Schatten zogen übers Feld. Oder war es doch eine Sinnestäuschung? Da, wieder einer. Aaron wusste nicht wie ihm geschah. Sie schienen nicht an das Spiel von Licht und Dunkelheit gebunden, welches die Sonne normalerweise diktierte. Sie waren wie Sklaven die ihre Ketten gesprengt hatten und nun fröhlich und ungezwungen in alle Richtungen tanzten, einfach weil sie es konnten. Marionetten, die sich selbst die Fäden abschnitten. Doch diese Marionetten erschienen ihm überhaupt nicht fröhlich. Sie wirkten wie das tiefste Elend. Es war als wollten sie das
Licht der Welt verschlingen und diese in ewige Finsternis hüllen. Selbst wenn in tiefer Nacht alle Lichter erloschen waren und kein Schuss über das Feld peitschte konnte er diese unheimlichen Schatten ausmachen. Vielleicht tanzten auch nur die Schleier der ewigen Müdigkeit vor seinen Augen, welche er seit Wochen verspürte. Hirngespinste, welche sich mit ausreichend Schlaf vertreiben ließen. Aaron wollte es glauben, aber sein ganzes inneres bäumte sich dagegen auf. Er wusste im Grunde, dass sie dort draußen waren. Er wusste nur noch nicht wer sie waren und warum sie da waren. Eines nachts schlich er sich hinaus, während die Kameraden beschäftigt
waren ihre Geschützstellungen wieder auf Vordermann zu bringen. Alltag auf dem Schlachtfeld. Tagsüber Kampf um jeden Zentimeter um abends wieder dorthin zurück zu weichen wo man begonnen hatte. Des Nachts grub man die Gräben tiefer, schaufelte den Schlamm beiseite und rüstete sich allgemein für den nächsten Tag den man, Gott sei Dank, noch erleben durfte aber eigentlich nicht erleben wollte. Aaron kletterte an einer der Leitern hoch und robbte, das Gewehr in der Hand, ins Niemandsland. An den vielen Laufgräben vorbei kroch er fast bis in die Mitte über tote Kameraden oder Feindsoldaten.Viele von ihnen starben jeden Tag aufs neue.
Getroffen von Granaten flogen ihre abgerissenen Körperteile durch die Luft und landeten nicht selten wieder in den Schützengräben. So mancher Kämpfer starb nicht durch feindlichen Beschuss sondern weil ihm ein Unterkiefer den Schädel zertrümmerte. Dieses makabere Spiel, so dachte Aaron, konnte sich nur der Teufel selbst ausgedacht haben. Er musste die Menschen nicht einmal mehr locken, denn sie kamen ja mit großem Jubel und Kriegsgeheul. Mittlerweile heulten selbst gestandene Männer, allerdings nur noch aus Verzweiflung, Scham und Angst. Die Rufe nach der Mutter aus den Kehlen derer die zerfetzt aber noch lebend im Felde lagen,
verstummten nur durch den Gnadenschuss. Von den Schatten fehlte hier im Nirgendwo jede Spur, aber Aaron bemerkte etwas anderes seltsames. Viele seiner Kampfgefährten die am Nachmittag in offener Feldschlacht gefallen waren lagen nun völlig skelettiert in ihren Uniformen, die Waffe in der Hand. Es war nicht möglich, dass ein Mensch in einem solch rasenden Tempo verweste. Er hätte gerne eine Laterne entzündet, aber das war nicht nur Verboten sondern auch höchst gefährlich. So musste Aaron warten bis sich seine Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnten. Er begann einen
dieser Toten näher zu untersuchen indem er ihm die Uniform auszog. Es war ein französischer Soldat dessen Hundemarke erkennen ließ, dass er gerade einmal neunzehn Jahre alt geworden war. Aaron nahm es nur beiläufig zur Kenntnis und betrachtete angestrengt den verwesten Körper. Er konnte nichts auffälliges erkennen und wollte schon aufgeben, aber als er ihn wieder bekleidete fühlte er tiefe Rillen an den knöchernen Händen. Er konnte es, angesichts der Dunkelheit kaum erkennen, aber als er nochmals darüber fühlte war Aaron sicher das es sich um Kratzspuren handelte. Um über jeden Zweifel erhaben zu sein, tastete er den ganzen Körper ab.
