Kurzgeschichte
Hinter den Scheiben

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"Eine kleine Geschichte über die Nacht, die Zeit und die Menschen hinter den Scheiben."
Veröffentlicht am 12. Januar 2017, 70 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Über mich gibt es erstaunlich wenig zu sagen. Ich schreibe. Hin und wieder. Zeitweise auch mal öfter und intensiver. Ich denke zu oft, urteile zu schnell und merke mir definitiv zu wenig ... zumindest zu wenig von den unwichtigen Sachen die die Welt bewegen und sie dennoch nicht verändern. Ich verabscheue Oberflächlichkeiten und Smal-Talk, rede gern, wenn ich wirklich was bei zu tragen habe, und schweige ansonsten lieber. Ah, und ohne die ...
Eine kleine Geschichte über die Nacht, die Zeit und die Menschen hinter den Scheiben.

Hinter den Scheiben

hinter den Scheiben

Ich habe Zeit. Seit langem einmal wieder, auch wenn es nur anderthalb Stunden sind. Dann muss ich am Busbahnhof sein, welcher aber mühelos in fünfzehn Minuten zu erreichen ist. Ein selten gewordenes Geschenk, Zeit zu haben, unverplant und frei. Was fange ich damit an? Schließlich ist es kein Sommer mehr, ganz im Gegenteil, nur wenige Tage trennen die laubbefreite Welt um mich herum noch vom Winteranfang. Kein Kurze-Hose-T-Shirt-Wetter also. Ich könnte, wie viele in diesen frühen Abendstunden, einfach die S-Bahn nehmen, dann wäre ich schon fünf Minuten später am Ziel und hätte immer noch fast anderthalb Stunden Zeit. Wofür? Sicher gibt es dort ein Café, in dem ich mir das Warten mit einem generischen Heißgetränk aus der Hochleistungskaffeemaschine versüßen würde. Die andere Hand natürlich am Smartphone,

soziale Kontakte pflegen, also lesen was meine „Freunde“ so kochen, mit wem sie streiten, welchem Prominenten sie ähnlich sehen und welches Tier sie im nächsten Leben sein werden. Notfalls noch eines der kleinen, aber ungemein Zeit fressenden Spiele und schon sind die anderthalb Stunden verflogen, ohne wirklich etwas Sinnvolles getan zu haben.


Aber nein, irgendwas in mir wehrt sich energisch dagegen. Die Aussicht, wieder einmal ein paar Minuten zu laufen, jene Beine ausgiebig zu bewegen, welche im Büro-Alltag nur dazu da sind, dem Oberkörper ein Gegengewicht zu geben, damit er nicht auf die Tastatur klappt, ist zu verlockend. Also abgemacht, ich laufe, so weit ist es ja nicht und ein wenig frische Luft, die heute tatsächlich mal ihrem Namen alle Ehre macht, kann sicher auch nicht schlecht für mich sein.

Dann brauche ich das Handy doch noch einmal, schließlich will ich nicht ziellos dahin laufen, auch wenn mir genau danach der Sinn stünde. Ich habe einen Anfangs- und Endpunkt, die Frage ist nur, wie viel Zeit ich mir für die Strecke dazwischen nehme. Der Routenplaner aus Suchmaschinenhand schlägt mir zwei Alternativen vor. Die erste ist langweilig. Über ein paar Ampeln, an der Hauptstraße entlang, dann unter einer gruseligen Unterführung hindurch, nächste Hauptstraße und schon wäre ich da. Zeit, sechzehn Minuten, berechnet am deutschen Fußgängerdurchschnitt. Route zwei wirkt geringfügig interessanter und ist ausbaufähig. Auch hier beginnt es mit ein paar Ampeln, eine viel befahrene Straße entlang, um dann aber kurz nach einer Haltestelle gewagt in eine Seitengasse abzuknicken. Von dort aus vierhundert Meter am Bahndamm entlang, danach abbiegen auf die erste Brücke, über das

Gewirr aus Gleisen hinweg und ich hätte mein Ziel ebenfalls erreicht. Zeit, fünfzehn Minuten. Macht also kein Unterschied, aber diese Alternative versprüht geringfügig mehr Charme.

Auf der Straße angekommen stelle ich erstaunt fest, dass sich die null Grad gar nicht so kalt anfühlen. Kurz hatte ich im Hausflur noch überlegt, neben dem obligatorischen Schal auch noch die Handschuhe über zu Streifen. Aber mit den Dingen ein Handy zu bedienen - erstaunlich wie dieses Teil meine Entscheidungsfindung beeinflusst. Lieber kalte Pfoten als nicht erreichbar zu sein? Aber wie gesagt, so frostig ist es vor der Tür gar nicht, was auch an der städtischen Eigenwärme liegen mag. In die allgegenwärtigen Häuserschluchten verirrt sich nur selten ein raues Lüftchen.



Sicher, von warm oder angenehm lauwarm zumindest ist die gefühlte Temperatur weit entfernt. Aber noch deutlich über der Grenze des Erträglichen und wenn man sich gut verschnürt hinaus wagt, erfriert man auch nicht gleich nach wenigen hundert Metern.

