Schneemann in der Wüste
Forumbattle 58 Beitrag zum Thema "Abenteuer einer Schneeflocke"
Vorgegebene Wörter:
Kartoffelbrei,
Waschmaschine,
Puderzucker,
Feierabend,
siebenachtel,
bohnern,
umgraben,
fasten,
hochtrabend,
vergraulen,
Souvenirshop,
Klient.
Schneemann in der Wüste
Die Sonne brannte morsch auf den kahlen Wüstenboden nieder. Ein paar dürre Bäume standen in der Gegend und ließen stoisch die Hitze auf sich niederregnen. Die kahlen Äste trugen vereinzelt Zweige, deren Schatten sich fast unsichtbar in die feinen Risse des toten Grundes einreihten. Eine einsame Landstraße führte von Norden nach Süden und verschwand in der vor Hitze flimmernden Luft am Horizont. Wenn man dieser Straße folgte, gelangte man nach etwa fünfzig Meilen zum Ozean. In nördlicher Richtung waren Stein, Wind und der sichere Tod alles, was man erreichen
konnte.
In dieser trostlosen Landschaft lag ein Dorf. In der Mitte des Dorfes stand eine Kirche. Das Dorf hatte einen Bäcker, einen Metzger, einen Arzt, einen Lehrer, einen Polizisten, einen Barbier, einen Kinobesitzer und einen Schuhmacher. Der Schneider war vor kurzem verstorben, und so lange es keinen neuen gab, übernahm der Polizist diese Aufgabe, da er eh nicht viel zu tun hatte. Man lebte friedlich miteinander.
Das Besondere dieses Dorfes war der Souvenirshop mit einer Tankstelle. Es gehörte einem grimmigen, alten Mann, der im Dorf als Sonderling verschrien war und nur wenige Freunde hatte, wusste er doch mit seiner charmant direkten Art seine Mitmenschen
sicher zu
vergraulen. Ohne seine Frau würde er auch kaum über die Runden kommen, denn der Laden warf kaum etwas ab. Nur selten verirrte sich ein Tourist auf der Durchreise zu seinem Geschäft, tankte und kaufte sich eine Postkarte oder ein Bier. Die Frau des Ladenbesitzers hielt die Familie über Wasser, indem sie Snacks und Leckereien zum Verkauf anbot: Kartoffelbrei mit selbstgemachten Klößchen und Waffeln mit Puderzucker waren besonders beliebt. Viele Einwohner des Dorfes kauften oft aus Mitleid bei der Frau ein. Wieso sie bei ihrem Mann blieb, war vielen ein Geheimnis, aber nach einer gewissen Zeit hinterfragte es niemand. Man redete kaum noch über das seltsame
Paar und wenn doch, hörte man oft landesübliche Floskeln wie „Wo die Liebe hinfällt, da wächst kein Gras mehr“ oder „Groß ist die Wüste, aber gegen die Rätsel des Herzens ist sie nur ein Sandkorn.“
Eines Tages geschah es, dass ein Mann das Dorf besuchte. Er fuhr einen roten Volkswagen-Käfer, dessen Farbe unter dem Staub und Sand der Wüste zu einem dunklen Braun verkommen war. Der Motor hörte sich an, wie eine alte Waschmaschine voller BH-Bügel und Unterhosenknöpfe in den Trommelzwischenräumen; er knatterte und ratterte, stöhnte und fauchte, heulte bei jeder Beschleunigung auf und verstummte gerne eigensinnig ohne das Zutun des Fahrers,
wenn ihm danach war.
Ob der Mann freiwillig in diesem Dorf hielt oder der Laune seines Käfers gehorchend, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass er seinen Wagen vor dem Souvenirshop parkte und ausstieg. Er trug ein buntes Hawaiihemd und rote Bermudas. Zwei stämmige, schwarz behaarte Beine ließen vom weiten den Eindruck einer Wollhose entstehen. Aus Ledersandalen, die er ohne Socken trug, streckten sich zehn Zehen mit zehn kleinen, dichten Haarbüscheln aus. Seine Arme waren ebenso dicht bewachsen, das Gesicht glänzte aber frisch rasiert. Er trug einen braunen Cowboyhut. Unter dem Hut blitzten zwei listige Augen, die den Shopeingang anvisierten und ein vorfreudiges Lächeln ließ eine Reihe
gelblich verbrauchter Zähne hervorblitzen.