Sie tauchten überall auf als hätte ihm jemand das Fleisch regelrecht vom Körper geschält. Hastig beeilte er sich den Toten wieder anzukleiden und wollte verschwinden. Ein seltsames Geräusch, es kam aus einem der Laufgräben, ließ ihn erstarren. Aaron verharrte einige Sekunden bis er sicher war, dass er unentdeckt blieb. Sich durch die Dunkelheit tastend, immer dem Geräusch nach kroch er bis zu dem Graben aus dem jene Laute zu kommen schienen. Just in dem Augenblick, als er sich über den Rand beugte gaben die Wolken das Mondlicht frei und ihm bot sich ein schauderhafter Anblick. Der gefreite Berobert Helchim war dort unten
triebhaft mit einem Kameraden zugange dessen letzte Stunde lange vor Einbruch der Dämmerung geschlagen hatte. Angewiedert beeilte sich Aaron fortzukommen ehe Helchim ihn sah. Als er genug Distanz zwischen sich und dieser widerlichen Teufelei gebracht hatte übergab er sich gleich mehrfach. Mit letzter Kraft gelangte er, glücklicherweise unbemerkt, wieder in seiner Stellung.die Kameraden schliefen mittlerweile zum großen Teil und nur die Nachtwache saß oben in der Stellung. Doch auch diese döste erschöpft vor sich hin. Normalerweise hätte Aaron sich auch gerne schlafen gelegt, aber angesichts
der Ereignisse schien es ihm unmöglich auch nur ein Auge zu schließen. Dennoch fiel er letztendlich in einen Dämmerschlaf, während die Bilder in seinem Kopf herumwirbelten. Immer wieder kroch er übers Feld lugte in den Graben aus dem ihn Helchim mit verzerrtem Gesicht höhnisch angrinste. Bei jedem Stoß welchem er dem Toten Soldaten gab lachte dieser kreischend, dass es Aaron durch Mark und Bein ging. Schweißgebadet wachte er schließlich auf. Das blonde Haar klebte ihm nass auf der Stirn. Als der Morgen graute und Bewegung in die Männer kam atmete Aaron erleichtert auf. Gestern noch hatte er mit Abscheu auf die feindlichen
Stellungen geschossen. Heute sehnte er die Schlacht regelrecht herbei um die vergangenen Ereignisse zumindest für einige Zeit aus seinem Geist zu verbannen. Die Hoffnung war nur von kurzer Dauer, denn mit dem ersten Toten des Tages kehrten auch die Schatten zurück. Aaron warf immer wieder einen prüfenden Blick auf seine Kameraden ob irgendjemand sehen konnte was er sah. Es schien ihm jedoch als wäre er der Einzige. Die Reaktionen der anderen verrieten nichts. Einmal jedoch traf sein Blick den des Gefreiten Helchim und dieser funkelte ihn Wütend an. Gleichzeitig schien ein höhnisches Grinsen seinen Mund zu umspielen
welches er aber zu verbergen suchte. Hatte er ihn doch gesehen? Aaron war sich nun nicht mehr sicher und viel schlimmer noch kam ihm der Gedanke, Helchim wusste vielleicht von dem schrecklichen Traum. Nach einigen Minuten des Durchatmens verwarf er jedoch beide Gedanken wieder. Erstens war es Stockdunkel auch wenn der Mond für ein paar Sekunden sein fahles Licht warf und zweitens konnte wohl kaum jemand in seine Träume dringen. Plötzlich stieg eine gelbgraue Wolke auf und bewegte sich auf die deutsche Stellung zu. „Gasangriff“, schrie der Hauptmann und jeder begann verzweifelt nach Seiner
Maske zu greifen. Aaron war nicht schnell genug und ihm schlug die Gaswolke mit voller Wucht ins Gesicht. Seine Augen brannten sofort wie Feuer und er musste sich mehrfach übergeben während seine Lungen sich aufzulösen schienen. Als er Aufblickte lag die Umgebung hinter einem Tränenschleier den er sich mit dem Ärmel fort wischte, aber dieser Schleier blieb auch als keine Träne mehr seine Augen benetzte. Von Minute zu Minute wurde es sogar schlimmer und irgendwann gesellte sich Dunkelheit hinzu. Hilflos saß er nun da und konnte nichts tun als zu warten bis einer der Sanitäter ihn ins Lazarett brachte. Das Gas verätzte ihm die
Augen, so dass niemand sagen konnte ob er jemals wieder etwas sah. Die Welt lag ab sofort für ihn in einer Finsternis welcher er vielleicht niemals entkommen konnte. Das Gefühl von Einsamkeit stieg in ihm auf. Ein Schmerzhaftes Gefühl dem er nicht einmal durch Weinen habhaft werden konnte. Er ersetzte deshalb das Gefühl der Trauer durch Wut. Aaron stand von seinem Feldbett auf und riss sich den Verband von den Augen. Stechender Schmerz durchzuckte seine Schläfen. Er war für Minuten geblendet bis er sich etwas an das Licht gewöhnte. Der Schleier gab unscharfe Konturen frei. Aaron wankte dem entgegen was er für den Ausgang hielt