Den ersten Teil des Weges kenne ich. Die Hauptstraße entlang, an den großen Hotels vorbei, die hier immer gut belegt und dementsprechend geldgierig sind. Kein Wunder, ein paar Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, gerade so weit das man kein Taxi braucht. Selbst dann nicht, wenn man genug Geld hat um eigentlich nicht mehr selbst laufen zu müssen. Natürlich ist jeder Eingangbereich bis hinein in die mondän ausgestatteten Lobbys reich und möglichst kitschig mit Lichterketten behangen. Das Fest der Liebe scheint allgegenwärtig, selbst wenn der Hype darum schon Mitte November verklungen war und sich

schleichend in einen dauerhaften Kaufzwang verwandelt hat. Wie jedes Jahr, oh du schöne, besinnliche Vorweihnachtszeit.

Die erste Ampel klaubt meine düsteren Gedanken auf und zwingt sie, sich auf die Unterscheidung der Farben grün und rot zu konzentrieren. Rechts von mir klafft nun die Unterführung, hier trennt sich Route eins von Route zwei. Gut das ich da nicht durch muss. Danach weiter an der Straße entlang, begleitet von hunderten Autos, welche aber hier nur eine Richtung zur Verfügung haben. Das macht den Lärm zumindest erträglich. Ich passiere ein paar kleine Geschäfte, dass übliche halt, was in Bahnhofsnähe anzutreffen ist. Dubiose Second-HandY-Läden, Döner, Pizza, Goldankauf. Nichts bei dem in mir spontan der Drang entstünde, einkehren zu müssen. Ich bin ganz zufrieden mit meinem Smartphone, weder hungrig noch durstig und habe gerade auch

keine überschüssigen Goldreserven dabei, die weit unter Marktpreis verscherbelt werden müssten.

All das habe ich schon hunderte Male gesehen und ignoriert, aber genau hier beginnt mein Körper sich selbständig fortzubewegen, getrennt von Kopf und Gedanken. Mir ist nicht ganz klar warum, aber irgendwie habe ich mich in einen wohligen Zustand der Grundzufriedenheit gelaufen. Wohl auch, weil ich nicht dringend irgendwo hin muss. Über eine Stunde Zeit-Puffer stehen mir noch zur Verfügung, für zehn Minuten Fußweg. Kein Grund also hektisch eilen, stattdessen könnte ich gedankenverloren schlendern. Wunderbar und selten, auch wenn es eigentlich nicht viel zu sehen gibt. Menschen die an hygienisch fragwürdigen Tischen vorverdaut wirkende Dinge verspeisen. Goldhändler die einsam in ihren hell erleuchteten Geschäften stehen und

jeden Passanten mit Röntgenblick auf mögliche Edelmetallverzierungen in der Mundhöhle hin untersuchen. Dazwischen Einfahrten in Tiefgaragen, schmucklose Haustüren, gespickt mit stümperhaft beschrifteten Klingelschildern und Zugänge zu unbeleuchteten Hinterhöfen. Alles trist und kaum bewundernswert, aber irgendwie dennoch faszinierend, denn ich nehme mir die Zeit, diese Details auf zu saugen. Erst jetzt bemerke ich, dass links von mir immer noch Autos fahren. Die hatte ich wohl kurzzeitig komplett ausgeblendet, ein Kunststück das mir sonst nie gelingt.

Derweil verzieht sich das letzte, natürliche Licht vom Himmel über mir und weicht jenem orangen Grundrauschen, welches Städte in dieser Größe unweigerlich am Firmament hinterlassen. Dunkel genug um wohlwollend als "Nacht" durchzugehen, aber noch viel zu hell, wenn man die Absicht hegt, astronomisch

relevante Objekte erkennen zu wollen. Nur der Mond schafft es, wenn auch dunstig verschleiert, diese Wand aus Licht zu durchbrechen. Er ist der einzige Beweis, dass der Nachthimmel eigentlich fast sternenklar sein muss, so wie es ortsansässige Meteorologen schon am Nachmittag orakelt hatten.

Mein Blick fällt auf ein Haltestellen-Schild. Entweder man hat meinen Orientierungspunkt zum Abbiegen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion heimtückisch umbenannt, ohne die weltweit größte Suchkrake darüber in Kenntnis zu setzen, oder ich bin zu weit gelaufen. Wie konnte ich die erste übersehen? Wo bin ich gerade? Ein Fünkchen Ärger vermiest meine euphorische Grundstimmung, schließlich sollte kurz nach besagter Haltestelle eine kleine Straße nach rechts abbiegen und dort später auf den Bahndamm treffen. Nun gilt es nach einer

Alternative zu suchen, um nicht bis zur Brücke an der Hauptstraße entlang laufen zu müssen.

Dem umsichtigen Stadtplaner sei dank findet sich diese recht schnell. Eine weitere Straße, eher spärlich beleuchtet, aber sauber und bis auf den letzten Zentimeter zu geparkt, biegt wenige Meter weiter nach rechts ab und nimmt mich mit. Schnell verebbt der Lärm und die Lichter hinter mir. Alte, ehrwürdige Häuser mit dicken Mauern und verzierten Fenstersimsen sucht man hier aber vergebens. Sollte es sie einst gegeben haben an diesem Ort, sind sie schon vor längerer Zeit nüchternen, schmucklosen Zweckbauten gewichen. Wohnfläche um jeden Preis, Lage egal, Balkon nicht eingeplant, Grünfläche spärlich, dafür aber sauber gemäht, auf das kein fremder Grashalm sich erdreiste, die Mieter in ihren kaum erschwinglichen Zweiraumwohnungen optisch zu belästigen.

