Der Zauber-Oleander
Der Herr Eulenmeister Professor Pfefferkorn zeigte mit einem kurzen, geraden Ast auf die Tafel. Das Publikum schaute gespannt. Der Saal aus Geäst und Blättern war überfüllt. Die Ameisenkönigin Tusnelda war die letzte, die noch hinein gepasst hatte. Die Waldschule war eben nicht für solch einen Ansturm errichtet worden.
Das Publikum, unnötig zu erwähnen, war Hand verlesen. Vorne saß der Biber, der Ingenieur, daneben der Maulwurf, der vor allem für seine unterirdischen Tunnelbauten berühmt war.
Auch andere Tiere hatten sich eingefunden. Da war der erfahrene Hirsch Alerich, die
Chefin der Wildschweine, Agate. Man konnte nicht alle aufzählen.
Professor Pfefferkorn machte mit großen Augen weiter. „Die ganze Problematik liegt darin, dass es zu viele Neider gibt.“ Schweigen. Vielleicht kam es daher, dass jeder sich irgendwie angesprochen fühlte. „Hier, in unserem Wald, da sehe ich immer häufiger Streit. Das kommt daher, weil unser Wald immer kleiner wird. So müssen sich Alle immer weniger Gebiet teilen. Und das geht nur mit gegenseitiger Hilfe, ohne Neid.“
Der Dachs meldete sich. „Ich bin nicht neidisch“, behauptete er. "TaTaTa“, zog Professor Eule die Stirn in Falten. Da ging der Dachs in sich und war beschämt.
„In unserem Wald“, schaffte sich der Eulenmeister wieder Gehör, „können wir nur in Frieden leben, wenn wir alle zusammenhalten und das Teilen lernen.“
„Ist der Neid uns denn nicht angeboren“, fragte die Amsel.
„Leider, in gewisser Weise schon.“
Nun hob der Professor seine Stimme.
„Es gibt einen Strauch. Er heißt Oleander. Man munkelt, dass man ihn findet, wenn man dem Abendstern folgt.“
Ein „Ahh“, ging durch die Reihen.
„Es ist ein besonderer Oleander, ein Nougat-Oleander. Wenn man ihn hierher gebracht hat, dann muss man seine Blätter bestreichen. Mit einem Gummihammer. Das funktioniert nur, wenn man den Abendstern
sehen kann und Vollmond ist. Kurz darauf wachsen neben dem Oleander Nougatstückchen aus dem Boden, Zauberstückchen. Die werden an die Tiere verteilt und dann gibt es keinen Neid mehr.“
Alles klatschte Beifall, aber ProfessorPfefferkorn mahnte:
„Wenn wir etwas falsch machen, dann ist es um uns geschehen. Ihr müsst nämlich wissen, dass der Oleander sehr giftig ist.
Schwierig ist auch den richtigen Zauber-Oleander zu finden. Nicht jeder hat Zauberkraft."
Professor Pfefferkorn zeigte mit dem Stock auf die Tafel.
„So sieht er aus.“
Nun wurde eifrig diskutiert und Fragen über Fragen ergaben sich.
„Wo wächst er denn, der Nougat-Oleander?“
„Wie sollen wir ihn herbringen?“ "Was ist denn eigentlich ein Gummihammer?“
„Tja“, schüttelte der Professor sein Haupt, „das mit dem Gummihammer, so glaube ich, ist die größte Schwierigkeit. Einfach ein Rätsel!“
„Zuerst einmal müssen wir den Zauber-Oleander finden“, krächzte der schlaue Rabe Albius.
„Ich habe mich umgehört“, entgegnete Pfefferkorn. „Der Strauch muss im Hesperos Gebirge zu finden sein.“
Der Professor setzte seine Brille wieder zurecht.
„Hesperos heißt nämlich in der griechischen Sage Abendstern. Der Oleander wächst nämlich nur in Höhenlagen. Und wo das
Gebirge liegt, das habe ich auch erfahren. Ich habe nämlich die Störche gefragt. Die kommen so weit herum, weil sie Zugvögel sind. Sie sagten, man müsse nur Richtung Osten gehen, dann kommt man zu dem Gebirge. Mehr weiß ich allerdings auch nicht.“
Das Eichhörnchen Tipsi rief:
„Ich bin dabei!“ Viele meldeten sich freiwillig und schließlich wurden Tipsi, der schlaue Rabe Albius und die Hirschdame Elena für die Expedition gerüstet.