Er betrat den Laden und schaute sich um. Direkt gegenüber des Eingangs war die Kasse, hinter der Zigaretten und Alkohol ausgestellt wurden. Links der Kasse waren kleine Snacks: Chips, süße Brötchen, Waffeln und Schokolade. Daneben standen deftigere Speisen: Bratwürstchen, Kartoffelbrei, Fleischbeilage und Lasagne, die nur wegen der Aufschrift „Lasagne“ als solche zu erkennen war. Sonst schien es im Laden keine wirkliche Ordnung zu geben. Auf Regalen und Drehständern konnte man allerlei finden, was das Herz begehrte: Bücher, Spielzeugautos, Postkarten, Videokassetten, Kartenspiele, Backformen, Hygieneartikel usw. Es machte den Eindruck, als hätte der Besitzer all das,
was er in seiner Wohnung nicht mehr unterbringen konnte, in seinem Laden versammelt.
Der Fremde ging an die Kasse und klopfte gegen die Theke: „Hallo, jemand da?“
Unter der Kasse bewegte sich etwas. Holzstufen knarzten und nach wenigen Augenblicken tauchte ein alter, grimmig blickender Mann auf. Er trug ein beiges Holzfällerhemd, über dem zwei Hosenträger eine alte Cordhose da hielten, wo sie seinem Gegenüber alles Unschöne ersparte, was sie verbarg.
„Ich mach gleich Feierabend“, begrüßte ihn der Ladenbesitzer.
„Einen wirklich schönen Laden haben Sie hier. Wie läuft das Geschäft? Mag man hier
Schokolade und Würstchen?“
Der Ladenbesitzer schaute ihn wortlos an.
„Ich mach nur Spaß“, beeilte sich der vermeintliche Klient zu sagen. „Mein Tank ist leer und ich müsste tanken. Aber ich habe leider kein Geld. Sie würden mir einen riesigen Gefallen tun, wenn Sie mir hülfen.“
Der Ladenbesitzer atmete hörbar ein und wieder aus. Es schien als spräche er ein inneres Mantra, um nicht zu explodieren. „Kein Geld. Kein Benzin“, knurrte er.
„Mein guter Herr, natürlich will ich Sie für Ihre Hilfe reichlich entlohnen. Ich habe etwas mitgebracht, das wunderbar in Ihr Sortiment passen würde. Eine echte Rarität, die Sie zweifelsohne zu barer Münze machen können und die Ihnen das Zehnfache einer schlichten
Tankfüllung einbringt.“
Der Ladenbesitzer schaute ihn weiter an, ohne ein Wort zu sagen. Der Besitzer des lahmen Käfers fuhr hochtrabend fort.
„Ich sehe Ihnen an, dass Sie Interesse haben.“
Der Mann lächelte und holte etwas aus seiner Hosentasche. Es war ein Plastikplättchen. Er hob es hoch und hielt es dem Ladenbesitzer vor die Nase. Dieser fuhr im ersten Moment etwas zurück und verengte die Augen. Was er sah, war eine kleine, weiße Schneeflocke, die in das Plastik eingeschweißt war. Die Kristallstruktur zeichnete sich deutlich ab; von der Mitte aus zweigten sich sechs grade Zweige ab, die wiederum kleine Äste trugen.
„Ich musste die Plättchen ganz schön
bohnern, damit man den Kristall so gut erkennen kann.“
Ohne die Antwort des Ladenbesitzers abzuwarten, erzählte der Mann weiter: „Das ist ein Schneekristall. Ein äußerst seltener und wertvoller Gegenstand. Auf der Welt gibt es nur noch ein paar hundert Stück, da der größte Teil,
siebenachtel um genau zu sein, bei einem großen Brand vernichtet wurde. Eine Katastrophe für die Kunst und Wissenschaft, denn aus dieser wunderschön ebenmäßigen Struktur kann man vielerlei Erkenntnisse für Medizin und Chemie erlangen. Wussten Sie, dass jeder Schneekristall einzigartig ist? Ja, da staunen Sie, mein guter Herr. Ein echtes Unikat. Ich musste auch ganz schön viele
Berge in Bewegung setzen und Sandhaufen umgraben, bis ich diesen Schatz hier gefunden hatte. Angefangen hat alles in Deutschland, in einem kleinen Voralpendorf. Auf einem Flohmarkt, den ich nur zufällig aufsuchte, da ich nach einer ausgedehnten Trunk- und Geselligkeitsveranstaltung, die meine Anwesenheit die ganze Nacht beansprucht hatte, daran vorbeilief. Nichts ahnend schlenderte ich zwischen den Ständen und entdeckte dann zwischen alten Playboyheftchen und verkratzten CDs diesen Schatz. Sie müssen wissen, dass ich studierter Kunsthistoriker bin und mein Spezialgebiet die Schneekristallkunst des 21. Jahrhunderts sind. Heutzutage gibt’s ja keinen Schnee mehr. Die globale Erderwärmung und
die atomaren Zwischenfälle der letzten Jahre haben uns den Zauber dieser weißen Pracht nun gänzlich versagt. Wie bitter muss das menschliche Geschlecht nun geistig fasten. Aber Sie sehen mir wie ein Kenner aus. Sind Sie Kulturschaffender? Literat? Schreiben Sie Romane? Gedichte? Nein, Sie schreiben Theaterstücke. Dramen. Ich seh’s Ihnen an der Nasenspitze an. Sie sind ein Mann des Theaters.“
Der Ladenbesitzer neigte den Kopf nach links. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, ob er auch nur ein Wort von dem verstand, was der Fremde ihm mitteilte.