Schließlich haben die es hier schon schwer genug.

Dann, fast unvermittelt, tut sich vor mir ein feingliedrig gewebtes Netz aus Bahnschienen auf. Locker fünfundzwanzig Paare, alle wie auf Hochglanz poliert schimmernd. Schon in meiner Kindheit war ich, wie viele in diesem Alter, von Zügen, Gleisen, Weichen und den dazu gehörigen Oberleitungen fasziniert. Die große Zeit der Modelleisenbahnen, fast jeder in meiner Klasse hatte eine, hegte sie liebevoll und tauschte auf den Schulhof rege überschüssige Zubehörteile. Besonders nach Weihnachten oder Ostern, da weder der Mann im roten Schlafanzug, noch Meister Lampe den gravierenden Unterschied zwischen N und H0 zu kennen schien. Eine schöne Zeit, auch wenn mir heute wohl die Geduld für ein solches Hobby fehlen würde. Warum eigentlich?

Dennoch verspüre ich beim Anblick von Zügen und Bahnanlagen bis in die Gegenwart noch hin und wieder etwas Wehmut, verbunden mit der Lust, wieder selbst ein paar Schienen ins Plastik-Schotterbett zu legen. Doch das ist es nicht, was mich kurz innehalten lässt, nicht dieses mal zumindest.

Es ist die gespannte Ruhe, in der die platt gewalzten Stahlstreben zuhauf vor mir ausgebreitet liegen. Bis ein Zug sie kurzzeitig an ihre eigentliche Bestimmung erinnert, in dem er polternd und quietschend über sie hinweg rumpelt. Oder sanft gleitend, wenn er neueren Baujahres ist. Dann kehrt die gespannte Stille zurück, als wäre nichts gewesen. Wo er so plötzlich her kam oder wo er hin will bleibt unbekannt. Nur eine Momentaufnahme, ein kleiner Ausschnitt einer viel längeren Fahrt.

Ich drehe mich nach links und sehe, dass ein gepflasterter Weg parallel am Bahndamm entlang führt. Genau den hatte ich gesucht, weswegen ich auch nicht zögere, ihm zu folgen. Erst ist er unscheinbar, fast etwas verwittert, als wolle er sich an das Gebäude an passen, welches nun links von mir hoch auf ragt. Hier wohnen Menschen, ohne Frage. Vor den Eingängen stehen Fahrräder, da die Hausflure dafür wohl zu eng und die Kellerräume zu streng bewacht sind. Meist von älteren Herrschaften, die selbst kein Fahrrad haben und auch nur ein mal im Jahr ihr vorbildlich aufgeräumtes Kellerabteil besuchen, um dort nach dem Rechten zu sehen, feucht durchzuwischen oder im mühsam über Generationen zusammen getragenen Krimskrams nach möglichen Geschenken für die unmöglichen Enkel zu stöbern.


Hier sind die meisten Fenster schwarz, also dunkel, entweder um Strom zu sparen, weshalb man sich des Restlichtes der Wegbeleuchtung bedient. Oder da man schlicht und ergreifend noch nicht zuhause ist. 17:15 Uhr. Der Tag ist ja noch jung.

Etwas weiter hinten verbreitert sich der Weg, weicht kurz einer Einfahrt und mündet dann in eine Treppe, an deren Fuß ein unmissverständliches Schild sein Dasein fristet.

"Privatweg. Betreten auf eigene Gefahr"

Und da dies noch nicht klar genug ist, schließlich könnten schlichtere Gemüter dennoch auf die Idee kommen, die Treppe würde im Winter stadtseitig von Schnee und Glatteis befreit: "PRIVATGELÄNDE"

Ich habe es verstanden, danke. Aber es interessiert mich auch nicht weiter, schließlich laufen meine Beine schon selbständig die Stufen hinauf, auch wenn der Kopf noch kurz überlegt, warum gerade dieser Teil des Weges in privater Hand liegt. Wo doch der Rest schön öffentlich zugänglich ist, inklusive Winterdienst und deutlich wattverstärkter Beleuchtung. Egal. Am Erscheinungsbild ändert das nicht viel. Hauseingänge, Klingelschilder mit nichts sagenden Namen darauf, aber zumindest standardisiert. Hier scheint der Neumieter erst mal zum Graveur um die Ecke geschickt zu werden, damit auch jeder das braungoldfarbene Plakettchen mit weißer, eingestanzter Schrift bekommt und nicht auf die Idee kommt, den Namen in eigener Kreativität neben den Klingelknopf zu kritzeln. Trotz all dieser kleinen Spießereien genieße ich meinen abendlichen Ausflug mehr und mehr.

Die Luft ist hier klarer als an der Straße, wenn auch etwas frischer, da die riesige Gleisanlage zu meiner rechten eine Schneise in die Stadt pflügt und somit auch so manchem, frostigen Wind freie Bahn lässt. Ich ziehe den Reißverschluss der Jacke über den Schal, so dass nur noch der Kopf heraus schaut und jede Vermutung bezüglich eines eventuell darunter befindlichen Halsansatzes zur reinen Spekulation verkommt.

