner, zarter weiblicher Kolibri, dessen Flügel nicht die nötige Energie hatten, sich frei in die Lüfte zu erheben. Lange Zeit hat es gedauert, bis ihr die Fragen „weshalb“ und „warum“ nicht mehr als wichtig erschienen. Sie lebte nah am Boden, jedoch wusste sie, dass sie vorläufig keinen Boden unter den Beinchen fassen konnte. Deshalb träumte sie vom freien Flug mit der Gewissheit schon gelandet zu sein.
Eines schönen Tages rollte ihr ein eiartiges Gebilde direkt vor die Füßchen und sie entschloss sich, sich darum zu kümmern. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was aus dieser Schutzhülle einmal zum Vorschein kommen würde, schenkte sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit und Liebe. Denn sie fühlte, dass sich darin ein liebevolles Wesen verbarg. Geduldig wartete die Kolibridame während das Ei wohlig warm im Nest gebettet lag und die Sonnenstrahlen genoss. Alles war so friedlich und voller Freude, bis eines Tages ein kleines prachtvolles, buntes Schlänglein des Weges kam. Furcht durchdrang den Kolibri bei diesem Anblick, jedoch war es mutig genug das Schlänglein zu fragen was es hier wolle. Das Schlänglein säuselte: „Ach, Du hast so ein wundervolles Ei und siehst so müde aus, möchtest Du Dich nicht etwas ausruhen? Ich würde in der Zwischenzeit gut auf das Ei aufpassen.“ Der Kolibri überlegte, willigte aber ein, weil das Ei ja eigentlich niemand gehörte. Und so legte sich der Kolibri in sein lange verdientes Schlaflager und döste einige Stunden, geplagt von fürchterlichen Albträumen. Jäh schrak er auf und rannte so schnell es konnte zu dem Ei, das mittlerweile von dem Schlänglein umrundet war, so fest, dass es fast keine Luft zum atmen mehr hatte.
In diesem Moment durchbrach das Wesen im Ei seine Schutzhülle und sah entzückt in die Welt, in die es gerade geboren worden war. Es sah aus wie ein kleiner Drache, der in allen Regenbogenfarben schillerte. „Komm zu mir, Du wunderbares Wesen, ich möchte Dich wärmen“, zischte das Schlänglein süßlich und fokussierte den kleinen Ankömmling mit hypnotischen Augen. Der Kolibri sagte nichts und nahm die einzigartige Schönheit des Wesens wahr. „Jetzt wo es ausgeschlüpft war, soll es seine Welt erkunden und frei darin leben“, dachte der Kolibri „und wenn es mich brauchen sollte, bin ich gerne da“. Da der Kolibri nichts weiter tun konnte, übergab er ihm von nun an die Verantwortung für sich selbst, so dass er frei wählen konnte. Da der kleine Drache aber von dem Schlänglein so angetan war, entschied er, mit ihr zu gehen. Er dachte die erkennbare äußere Ähnlichkeit und die gemeinsame Erdverbundenheit würde hier eine gute Grundlage für seine Erfahrungen sein. Und so gingen sie des Weges, bis nach ein paar Tagen sein Herz anfing nach dem Kolibri zu fragen. Ja er sehnte sich sogar nach diesem zartem Geschöpf, die ihn gefunden hatte. Er entschloss sich mit dem Kolibri darüber zu reden, hatte jedoch nicht mit dem Argwohn der Schlange gerechnet. Das Schlänglein sagte zwar, dass er tun und lassen könne, was er wolle, hatte aber im Hinterkopf auch den Gedanken, dass ihr dadurch ein saftiger Brocken Futter durch die Lappen gehen würde. Eine einmalige Mahlzeit, von der sie lange zehren konnte. Jedoch ließ sie ihn gehen, mit der Gewissheit, dass sie sich ihn auch noch später einverleiben konnte.
Der Drache angekommen beim Kolibri fühlte die Verbundenheit ihrer Herzen und entdeckte zugleich in der Kommunikation, dass beide vieles voneinander lernen und gemeinsam die Freiheit erleben und in sich wachsen konnten. Außerdem spürte er, dass er dem Kolibri den benötigten Boden unter den Füßchen geben und der Kolibri dadurch ihn das Fliegen lernen konnte, so dass beide ihrer freien Wahl nachgehen konnten. Gemeinsam wuchsen sie und erfuhren, dass die Flügel der Freiheit ihre Gleichheit sind, woraus sich die Gesamtheit der Möglichkeiten entwickelte. Er ein starker, einzigartiger Drache erkannte sich im Wesen des zarten Kolibris, die wiederum die schillernde Pracht des liebevollen willensstarken Drachen widerspiegelte. So inspirierten sie sich gegenseitig, so dass jede Möglichkeit ihrer Wahl einen Weg hatte, denn sie selbst waren der Weg.
Manchmal erreichten die Schwingungen des Schlängleins den Drachen, der gutherzig sein Mitgefühl spürte und gerne helfen wollte. Er verstand nicht, warum das Schlänglein auf einmal mit gespaltener Zunge zu reden schien, denn sie versuchte vieles, um ihn doch noch für sich zu gewinnen. Sei es nur als schmackhaftes Mahl, wenn sie schon sein Drachenherz nicht haben konnte. Hin- und hergerissen schien der Gedankengang des Drachens, weil der Reiz des Risikos groß war. Er ging in sich und erkannte weise, dass ein Schlänglein immer ein Schlänglein bleibt und nicht gegen ihre natürliche Lebensform handeln konnte, so groß auch das Verlangen war. Auch wenn sie ihn wegen seiner Größe nun nicht mehr fressen konnte, gab es doch die Möglichkeit durch einen giftigen Biss seinen freien Willen zu verlieren. Er wollte frei sein in seinem Denken und Handeln, so frei wie sein Herz, welches für den zarten Kolibri schlug und ihn mit der Liebe erfüllte, nach der er sich sehnte. Und obgleich auch das Schlänglein immer noch lockte, wie auch die vielen anderen Versuchungen, wusste nun der Drache wo er sein wollte und lebte in der Liebe zu allem, seine Bestimmung in die Unendlichkeit einzutauchen. In der Einheit verbunden mit allem durch Feuer entfacht, durch Erde geebnet, durch Wasser kreiert, durch Luft gereinigt, im Äther erleuchtet.
…und wenn sie nicht gestorben sind ja dann leben sie noch heute? Sowohl auf der Erde als auch im Himmel, wie der Tag der durch die Nacht geboren und die Nacht, die friedvoll den Tag ausklingen lässt…
Silvia J.B. Bartl