„Lange Rede, kurzer Sinn“, fuhr der Fremde fort. „Diese Schneeflocke ist ein kleines Vermögen wert. Besonders in dieser
tropischen Gegend. Und ich würde sie Ihnen überlassen, für nur eine Tankfüllung. Was sagen Sie?“
Der Ladenbesitzer hob die Augenbrauen und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. Dann holte er langsam Luft und sagte: „Kein Geld. Kein Benzin.“
Der Fremde kräuselte die Stirn. „Mein guter Herr, Sie treiben mich wirklich zum Äußersten. Aber gut, was soll ich tun? Ich muss hier weg und mein Tank ist leer.“
Der Fremde schaute sich um, so als fürchtete er, dass sie jemand beobachten würde. Dann legte er seine Hand seitlich an seine Wange und bedeutete dem Ladenbesitzer mit einer hastigen Bewegung näher zu kommen.
Dieser zuckte nicht einmal mit der
Wimper.
Der Fremde flüsterte aber trotzdem, zwar sehr laut, aber geheimnisvoll: „Dieser Schneekristall erfüllt jedem, der ihn besitzt, drei Wünsche.“
Der Ladenbesitzer schaute ihn eine Sekunde lang an, dann griff er unter die Theke und holte einen Benzinkanister. Der Fremde lachte erleichtert auf: „Ich wusste dass Sie mir helfen. Sie sind bald ein reicher Mann. Mein Gott, alles, was sie wollen; Geld, Frauen, Ruhm. Dann müssen Sie nicht mehr in so einem Loch hausen und diesen muffigen Kartoffelbrei mit dem Gammelfleisch essen.“
Der Fremde streckte seine Hand nach dem Kanister aus und wollte ihn nehmen. Der Ladenbesitzer verharrte aber wortlos, die
Hand felsenfest um den Kanistergriff geschlungen. Der Fremde zog ein wenig. Im Kanister plätscherte das ersehnte Nass. „Was ist denn los?“, fragte der Fremde nervös. „Trauen Sie mir etwa nicht? Ich gebe Ihnen den Kristall, machen Sie sich keine Sorgen.“
Der Ladenbesitzer streckte seine freie Hand mit der Handfläche nach oben aus und schaute dem Fremden seelenruhig in die Augen. Dieser verstand die Geste und legte die Plastikplättchen in die offene Hand. Dann rüttelte er abermals am Kanister, der aber immer noch fest in der Hand des Ladenbesitzers war.
„Jetzt geben Sie mir den Kanister, verdammt. Sie haben den Kristall“, schrie der Fremde und riss voller Wucht am Griff. Der alte Mann ließ
los, was den Fremden fast zu Boden fallen ließ.
„Eine gute Entscheidung mein Herr. Eine sehr, sehr gute Entscheidung. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr zukünftiges, glorreiches Leben“, sagte der Fremde und drehte sich um, um zu gehen.
Der Alte begutachtete seine neue Errungenschaft. Der Schneekristall funkelte und blitze im sparsamen Licht der verdreckten Fenster. Er packte ihn in die Tasche und ging wieder unter die Theke, was die Holztreppe mit einem modrigen Knarzen kommentierte.
Der Fremde verließ den Laden und füllte den Inhalt des Kanisters in den Tank seines Käfers, setzte sich ans Steuer und versuchte den Motor zu starten. Es gelang erstaunlich
schnell. „Alter Trottel!“, schnaubte er verächtlich, gab Gas und fuhr weiter.
Der Ladenbesitzer setzte sich in seinen Fernsehsessel und machte den Fernseher an. Wenn seine Frau zurückkommen würde, würde er ihr von diesem Trottel erzählen, der ihm für einen Kanister voller Wasser einen Zauberkristall hergab, der drei Wünsche erfüllte. Zum ersten Mal seit langem lag ein Lächeln auf seinen Lippen.
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