Dann sehe ich sie, die Brücke. Ein älteres Bauwerk, nach unten hin flach und auf dicken Stützen zwischen den Gleisen ruhend. Darauf mehrere, wuchtige Rundungen aus Stahl, sicher schon hunderte Male mit Farbe verschönert und doch immer noch alt und etwas unschön wirkend. Sie mag so gar nicht hinein passen in die modernen Gebäude drum herum, als hätte man sie einfach vergessen. Am anderen Ende, der Busbahnhof. Erst zwanzig Minuten sind

vergangen seit meinem Aufbruch, auch wenn es mir mehr vorkommt. Ich bin zu früh. Deutlich zu früh. Schlendern will geübt sein.

Wieder die Überlegung. Dem vorbestimmten Weg folgen, dann Café, generischer Kaffee, Handyspiel zum Zeitvertreib? Während ich noch versuche eine Entscheidung zu fällen, Alternativen abzuwägen und die dafür benötigte Zeit im Kopf abzuschätzen, hat alles unterhalb des Gehirns schon längst entschieden. Scheinbar ist mein Körper mir überdrüssig und geht eigener Wege, direkt über die Straße, zwischen den kriechenden Autos mühelos hindurch, bis auf die andere Seite. Dort kreuzen wir den Weg einiger Passanten, die entweder auf die Brücke und darüber hinweg, oder gerade von ihr herunter kommen. Keiner nimmt Notiz von mir, sieht die uneinige Mixtur aus stur laufenden Beinen, eingemummelten Körper und grübelnden Kopf

auf den Fußgängerweg weiter laufen. Gleiche Richtung wie zuvor, am Bahndamm entlang. Die nächste Brücke kommt bestimmt, kein Grund dieses kleine Abenteuer jetzt schon zu beenden.

Sicher bin ich nicht der erste der diesen Weg geht. Schließlich muss irgendjemand die Pflastersteine ja verlegt und sie danach zumindest ein mal auf ihre Trittsicherheit überprüft haben. Aber zumindest kommt es mir in diesem Moment so vor, als würde ich Neuland betreten. Weder vor noch hinter mir kann ich andere Passanten aus machen, obwohl der Weg hier sogar deutlich breiter ist als noch vor der Brücke. So breit, dass er selbst dem Architekten zu kahl erschien, weshalb er beschloss, zwei Wege daraus zu machen, geteilt durch einen kärglichen, aber zumindest gut gemeinten Grünstreifen. Vermutlich gibt es Bauvorschriften die genau festlegen, wie weit

ein Gebäude vom Bahngebiet entfernt sein muss. Erstaunlich viel Platz also, komplett ungenutzt, dabei könnte man so viel draus machen. Ich denke spontan an Elefantenrennen. Oder ein Riesenrad samt Schießbuden drum herum. Denkbar wäre auch das nächste Volksfest hier hin auszulagern. Aber nein, mehr als einen überdimensionierten, verlassenen Weg wird es hier nicht geben, schließlich geht keine der Türen des angrenzenden Bürogebäudes nach hinten hinaus. Vielleicht um Raucherpausen zu vermeiden? Oder aus Angst das sich die Angestellten in der Pflastersteinwüsste verlaufen?

Ein Fahrradfahrer braust an mir vorbei. Wo kam der her? Normalerweise klingeln die doch schon mehrere hundert Meter vorher aufgeregt, wenn sie unbedarfte Fußgänger erspähen. Schnell ist er wieder verschwunden und vergessen. Ich laufe langsamer, nein, meine

Füße drosseln das Tempo etwas, so ist es richtig. Das kühle Licht von Energiesparlampen dringt aus den hell erleuchteten Büros zu mir herüber. Darin zeigt sich geschäftiges Treiben und ich frage mich, wann diese Leidensgenossen wohl Feierabend haben werden. Ich sehe sie arbeiten, auf Tastaturen herum hacken, in Bildschirme starren oder gewichtig wirkend konferenzieren. Ein rein optischer Reiz, denn nach draußen, durch die dicken, vollflächigen Fenster dringt keinerlei Laut. Hier ist alles still, von der leisen, immer mitwabernden städtischen Soundkulisse mal abgesehen. Eine Mixtur aus Straßenlärm, vorbei eilenden Zügen und unverständlichen Gebrabbel, vermischt mit Geräuschen, deren Ursprung nicht klar definiert werden kann. Möglicherweise Bauarbeiten, irgendwo wird irgendwas verladen.



Alles so leise und ineinander fließend, dass es ein sanfter, urbaner Soundteppich wird, der nicht störend, sondern im Gegenteil, irgendwie beruhigend wirkt.

Es ist sehr angenehm, nicht hinter dieser Scheibe sitzen zu müssen, stelle ich fest. Hier draußen spricht niemand mit mir und ich muss niemanden antworten. Es mag eigenartig klingen, aber für mich ist das pure Erholung. Den ganzen Tag über kommuniziere ich. Lese und beantworte E-Mails, telefoniere oder rede, wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit meinen Kollegen. Das ist mein Job, klar, dafür werde ich bezahlt, er finanziert zur Hälfte unser Leben, unsere Wohnung, den Garten, die Haustiere und all die kleinen Annehmlichkeiten drum herum. Doch gerade jene Momente in denen ich nicht gezwungen bin zu kommunizieren sind manchmal reiner Seelenbalsam. Ich muss nicht nach Fragen oder

Antworten suchen und kann mich dadurch auf meine anderen Sinne konzentrieren. Das schafft Platz im Kopf um nachzudenken. Nicht über weltwichtige Dinge. Einfach die Augen und Ohren aufsperren und alles was man hört und sieht in sich auf saugen. Ganz egal ob es schön oder hässlich ist. Gespannt sein, was der Kopf daraus macht, wohin einen die Gedanken...

