Kapitel 1
Kapitel 1
Dreißig Jahre später , das Jahr 387 der Herrschaft des Hauses Ordeal
Beroe Trahan sah zu dem großen Befestigungswerken auf, die vor ihnen am Horizont auftauchten. Die Erdwacht war gegen das Licht der untergehenden Sonne nur als Silhouette zu erkennen, doch reichte das, was er sah bei weitem aus, um einen Eindruck von der Größe dieses Ortes zu bekommen. Mauern, breit
genug, dass man einen Ochsenkarren bequem darauf hätte fahren können, umschlossen dutzende von hoch aufragenden Festungsbauten und Türmen. Gedrungen und unerschütterlich wirkten sie, mit nur winzigen Fenstern und Schießscharten, die jeden der die große Straße aus dem Norden herab kam, misstrauisch zu beäugen schienen. Die Aufmerksamkeit der lebenden Wachen hingegen, lag vermutlich eher bei der großen Steinbrücke, die den Abgrund hinter der Festung überspannte. Der Erdschlund teilte die Herzlande fast auf ihrer halben Länge in zwei Teile, unüberwindbar und so tief, das hindurch zu klettern, Tage in Anspruch nehmen
würde. Die Erdwacht stellte den einzigen befestigten Übergang dar. Es mochte hier und da ein paar von Schmugglern gefertigte Seile oder Hängebrücken geben, doch nichts, das für das Reich auf seiner anderen Seite eine Gefahr darstellte.
„Du bist doch nicht etwa nervös, oder ?“ Loken Trahan schloss zu ihm auf, während die Burg langsam näher kam.
„Nein.“ Beroes Stimme war kalt, ohne ein Spur des Zögerns. Unsicherheit zu zeigen bedeutete chwäche zuzulassen. Und das war nicht, was ihn so weit gebracht hatte, sondern eiserne Entschlossenheit. „ Aber es ist trotzdem schön dich an meiner Seite zu haben.“ Er
lächelte nicht.
Sein Ziehvater jedoch ließ sich zu einem dünnen Lächeln hinreißen. Seine Haare waren grau geworden, die dunkle Rüstung die er trug, glänzte stumpf und trug die Spuren von dutzenden Schlachten. Er hatte wohl mehr Überlebt, als Beroe je hoffen konnte. Und doch lag hinter den dunklen Augen seines Herrn und Vaters Sorge. Um ihn ?
„Ich habe auf dich aufgepasst, seit du ein kleines Kind warst. Aber hier wirst du dein eigener Herr sein müssen. Der Kaiser duldet keine Fehlschläge. Und ich kann dich nicht vor ihm schützen.“
„Ich erwarte nicht, das du es
versuchst.“
Beroe musste den Blick abwenden, als sie den Gipfel einer kleinen Anhöhe erreichten und die Sonne nicht mehr von den Türmen und Zinnen der Festungsanlage überdeckt wurde. Einen Augenblick lang kniff er die Augen zusammen, blinzelte und wartete darauf, dass die Nachbilder verschwanden. Mit einer kurzen Handbewegung zog er sich die Kapuze des langen, weißen Mantels ins Gesicht, den er als Schutz vor der Sonne trug. Zwar litt er nicht so sehr darunter, wie viele andere, denen es so ging wie ihm, aber zu helles Licht wurde schnell schmerzhaft… und die Sonne verbrannte ihn. Und sie hatten die ganze
Reise über Sonne gehabt. Trotz des schützenden Umhangs begann sich die Haut an seinen Armen und seinem Nacken bereits zu schälen. Regen wäre ihm bei weitem lieber gewesen…
Einer seiner Begleiter ritt neben ihn und musterte ihn stumm.
„Mir geht es gut.“ , knurrte Beroe, als er in das nichtssagende, maskierte Gesicht seines Gegenübers starrte. Der andere Mann legte lediglich den Kopf schief, wobei sich dieser unnatürlich weit zu beugen schien, sagte aber nichts. Alcyon sprach selten. So selten, das Beroe sich nicht einmal sicher war, dass dies sein wirklicher Name war, aber es gab ohnehin so einiges, was er über diesem
Mann nicht wusste. Das einzige, was er je von seinem Gesicht gesehen hatte, waren diese unnatürlich hellen, gelblichen Augen und die Federn die darum herum hinter der Maske hervorschimmerten. Der Rest verschwand unter weiten, hellbraunen Gewändern und dem Tuch, das Alcyons Gesicht fast vollkommen verbarg. Vielleicht war das auch nicht mal sein richtiger Name, wer wusste das schon.
Beroes Sicht kehrte langsam zurück, während sie sich dem Tor der Festung näherten, die bereits für sie geöffnet wurden. Sein Banner, das einer der Männer führte, die hinter ihm ritten, hatte man wohl schon bemerkt. Über
ihren Köpfen wehte eine Flagge mit dem Drachen des Kaisers und darunter etwas kleiner, Beroes persönliches Wappen, ein roter Engel, auf dessen Brust ein weißer Löwe zu sehen war.