und stolperte dabei über eine Feldkiste. Sofort sprangen einige Sanitäter herbei um ihm aufzuhelfen, aber er schüttelte sie wütend ab. Schließlich gelangte er unbeschadet vor das Zelt wo ihm, allerdings noch mehr Licht eben auch noch mehr Schmerz bereitete. Er hatte das Gefühl seine Augäpfel würden jeden Moment brennend aus ihren Höhlen springen, dann verschwand das grelle Licht und hinterließ endgültige Finsternis. Die Wut wich der Resignation. Sein Augenlicht war für immer verloren. Bereitwillig ließ er sich nun doch wieder ins innere bringen und ergab sich seinem Schicksal und tiefem Selbstmitleid. Sein einziger Trost lag
darin, dass ihn die Schatten fortan in ruhe ließen wenn er auch oft an sie dachte ebenso wie an Helchim. Nach letzterem erkundigte er sich einmal und hörte das dieser vermutlich desertiert sei. Er kam von einer Aufklärungsmission nicht zurück und man fand auch seinen Leichnam nicht. Lediglich seine Uniform lag verkohlt in einem Waldstück und seine Hundemarke. Aus irgendeinem Grund bat Aaron darum zu dieser Stelle im Wald geführt zu werden und das man ihm die Marke gab. Er wusste selbst nicht genau was es war, aber irgendwas zog ihn zu dieser Stelle und die Erkennungsmarke barg ein Geheimnis welches er lüften musste. Da
draußen immer noch starker Feindbeschuss herrschte verweigerte man ihm diese Bitte. Er bat zumindest um die Marke, welche eigentlich der Familie zugestellt werden sollte. Da allerdings keine Angehörigen bekannt waren entsprach man zumindest diesem Wunsch.Er befühlte sie und wog sie ein paar mal in der Hand als wäre es ein Goldstück von unschätzbarem Wert. Aaron schloss die Finger darum und sie wurde warm. Seine Hand kribbelte während die Temperatur der Hundemarke sich stetig erhöhte. Sie wurde heiß und Schmerz durchzuckte seinen Arm, aber er war selbst dann nicht fähig sie fallen zu lassen als sie zu glühen begann. Der
Schmerz bohrte sich tief in sein Fleisch und er hatte das Gefühl innerlich zu verbrennen. Trotz allem kam Aaron nicht mal ein Wispern über die Lippen. Je länger dieser Zustand andauerte umso mehr gewöhnte er sich an den Schmerz und fing an ihn zu kontrollieren. Schließlich gelang es ihm diesen zurück auf die Marke zu reflektieren, welche schlagartig aufhörte zu glühen. Eine Unglaubliche Erfahrung dessen Tragweite ihm bis hierhin allerdings noch längst nicht bewusst war. Er wußte lediglich, dass er diese Stelle im Wald aufsuchen mußte um mehr zu erfahren. Doch dazu kam es vorerst nicht, denn der Soldat Aaron von Schmerzensreich
war nun der Kriegsveteran von Schmerzensreich und wurde in die Heimat befördert. Die Marke würde solange beim Militär verbleiben bis man einen Angehörigen gefunden hatte. Da die Verwundeten, in den letzten Kriegstagen, nicht weniger sondern mehr wurden schickte man die hoffnungslosen Fälle schnellstmöglich in die Heimat um freie Betten zu bekommen. Am nächsten morgen herrschte ein geschäftiges Treiben, denn die Franzosen rückten jetzt unaufhaltsam vor und produzierten soviel Kriegsverletzte und tote wie lange nicht. Wenn einer Aufstand wurde der nächste hingelegt. Wer laufen konnte bekam kein Bett mehr. Auch Aaron
mußte trotz seiner Blindheit das Bett räumen für jemanden der seinen rechten Fuss verloren hatte. Es machte ihm nichts da er sowieso in wenigen Stunden in der Heimat sein würde. Auch wenn er die Schönheit seines Landes nie mehr sehen konnte wollte er plötzlich wieder leben. Er wollte sich lebendig fühlen und nicht wie eine abgerichtete Tötungsmaschine. Die, Marke, Die Schatten, Helchim all das rückte gerade in so weite Ferne obwohl es doch so intensive Erlebnisse waren. Es zählte nur der Moment. Die Marke war für einen blinden Mann unerreichbar, Helchim war entweder Tot oder desertiert und auch die Schatten machten keinen Mucks mehr
seit drei Wochen. Es hielt ihn nichts mehr an diesem Ort und so freute er sich auf zuhause. Je näher er seiner Heimat kam desto ferner blieben die Erinnerungen, als wären sie mit diesem Ort verwurzelt und nicht fähig in seinem Kopf herumzureisen. Die Erinnerungen schwanden also und als er heimischen Boden betrat wusste Aaron nicht einmal mehr, dass er überhaupt in diesem Krieg kämpfte. War es nur ein schlechter Traum, oder ein schwaches Deja vu'? Das Rauschen einer Welle im Ozean seiner Gedanken?