"Hey, was machst du hier?" höre ich plötzlich eine Stimme, direkt vor mir.

Dort sitzt, zumindest äußerlich in sich ruhend, eine Katze. Eine sprechende Katze. Natürlich, was auch sonst. Das Fell wirkt nur leidlich gepflegt, die Augen sind aber wachsam und starr auf mich gerichtet. Selbstverständlich kann sie nicht echt sein, ganz sicher die ersten non-kommunikativen Entzugserscheinungen. Aber davon abgesehen fällt mir kein Grund ein, ihr nicht zu antworten.

Schließlich hat sie eine Frage gestellt.


"Ich laufe."


Fasst es ja schön und treffend zusammen.


"Erzähl kein quatsch." folgt prompt die Antwort "hier läuft niemals jemand entlang. Raus mit der Sprache. Wo kommst du her, wo willst du hin, was hast du vor?"

Ich zeige mit dem Daumen über meine Schulter "von dort" dann mit dem Zeigefinger nach vorn "nach da".


Ganz sicher wird sie diese Auskunft nicht befriedigen.


"Einfach so?" fragt die Katze und legt den Kopf schief. "Hast du kein Ziel?"


Doch, habe ich, leider. Mein Ziel, zumindest das was ich mir unterbewusst gesteckt habe, ist schon in Sicht. Ein Hochhaus, noch angenehm weit entfernt. Groß, rund, wie eine riesige Kerze und natürlich hell erleuchtet. Von dort aus dann über die zweite Brücke, direkt daneben. Schließlich wächst mit jedem Schritt nach vorne auch der Rückweg und irgendwann wird unweigerlich die Zeit knapp.

Als ich wieder nach unten schaue, ist die Katze verschwunden. Vermutlich war sie ohnehin niemals da, also setzte ich mich wieder in Gang. Die großzügige Promenade erstreckt sich noch ein paar Meter weiter vor mir, dann endet sie an einem Zaun und wird von ihm nach links abgedrängt. Vorbei an der Ecke des Bürogebäudes führt sie mich auf eine Wohneinheit neueren Baujahres zu. Da ich dahinter wieder ein fast identisches Bürogebäude erkennen kann, liegt die

Vermutung nahe, dass die Wohnungen gleichzeitig mit den Geschäftshäusern erbaut wurden. Keine schlechte Idee, das minimiert die Arbeitswege und maximiert die Verfügbarkeit der Angestellten. Man muss ja ökonomisch denken.

Zu meiner rechten verliere ich die Verbindung zu den Bahngleisen, da nun ein verwittertes und verwildertes Grundstück dazwischen liegt. Ganz offensichtlich Eigentum der Bahn, ansonsten könnte ich mir die aufgeschichteten Schwellen und Schienen nicht erklären. Der Sandhaufen daneben ist kaum noch als solcher zu erkennen, ein Überbleibsel vergangener Bauarbeiten an der Strecke. Wilde Ranken haben sich auf ihm breit gemacht, selbst jetzt im Winter so dicht verflochten, dass man nur noch erahnen kann, was darunter liegt. Ist die Katze in dieses Dickicht geflohen, als ich sie kurz aus den Augen ließ? Wenn ja, würde es

unmöglich sein, sie wieder zu finden. Aber warum sollte ich dies auch tun, schließlich entspringt sie nur meiner überschwänglichen Phantasie.

Meine Aufmerksamkeit wendet sich den Wohnungen zu, welche zur linken an mir vorbeiziehen. Grob überschlagen mögen es an die zwanzig sein, aber auch hier sind nur wenige Fenster erleuchtet. Hochmodern, ganz ohne Zweifel. Die Eingänge müssen auf der anderen Seite liegen, denn Türen kann ich diesseits des Weges nicht erkennen. Dafür bewegen sich aber im inneren Menschen vor den riesigen Küchenfenstern. Zweifelsohne das größte, was es überhaupt in diesen Küchen gibt, denn selbst von außen betrachtet kann man erahnen, dass sie auf zweckmäßig und platzsparend getrimmt sind. Mehr als eine Person kann dort nicht gleichzeitig kochen. In Anbetracht der Tatsache, dass viele

Beziehungen beim Versuch der gemeinsamen Essenszubereitung in die Brüche gehen, sicher keine so dumme Designentscheidung. Es sei denn, man ist ein jahrelang eingespieltes Koch-Team, dann kommt man mit der mangelnden Bewegungsfreiheit wohl zurecht. Oder Balletttänzer.

Alle anderen Fenster sind dunkel, weshalb ich nicht erkennen kann, welche Räume außerdem noch mit Blick auf die Bahntrasse angelegt sind. Vermutlich das Bad, denn ich will und kann mir nicht vorstellen, dass man schlafen kann, wenn alle zwei Minuten ein Zug am Fenster vorbeifährt. Baden und duschen dürfte aber gehen. Nachts aber nur im Dunkeln, denn so etwas wie Gardinen, oder zumindest Rollos, meinetwegen auch Vorhänge oder Jalousien scheint es im kompletten Haus nicht zu geben. Bin ich da zu altmodisch? Oder zu prüde? Nicht offen genug, zu sehr auf Privatsphäre

bestehend? Auch wenn es für manche erstrebenswert sein mag, hier zu wohnen, zumindest aber sehr praktisch, wäre es ganz sicher nichts für mich. Dennoch bin ich mir ganz sicher, dass alle Wohnungen schon verkauft oder vermietet waren, bevor der erste Grundstein überhaupt gelegt wurde. Nach demselben Prinzip werden Designermöbel und gewisse Smartphones verkauft. Es ist teuer & exklusiv? Also muss es auch gut sein. Ein Ansatz dessen Logik sich mir, trotz all der überzeugenden Argumente, bis heute verschließt.