Elena bekam ein Korbgestell von dem Biber geflochten, um den Baum zu transportieren. Der Rabe konnte weite Erkundung fliegen und Tipsi gut klettern.
Es ging los und Alle winkten und wünschten eine gute, erfolgreiche Reise.
Sie wanderten in Richtung Osten. Und jede Nacht orientierten sie sich an dem Abendstern. Sie mussten sich beeilen, denn ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, bis es wieder Vollmond wurde.
Schließlich kamen sie am Hesperos Gebirge an. Elena war lange galoppiert und nun ziemlich erschöpft. Sie blickte die Felsen hoch.
"Das ist mir zu steil, da komme ich nicht hinauf“, stellte sie fest.
„Ruhe Dich nur aus, Elena“, meinte Tipsi. „Ich kann von Absatz zu Absatz hinauf hüpfen.“ Der Rabe Albius versprach, dass er schon voraus fliegen würde, um den Oleander-Strauch aus der Luft zu suchen. Und so flatterte er davon. Tipsi kletterte ebenfalls los.
Schließlich kam sie oben auf der Bergkante an. Eine weite Fläche tat sich auf und inmitten stand ein Strauch. Ein Oleander? Tipsi erinnerte sich an die Tafel in der Waldschule. „Ja, das musste er sein“, dachte sie.
Gerade wollte sie los springen, als sich ein Schatten über sie legte.
"Um Gottes Willen!"
Tipsi wusste, dass sie sich in Lebensgefahr befand. Bestimmt war ein Falke, oder ein Adler hinter ihr her, der sie verspeisen wollte. Doch wo Schutz suchen? Die nächste Deckung bot der Oleander, doch der war weit entfernt. „Erst gar nicht nach oben blicken“, nahm sich Tipsi vor. Es hieß nur: Mit aller Kraft sprinten!
Sie schlug Haken, aber sie spürte, wie die Gefahr näher kam. Da erschien plötzlich Albius am Himmel und stürzte sich auf den Habicht und flatterte dazwischen. Er pickte immer wieder gegen den anstürmenden Raubvogel. Dabei schrie er den Raubvogel an, bis der Habicht schließlich aufgab.
„Puh, das war in allerletzter Sekunde!“
Tipsi war völlig ausgepumpt, als sie den Oleander erreicht hatte. Sie hatte zu nichts mehr Kraft. Albius landete neben ihr. Er war ganz aufgeregt.
„Dem Kerl habe ich es aber gezeigt“, war er stolz.
„Vielen lieben Dank, du hast mir das Leben gerettet“, atmete Tipsi schwer.
„Und nun“, fragte sie, „ist das hier auch der richtige Zauberstrauch?“
Der Rabe schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Weiter drüben“, er wies mit einem Flügel nach Osten, „da stehen noch viele andere.“
„Oh je!“ Ich glaube, dass wir die Nacht abwarten müssen. Vielleicht können wir dann etwas erkennen. Etwas, das uns zeigt, welcher der Richtige ist.“
In der Nacht ging der Mond auf, der Abendstern war auch zu sehen und da glühte die Zweige und zum Teil der Baumstamm in einem merkwürdigen, bläulichen Licht.
Tipsi und Albius waren nun überzeugt, dass es der richtige Baum war. Sie hatten ein
Zeichen bekommen.
Erschöpft schliefen sie den Rest der Nacht durch.
Am nächsten Morgen beratschlagten sie sich. „Wie sollen wir einen solchen Riesenstrauch ausgraben, zu Elena schaffen? Das geht doch gar nicht“, jammerte Tipsi.
Doch Albius wusste Rat.