Die Mauern waren tatsächlich so stark, wie sie aus der Entfernung gewirkt hatten und das Torhaus kam Beroe schon mehr wie ein kurzer Tunnel vor, an dessen Ende sich der äußerste Hof der Erdwacht befand. Waren die ersten Wälle niedrig und gedrungen, war die Freifläche auf der sie ihre Pferde zum Stehen brachten, von weiteren, und bedeutend höheren Mauern umschlossen. Die Festung bestand aus insgesamt drei, ineinander gelegenen Mauerringen, die
beständig höher wurden. Während sich auf dem ersten Hof, auf dem sie sich nun befanden, vor allem Wirtschaftsgebäude und kleine Häuser aus Holz aneinander reihten, ragten auf dem zweiten mehrere Steinbauten in die Höhe, deren Dächer von Zinnen gekrönt waren und die den Soldaten der Festung als Unterkunft dienten. Auf dem innersten Ring schließlich befand sich der eigentliche Bergfried, eine große Turmanlage, umgeben von einem Wassergraben und einem zusätzlichen Erdwall.
Beroe ließ das Pferd langsamer gehen, während er sich im ersten Innenhof umsah. Die Hufe der Tiere hatten Staub aufgewirbelt, der sich langsam wieder
setzte, irgendwo gackerten ein paar Hühner… und das Geflüster war da, natürlich. Die Leute, die im Hof arbeiteten, gaben ihr Bestes, ihn nicht anzustarren, aber wenn sie glaubten, dass er die hastigen Blicke und die Gemurmelten Worte nicht bemerkte, dann irrten sie sich. Langsam streifte er den linken Handschuh ab und drehte ihn Gedankenverloren in der anderen Hand, während sie zum zweiten Torhaus hinauf ritten.
Das Geflüster folgte jedem ihrer Schritte, wie ein geisterhaftes Omen. Und hatte der Hof eben noch vor Leben vibriert, war die meiste Arbeit so gut wie zum Erliegen gekommen. Selbst die
Wachen auf den Zinnen und Türmen sahen zu ihnen herab.
„Der Engel… der Kaiser hat ihn wirklich her gesandt?“, konnte Beroe eine Stimme hören. Und das war alles, was die Leute je in ihm sehen durften. Mehr einem Instinkt folgend, schob er sich die Kapuze aus dem Gesicht, auch wenn ihn das grelle Licht ihn in den Augen stach. Der weiße, mit Federn besetzte, Mantel, der ihm um die Schultern fiel, mochte auf manche tatsächlich wie Flügel wirken und die hellen, fast leuchtend weißen Haare, verstärkten wohl nur den Eindruck, der ihm seinen Namen und letztlich auch sein Wappen eingebracht hatten. Beroe war sich der beinahe
abergläubischen Ehrfurcht, die ihm manche entgegenbrachten, nur zu bewusst. Und er hatte begonnen, sie sich auf seine Art zu Nutze zu machen. Die mit Einlegearbeiten aus Elfenbein und Perlmutt verzierte Rüstung die er trug war genauso darauf ausgelegt, Ehrfurcht zu erzeugen, wie abzulenken. Von den Dingen, die manche eben nicht sehen sollten. Gedankenverloren berührte er mit der linken Hand den kleinen Talisman, der an einer Silberkette um seinen Hals hing. Eine verschlungene Figur aus verschiedenen, geometrischen Formen, in deren Zentrum ein winziges Juwel , hell wie Wasser glühte. Ein leichtes Kribbeln machte sich in seinen
Zehenspitzen breit, als er sie berührte Die Finger, die nach dem Amulett griffen, waren die eines Menschen und doch schienen sie kurz zu verschwimmen, wie Morgennebel, der plötzlich von einer Windböe geteilt wurde . Beroe zog die Hand zurück . Niemand hier würde je mehr als das sehen, was er sollte, nur einen Mann mit beunruhigend roten Augen, heller Haut und Haaren, die er unter einem weiten Mantel vor der Sonne versteckte.
Gemeinsam ritt die kleine Gruppe durch das zweite Tor bis zu den Stallungen, wo er seinen Leuten den Befehl zum Anhalten gab. Das Geflüster war ihnen den ganzen Weg bis hier gefolgt, doch so
Neugierig die Händler und Reisenden im äußeren Hof sein mochten, sie hatten noch genug Respekt vor den Wachen an den inneren Toren um Abstand zu wahren. Beroe schwang sich aus dem Sattel, während bereits die ersten Stallburschen angelaufen kamen um ihn und seinen Begleitern die Tiere abzunehmen. Beroe ließ sie gewähren, während er sich zu Alcyon und Loken umdrehte. Sein Ziehvater hatte das Pferd bereits selbst von seinem Sattel befreit, ehe der erste Junge ihn erreichte und drückte dem überraschten Diener schlicht die Zügel in die Hand.