Was die Menschen in den Küchen übrigens treiben, kann ich nicht feststellen. Sie huschen hin und her, teilweise mit dem Handy am Ohr, um dem Ehepartner eindringlich klar zu machen, dass Abendmahl sei angerichtet. Gut vorstellbar, dass dieser gerade im Bürogebäude nebenan sitzt und die anderen Teilnehmer des

späten Meetings mit beschwichtigenden Handzeichen um Geduld bittet. Ich bin natürlich nicht neugierig. Und selbst wenn, würde es mich kaum interessieren, welche Argumente dort ausgetauscht werden, um die zweite Hälfte der Familie an den heimischen Tisch zu zitieren. Aber auch ich halte ein gemeinsames Essen pro Tag für wichtig, nein, unerlässlich, schon der Familienbindung wegen. Was mich daran erinnert, dass ich eigentlich langsam Hunger bekommen müsste. Hab ich aber nicht. Sehr ungewöhnlich. Dabei sagt man doch, dass frische Luft den Appetit an regt.

Derweil bin ich am zweiten, gläsernen Bürobunker vorbeigezogen, ohne großartig Notiz von ihm zu nehmen. Er gleicht dem ersten viel zu sehr, inklusive der Büros, Angestellten und Meetings. Eine simple Wiederholung, nicht weiter interessant. Viel

mehr mache ich mir Gedanken über die weitere Wegführung. Von weitem waren schon die parkenden Autos auszumachen, welche auch hier eng an eng jede Lücke an der kleinen Straße ausfüllen. In diese mündet der Weg, ohne aber in selbiger Richtung auf der anderen Seite weiter zu führen. Stattdessen bin ich gezwungen, nach links abzubiegen, direkt auf die Haupverkehrsstrasse zu. Mir schwand, dass es mit der wunderbaren Ruhe bald vorbei sein wird.

Tatsächlich gibt es keine Möglichkeit ihr zu entrinnen. Ein altes Gewerbegebiet versperrt die Richtung, dunkel, verschachtelt und etwas verwahrlost. Es könnte kaum einen größeren Kontrast darstellen zu den neuen Häusern hinter mir. Aber müsste ich mich entscheiden, wären die alten Gebäude meine erste Wahl. Nein, ich bin nicht altmodisch, zumindest nicht besonders. Ich mag Innovationen und

Fortschritt, mit einer Ausnahme: Architektur. Die modernen Gebäude dieser Stadt, denen ich etwas abgewinnen kann, könnte ich locker an einer Hand abzählen. Selbst wenn diese nur zwei Finger hätte. Ich mag alte Häuser, nicht nur die verschnörkelten oder befachwerkten Exemplare. Auch die eher unscheinbaren, mit knorrigen Treppen versehenen Wohnhäuser, in denen es hohe Räume gibt und kleine Fenster. Trotz ihrer Dunkelheit stahlen sie für mich mehr Wärme aus, mehr Geborgenheit, als jede noch so moderne Wohneinheit im Glas-Beton-Stahl-Look.

Es ist laut an der Straße. Nun hat sie wieder zwei Spuren, dementsprechend schnell reißt sie mich aus meinen Gedanken heraus und wirft den Nachtwanderer zurück in die Realität. Zudem scheint es mir hier etwas kälter zu sein, was aber am Fahrtwind liegen kann. Nur hundert Meter vor mir erkenne ich schon die

Ausläufer der zweiten Brücke. Dort muss ich hin, ob ich will oder nicht. Um ganz ehrlich zu sein, Letzteres gewinnt gerade deutlich die Überhand.

Trotzdem will ich weiter, denn den gleichen Weg zurückzugehen, reizt mich nicht. Ich will noch mehr neues sehen, noch viel mehr als bisher. Auch hier sind die Erdgeschosse gespickt mit Geschäften, deren Zusammenstellung sich kaum geändert hat. Wer kann denn so viel Essen? Und wer braucht so oft "neue" Handys? Außerdem, wo kommt das ganze Gold her, um so viele Geschäfte gleicher Art in so geringen Abständen am Leben zu halten? Dann aber etwas Abwechslung. Eine Baustelle.

Nein, eigentlich ein Haus, wie jedes andere, nur das es gerade von Grund auf renoviert wird. Dem rauchenden Handwerker vor der

unverputzten, zügigen Einfahrt würde eine solche Prozedur auch gut tun. Er wirkt müde, gedankenverloren, etwas heruntergekommen, aber zumindest scheint ihm die zunehmende Kälte nicht viel anhaben zu können. Kein Wunder, bei der körpereigenen Isolierung. Neben ihm klaffen mehrere, mit dicken Planen verhangene Fensterlöcher, hinter denen verhalten und diffus ein paar Baulampen glimmen. Der Mann wirft einen prüfenden Blick auf mich herab, zieht lange und tief am Zigarettenstummel und steht weiter wie angewurzelt in der Einfahrt. Schnell habe ich ihn aus den Augen verloren. Mein Blick ist nach vorn gerichtet und, ausnahmsweise, auch immer wieder einmal nach oben.