„Wir brauchen bloß einen Zweig. Den brechen wir frisch ab und schaffen ihn zu Elena hinunter. Dann füllen wir ihren Korb mit Erde. Der Zweig wird dann nur hinein gesteckt“
„Und das funktioniert?“ „Ich habe es beobachtet. Das machen die Menschen auch so. Sie nennen diese Zweige Stecklinge. Das habe ich zufällig gesehen, als ich auf dem
Feld einer Gärtnerei Früchte stibitzen wollte.“ Der Rabe nickte schelmisch.
„Eine andere Chance haben wir sowieso nicht“, endete Tipsi.
Sie brachen einen Zweig ab und Albius flog damit davon und brachte ihn Elena. Tipsi kam etwas später bei ihr an. Mit ihren Pfötchen schaufelte sie Erde in den Korb. Das dauerte eine ganze Weile, weil sie nicht viel Erde mit ihren Händchen einfüllen konnte. Schließlich verankerte Albius mit seinem geschickten Schnabel den Ast in der Erde.
Dann traten sie den Heimweg an. Bei der nächsten Furt am Fluss ging Elena zu einer bestimmten Stelle. Dort war es im Fluss so tief, dass der Korb Wasser ab bekam. Der Steckling war gewässert.
Freudig saßen Albius und Tipsi auf dem Rücken von Elena und waren glücklich. „Jetzt wird alles gut.“
Es war wirklich nicht mehr weit bis zur Waldschule, da plötzlich stand Dankward vor ihnen, der Herr der Wölfe.
„Na, wohin so eilig, ihr drei?“
„Ach, wir sind nur so ein wenig spazieren.“ „Das kann nicht stimmen“, bellte Dankward. "Ihr habt da ein hübsches Bäumchen dabei, wie ich sehe. Das ist doch der Zauber-Oleander! Die Spatzen pfeifen es schon von den Bäumen. Ich will ihn haben!“
Und da erschienen mehrere Wölfe aus der Deckung und heulten furchterregend. Vielleicht konnte Tipsi auf einen Baum
entkommen, wahrscheinlich auch Albius weg fliegen, aber die arme Elena war den Räubern völlig hilflos ausgeliefert. Der Zauber-Steckling natürlich auch. Es wäre um sie geschehen, wenn nicht rechtzeitig die Chefin der Wildschweine, Agate, aus dem Unterholz heraus gestürzt wäre. Viel schlimmer für die Wölfe war, dass ihr Gemahl, der riesige Keiler Ragnar, auch auf der Bildfläche erschien. Die Beiden gingen zum Angriff über. Mit denen war nicht zu spaßen, erkannte der Herr der Wölfe und befahl den Rückzug.
So kamen die drei Helden in Begleitung der mutigen Wildschweine wohlbehalten wieder bei der Waldschule an.
Der Maulwurf, der Biber halfen den Ast des Zauber-Oleanders einzupflanzen. Die Bisamratte Galina legte noch eine Schicht nahrhaften Flusssand darauf.
Bald würde der Vollmond aufgehen, aber was war nun mit dem Gummihammer? Woher nehmen?
Da meldete sich zaghaft die Feldmaus Fridolin.
„Ich habe da etwas auf dem Feld gefunden. Ein Knöchelchen. Es sieht aus wie ein Hammer, nur klitzeklein. Auf einer Seite ist er sogar noch mit einem weißen Überzug versehen, der etwas weicher ist.“
Der Professor überlegte, als er sich das Stück mit der Lupe ansah.
„Das ist ein Hammer. Das gehört zu dem
Inneren eines Ohrs. Da gibt es drei Knöchelchen. Die nennen sich Steigbügel, Hammer und Amboss. Das muss das gesuchte Hämmerchen sein. Wir probieren es.“
In der Nacht leuchtete der Vollmond, der Abendstern war zu sehen. Und Fridolin durfte mit dem Hammer über die Oleanderblätter streichen.
Am nächsten Tag blühte der Oleander, aber es wuchsen auch Nougatstückchen aus dem Boden. Jedes Tier des Waldes bekam eines. Es reichte für alle. Sogar für die Füchse. Die Stückchen ließ Albius lieber aus der Luft fallen, sicherheitshalber
Und so lebten die Tiere des Waldes, wie es Mutter Natur wollte. Ohne Neid.
Und da hatten die Tiere den Menschen Einiges voraus.