Ach, welch aufregender Tag das heute war. Er wird bestimmt einen beachtlichen Teil meiner Memoiren einnehmen, falls ich wirklich jemals etwas schreiben werde.
Er fing schon so verrückt an. Frau Holle, die Oberbefehlshaberin über uns Schneeflocken, war heute ganz besonders übel gelaunt. Penibel kontrollierte sie zeitig am Morgen unser Aussehen und fand wie meist etwas daran auszusetzen: „Deine äußeren Zacken sind total verrußt, ab in die Waschmaschine“, ordnete sie, mit einem strengen Blick auf mich, lautstark an. „Strafweise wirst du heute fasten, weil du nicht gut auf dein Äußeres achtest. Eine Schneeflocke hat stets schneeweiß zu sein, hast du mich
verstanden?“
Gedemütigt nickte ich. Fasten - nicht das kleinste Quäntchen Feuchtigkeit für den ganzen Tag. Das waren ja schreckliche Aussichten.
Die Umweltverschmutzung machte uns in letzter Zeit wirklich sehr zu schaffen. Mit etlichen anderen Mädels drehte ich also meine Runde in diesem Blechkasten und in der Tat, strahlend weiß verließen wir die Trommel. War wirklich ein tolles Gefühl wieder rundherum sauber zu sein und dieser Frischeduft, einfach herrlich.
Doch die Stimmung auf unserer Wolke blieb weiter mies. Um nicht noch tiefer in Trübsinnigkeit zu verfallen beschlossen Elvira, Margot und ich, heute einen Ausflug auf die
Erde zu wagen. Lange genug hatten wir uns ja darauf vorbereitet. Unzählige Karten studiert, stundenlang das freie Schweben geübt und uns mit dem Kompass vertraut gemacht. Endlich sollte es losgehen. Natürlich waren wir alle etwas aufgeregt,
Noch schnell die obligatorische Nachricht an Frau Holle, die sie hoffentlich noch vor Feierabend erreichen würde, so verlangt es nämlich unser Dienstvertrag. Ein kurzer aber herzlicher Abschied von unseren Freundinnen und schon schwebten wir.
Anfangs gab es nicht viel zu sehen. Wir fassten uns an den Händen und drehten uns im Kreis, immer schneller und schneller, der Nordwind gab das Tempo vor. Es war so lustig, dass wir kaum merkten, dass wir immer
tiefer sanken. Unsere Heimatwolke war längst unseren Blicken entschwunden. Tiefer und tiefer ging es ins unbekannte Nichts.
Plötzlich konnte man in der Ferne ganz deutlich die ersten Berggipfel erkennen. Es war ein einschneidendes Erlebnis. Ein Traum in Weiß. Steile Felswände, zackige Bergspitzen, alles schien in Puderzucker eingehüllt. Ich war überwältigt. So märchenhaft schön hatte ich mir die Erde nicht vorgestellt. Auch Margot und Elvira waren beeindruckt. Wir verlangsamten jetzt unser Tempo um ja nichts zu versäumen, denn die unterschiedlichsten Landschaften zogen an uns vorbei. Große bedrohliche Städte, kleine gemütliche Dörfer, Seen und Wälder ergaben ein buntes Mosaik des Erdenlebens.
Gerade als wir über einem hohen Kirchturm schwebten, verabschiedete sich Elvira mit einem feuchten Händedruck. Sie wollte bleiben, wollte jeden Tag diese wunderbare Aussicht genießen. Sie war immer schon neugierig gewesen und hier konnte sie in der Tat in jedes Haus sehen und hörte vielleicht auch den neuesten Klatsch, wenn sie die Bewohner beim sonntäglichen Kirchgang belauschte. Eigentlich tat es mir leid, doch ich wusste, wir konnten nicht länger zusammen bleiben.
Bald darauf verabschiedete sich auch Margot. Sie hatte einen Kindergarten entdeckt. Eine muntere Schar kleinster Knirpse versuchte sich im Umgraben. Unermüdlich schaufelten sie riesige Schneehaufen von einer Seite auf
die andere. Wahrscheinlich sollte es irgendwann ein Schneemann werden, doch im Augenblick war es nur verschmiertes, pappiges Zeug und glich eher einem Teller Kartoffelbrei. Und dieser Radau, nichts für mich.
Schon etwas müde geworden flog ich langsam weiter, da las ich die Ortstafel „Kitzbühel“. Davon hatte ich schon viel gehört. Hier gab es auf dem Hahnenkamm die berühmteste Abfahrt der Welt, die gefürchtete Streif. Leise pirschte ich mich heran und tatsächlich, hier fand gerade ein großes Rennen statt. Der 2.Durchgang war gerade im Laufen, das hieß nur die besten Läufer waren am Ende noch am Start. Die Durchschnittsathleten hatten bereits das Ziel passiert. Toll! Ganz genau
mein Fall. Hier wollte ich dabei sein.
Möglichst unauffällig arbeitete ich mich bis zum Start vor und schon war es vollbracht. Ich saß fest verankert auf Marcels Schulter und los ging der atemberaubende Höllenritt. Ein paar kräftige Schwünge und schon waren wir in der Mausefalle. Die engen Haarnadelkurven meisterte er mit Bravour. Durch die Kompression geradewegs hinein in den Steilhang. Drück aufs Tempo, Marcel. Geh an deine Grenzen. Die Zwischenzeit leuchtet grün auf. Siebenachtel Sekunden Vorsprung. Super! Achte auf die Bodenwellen, die könnten dir gefährlich werden. Wir schaffen das, denk an das Preisgeld und eventuelle Sponsorenverträge. Als Klient des besten Steuerberaters der Nation kann ja das kein
Problem sein. Hausbergkante - Sprung - toll gemeistert. Den Zielhang mussten die Streckenposten frisch bohnern, er ist spiegelglatt und glänzt eisig in der Sonne, genauso liebst du es. Mit den letzten Kräften ab in den Zielschuss. Du schaffst es wieder. So habe ich ihn immer angefeuert und es wirkte. Mit einem Vorsprung von über einer Sekunde passierten wir die Ziellinie.
ERSTER!!!
Im Zielraum grenzenloser Jubel. Sofort stürzten sich Journalisten mit ihren hochtrabenden Worten auf Marcel. Richtig unsympathische Kerle meiner Meinung nach, doch man darf sie nicht vergraulen, sonst schreiben sie schlechte Kritiken, so ist das Leben.
Neben dem Souvenirshop sah ich schon das Siegertreppchen.
„Marcel, beeil dich! Wir müssen zur Siegerehrung.“ Fast hätte er sich verplaudert, so glücklich war er und ich auch.