Die Stadt ist groß, mit Abstand die größte in der ich jemals war. Dennoch hat es sich hier noch nicht durchgesetzt, Hochhäuser in rauen Mengen zu errichten. Nur wenige sind bisher

aus dem Boden gewachsen, drei oder vier, meist am Rande. Die fette, runde Kerze über mir ist meines Wissens der einzige Wolkenkratzer, welcher es bis in die Innenstadt geschafft hat. Auch wenn andere Städte, vor allem jenseits des Ozeans, über dieses Exemplar nur schmunzeln würden, macht ihn seine Einzigartigkeit an diesem Ort zu etwas Besonderem. Vor allem zu etwas besonders hohem.

Immer wieder taucht seine Spitze über den Dächern auf, wie ein Riese, der alles überragt und auf uns Ameisen abfällig herab lächelt. Faszinierend und bedrohlich zugleich, genauso so empfand ich hohe Gebäude dieser Art schon immer. Meist wird mir schwindlig, wenn ich davor stehe und nach oben schaue. Ein seltsames Gefühl, besonders ausgeprägt bei Fernsehtürmen, aber auch der ein oder andere Wolkenkratzer im fernen Mainhattan hat schon

derartiges bei mir ausgelöst.

Ich biege, fast etwas geduckt und flinken Fußes, nach rechts ab, auf die Brücke. Diese ist um einiges unspektakulärer als ihre angegraute Schwester weiter vorn. Stein, Beton und Asphalt, nicht schön, nicht mal ansehnlich, aber zumindest stabil und wuchtig. Muss sie auch sein, schließlich kriechen auf vier Spuren den ganzen Tag und sicher auch spät in der Nacht, Unmengen an Autos darüber hinweg. Ein steter, nicht enden wollender Strom aus PKW´s, Bussen, Lastwagen und Motorrädern. Fußgänger natürlich auch, aber die sind für ein solches Bauwerk keine Herausforderung.

Nach ein paar Schritten fällt mein Blick auf die Großbaustelle, am Fuße der Riesenkerze. Mehr als ein überdachtes Kellergeschoss ist noch nicht zu erkennen, bin gespannt was dort aus dem Boden gestampft wird. Vielleicht ein

Adventskranz? Eine riesige Schachtel Streichhölzer? Zumindest wirkt sie ausgesprochen aufgeräumt und gut organisiert. Alles ist sauber aufgeschichtet, mit Planen abgedeckt und in Bauwägen oder Containern verstaut. Da hab ich schon deutlich kleinere Baustellen gesehen, an denen es erheblich wilder und dreckiger zu ging.

Der Anstieg den die Brücke bis zu ihrer Mitte beschreibt ist in den Beinen deutlich spürbar. Bisher liefen sie ja ohne mein aktives Zutun. Es genügten ein paar kleinere Kurskorrektur-Befehle, um den Rest brauchte ich mich nicht kümmern. Doch nun zieht sich die Strecke erheblich. Zudem lässt mich der auffrischende Wind das erste Mal seit meinem Aufbrechen aktiv frösteln. Unter mir rauscht ein Zug vorbei, weiß, windschnittig und auf Hochglanz poliert. Weiter hinten ist die S-Bahn-Station zu erkennen, welche sich direkt an die dicken

Pfeiler klammert. Davor, genau am Scheitelpunkt, sitzt auf dem Beton-Geländer ein großer, vom Wind zerzauster Rabe. Als würde er hier Wache halten oder Autos zählen. Was mir beides recht absurd erscheint.

"S4 Richtung Hauptbahnhof?" krächzt er, als ich auf seiner Höhe bin.

"Was?" entfährt es mir, etwas erstaunt, aber nicht wirklich überrascht.

"Fährt gleich. S4 Richtung Hauptbahnhof. Musst dich beeilen. Schaffst du noch."

Er blickt zur Station, an der gerade eine S-Bahn ab fährt.

"Danke, aber ich laufe" versuche ich ihm klar zu machen

"Zum Hauptbahnhof?" will da Tier verdutzt wissen

"Zum Busbahnhof. Eine Station weiter."

"Wozu? Es fährt eine Bahn. Drinnen ist es warm. Bist viel schneller da."

"Ich will nicht schneller da sein. Ich will laufen, verstehst du?"

Derweil fährt die nächste Bahn ein, hält an und spuckt ein paar Passagiere auf den Bahnsteig aus.

"Kein guter Weg. Dunkel und verwildert.“

„Das macht mir nichts, ganz ehrlich. Aber danke für den Hinweis.“

„Wie du willst. Ohnehin zu spät. Schaffst du nicht mehr"

Wieder dreht er den faustgroßem Kopf hinüber zur Station, an dem die Bahn gerade ihre Türen schließt und langsam davon rollt. Sein massiger Körper bleibt aber davon unberührt, wie ebenfalls in Beton gegossen. Als ob nur alles oberhalb der Schultern beweglich wäre.