An Alcyon jedoch schien sich niemand wirklich heran zu wagen, während der
vermummte Mann die Schnüre löste, die sein Gepäck am Sattel seines Pferds hielten, allen voran eine seltsame, längliche Konstruktion aus einem Metallrohr und einer hölzernen Auflage. Mit einigen raschen Bewegungen hatte Alcyon das Gewehr zusammengesetzt und die seltsam anmutende Waffe geschultert. Erst dann trat er weit genug von seinem Pferd zurück, das sich die Stallburschen näher trauten.
Beroe hatte bereits gesehen, wie der Mann mit dem Gewehr umging, auch wenn er den Vorgang nach wie vor nicht verstand. Offenbar war es eine Art von Waffe, die Alcyons Volk ersonnen hatte und auch wenn ab und an einmal welche
in die Hände des Kaiserreichs fielen, so hatte bisher niemand genau erschlossen, wie sie funktionierten. Und Alcyon und die wenigen seinesgleichen, die man antraf, schwiegen beharrlich. Und er hat mir bis heute nicht mal verraten, was sein Volk überhaupt ist, dachte Beroe. Oder wo. Entweder gab es nicht viele von ihnen oder sie verirrten sich zumindest nicht in großer Zahl nach Canton.
„Ich hoffe, ihr hattet eine gute Reise, Herr.“, meinte einer der Jungen derweil , offenbar unsicher, was er sonst tun sollte.
„Erträglich.“, antwortete Loken, ehe sich Beroe zuwendete und mit großen
Schritten auf ihn zukam. Direkt voreinander stehend, reichte er dem Prätorianer grade einmal bis zu den Schultern, obwohl. „Ihr könnt dem Kommandanten mitteilen, das die Gesandten eingetroffen sind. Ich erwarte, dass er Lord Trahan den Befehl über die Garnison überlässt.“
Verzeiht Herr…“ Der Bursche räusperte sich. „Ich fürchte, das wird schwer möglich sein. Lord Quintus ist nicht mehr hier, fürchte ich. Er… ist gefallen. Und das schon vor fast zwei Wochen. Zumindest vermuten wir das.“
„Ihr vermutet es?“ Loken runzelte die Stirn.
„Er ist mit zwanzig seiner besten
Männer ausgezogen, als er die Nachricht erhielt, das der Kaiser ihn ablösen will. Seine Absicht war es, eines der Gejarn-Dörfer nahe der Grenze zur Umsiedlung zu zwingen um den Kaiser etwas vorweisen zu können. Wir haben mittlerweile zwar das Land diesseits des Erdschlunds unter Kontrolle, aber über die Brücken hinaus weigern die Clans sich nach wie vor sich dem Kaiser zu unterwerfen. Er ist nicht mehr zurückgekehrt. Natürlich haben wir versucht ihn zu finden, aber jenseits dieser Brücken gibt es nur noch Wildnis, Herr.“
„Und kann ein einzelnes Dorf wirklich euren besten Männern gefährlich
werden?“ , verlangte Beroe nun zu wissen. Nein, dachte er bei sich, als der Diener nicht antwortete. Natürlich nicht. Er hatte die Clans bereits selbst bekämpft. Zwanzig hochgerüsteten Rittern Cantons hatte eine Siedlung Gejarn nichts entgegenzusetzen.
„Das erspart mir immerhin, ihn in die fliegende Stadt zurück zu zerren, damit er Rechenschaft ablegen kann.“, meinte Loken , ehe er dem Burschen mit einer Geste zu verstehen gab, das er entlassen war.
„Vermutlich hat er damit gerechnet und ist lieber in die Wälder geflohen.“ Beroe schüttelte den Kopf. „Die Clans werden sich um ihn gekümmert haben, wenn er
nicht nach Osten entkommen ist.“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg hinauf zum dritten Tor der Festung. Das wenige, was sie an Gepäck dabei haben, würde man vermutlich später ebenfalls nach oben bringen. Heute jedenfalls, würden sie nicht mehr viel bewirken können, entschied Beroe mit einem kurzen Blick in Richtung Sonne, die mittlerweile schon begann, hinter dem Horizont zu versinken. Morgen würde er damit beginnen, sich die Gegend anzusehen. Vielleicht ließen die Clans ja mit sich reden. Immerhin… wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, der auf Augenhöhe mit ihnen sprechen konnte. Auch wenn sie das
kaum erkennen würden… Und er kannte sie. Wenn es nötig wäre, würde er auch die Clans jenseits des Erdschlunds in die Knie zwingen. Genauso wie er es mit jenen getan hatte, die sich ihm in den restlichen Herzlanden wiedersetzt hatten. Nur ein Narr würde eine friedliche Lösung ausschlagen, solange es eine gab. Aber die Geduld des Kaisers währte nicht ewig…