DIRIGIEREN
Die Elbphilharmonie Hamburg wurde eröffnet.
Heute morgen sah ich einen Ausschnitt vom Eröffnungskonzert.
Wie ein Film schob sich beim Anblick des Dirigenten eine Erinnerung vor mein geistiges Auge.
Ich stand als Dirigent auf einer Bühne vor einem Orchester.
Es war 1965, ich war zur Kur in Bad. S.
Wir waren zu einem Konzert des Kurorchesters eingeladen. Mitten im Vorspiel stockte die Musik und der
Dirigent fragte, wer denn Lust hätte, so einen Klangkörper zu dirigieren.
Manch einer wollte schon den Taktstock schwingen, aber niemand traute sich.
Hinter mir und neben mir tuschelte es: „Du kannst doch Gitarre spielen, mach doch mal, versuche es!“ Ich wurde immer kleiner und wurde fast geschoben.
Dann stand ich auf der Bühne. Welch ein Gefühl! Über den anderen! Und dann bekam ich einen Taktstock in die Hand gedrückt. Das Orchester spielte und es klang genial. Sicher hätte es auch ohne mich geklappt. Sicher war es nur ein kleiner Augenblick, aber ich war ein Stück näher zur Musik gerückt, sozusagen infiziert. Vielleicht war ich
auch zwei Zentimeter gewachsen.
Und Karin hatte es gesehen. Meine Chancen bei ihr waren mit Sicherheit gestiegen.
Karin L. aus Dresden war meine heimliche Liebe. Im Alter von vierzehn Jahren beginnt der Tanz der Hormone und man braucht eine Freundin. Doch da war noch ein Bewerber. Er war ein Stück größer und kräftig und hatte gewelltes Haar. Karin stand zwischen uns.
Lange lag ihr Porträt in einer der Schachteln, in denen ich Bilder gesammelt habe. Auf die Rückseite hatte sie ihren Namen geschrieben und das Foto war ganz zerknittert, weil ich es oft unter dem Kopfkissen verborgen
hatte.
Kann sein, dass der Abzug im Fotolabor des Heimes entstanden ist. Dort lernten wir, wie man Vergrößerungen anfertigt und Abzüge selbst entwickelt. Diese Bilder hatten das Format Weltpostkarte, waren matt und manche in Sepia.
Ich erinnere mich an Einzelaufnahmen von meinen Freunden und mir, aber auch an ein Gruppenfoto mit Klaus Poche (genannt der Dicke), einem Freund und meinem Konkurrenten bei Karin.
Die Kur ist nun schon 52 Jahre her. Doch der Moment auf der Bühne und die zarte Liebe zu Karin sind in Erinnerung
geblieben.
JFW 20.01.2017