Die Bahn verschwindet außer Sicht, der Rabe dreht sich wieder zu mir und mustert mich wortlos. Dann breitet er die riesigen Schwingen aus, stößt sich elegant nach hinten ab, dreht den Körper um die eigene Achse und segelt, ohne auch nur einen weiteren Flügelschlag zu tun, davon. Über die Gleise hinweg, bis auch er mit der Nacht verschmitzt.


Ich sehe mich um, nach links, dann rechts. Kein weiterer Fußgänger auf der Brücke, zumindest nicht so nah, dass ich ihn hätte fragen können, ob er das Tier auch sah, vielleicht sogar unsere Unterhaltung mit bekommen hat. Sprechende Raben und Katzen. Klar. Was kommt als nächstes?

Tatsächlich teile ich aber seine Besorgnis. Gibt es auf der anderen Seite der Gleise wirklich einen begehbaren Weg der mich zurück bringt? Seitdem ich im Speckgürtel der Großstadt lebe, pendle ich fünfmal die Woche genau auf dieser Strecke hinein und wieder heraus. In der Zeit hat sich hier viel verändert, vor allem auf dieser Seite der Bahnanlagen. Wo heute zwischen der zweiten Brücke, auf der ich jetzt stehe, und dem Busbahnhof weit rechts von mir fast lückenlos Bürogebäude stehen, war damals nur Brachland. Lediglich ein paar tief

ausgeschachtete Baugruben ließen erahnen, dass man vor hatte, dieses Gebiet großflächig zu bebauen. Dann wuchs das erste Gebäude aus dem Boden, jeden Tag ein Stück weiter, bis man irgendwann beschloss, dass es nun hoch genug sei und den Klotz mit einem Dach versah. Derweil hatte ein zweiter begonnen, ihm nachzueifern, dann der nächste und übernächste. Heute steht auch das letzte Bürohaus, die Reihen sind nun lückenlos geschlossen und ohne Zweifel bis auf die letzte Besenkammer vermietet.

Vor längerer Zeit sah ich durch Zufall ein Inserat im Internet, welches die Penthouse-Wohnung auf einem der höheren Klötze an pries. Edelst ausgestattet, vollständig eingerichtet, man brauchte nur noch das goldgerahmte Familienfoto auf den Kamin stellen. Um keinen Preis der Welt, und schon gar nicht zu dem der im Inserat angegeben war,

hätte ich dort mein Domizil aufschlagen wollen. Aber dazu war es auch gar nicht gedacht. Diese Wohnungen werden nicht zum Wohnen und Familie gründen verkauft oder vermietet. Sie dienen einzig der Repräsentation des eigenen Wohlstandes. Wer hier haust, lädt möglichst oft Menschen ein, um zu zeigen, dass er sich so viel Dekadenz leisten kann.

Mit diesen Gedanken betrete ich die S-Bahn-Station. Ein unschöner Bau, der in den letzten Jahren ebenfalls einige Veränderungen über sich ergehen lassen musste. Ich kann mich noch erinnern, dass im eher schmalen Durchgang zu den Gleisen früher ein Bäcker seine Teigwaren an pries, dicht gefolgt von einem Zeitungsverkäufer/Kippen-Kiosk, der aber nie geöffnet hatte. Zumindest immer dann nicht, wenn ich dort vorbei eilte. Absicht? Halbtagesjob? Nun, er musste einem „Minimarkt“ weichen, was generell keine

schlechte Lösung war. Auf geschätzten zwei mal zehn Metern bekommt man nun alles, was das zeitlose Pendlerherz begehrt. Natürlich auch Zeitungen. Und Zigaretten. Dummerweise lese ich die schon seit Jahren nicht mehr und rauche auch nicht.

Eine weitere, tolle Innovation sollte das neue, voll verglaste Passagier-Zu&Ableit-System sein. Über ein Jahr im Bau, sicher exorbitant teuer und im Endeffekt eher nutzlos. Auch wenn die Absicht sicher gut war, die Pendler mittels überdachter Brückenkonstruktion genau in die Mitte des Bahnsteiges zu überführen, hat man eins dabei nicht bedacht. Pendler sind immer zu spät dran, besonders morgens, müssen also immer eiligen Schrittes die Treppen herunter stürzen und in den letzten Wagon springen können.



Wenn man nun gezwungen wird, erst bis zur Mitte des Bahnsteiges zu rennen, ist der Zug längst abgefahren.

Dementsprechend benutzt niemand, außer ein paar Neugierige, dass neue Konstrukt und stürzt stattdessen weiter die alte Treppe herunter, um in den letzten Wagon zu hechten. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und lässt sich auch von wirklich gut gemeinten Neuerungen nicht von altbewährten Traditionen ab bringen. Aber möglicherweise habe ich auch den Sinn dieses Anbaus noch nicht begriffen und verspotte ihn ohne Rechtfertigung.

Links, vor dem Minimarkt, geht ein älterer Gang ins Freie, die Treppe hinunter. Dort stehe ich dann auch schon nach wenigen Augenblicken vor einem größeren, neuen Platz, auf dem ein, in seinen Kreisen sicher als äußerst talentiert geltender, Architekt seine

Interpretation eines Brunnens der verdutzten Nachwelt hinterlassen hat. Interessant anzusehen das Wasserspiel, aber mehr leider auch nicht. Charmant, schön oder gar zum Verweilen einladend würde ich das Konstrukt nicht nennen, aber zumindest tummeln sich auf dem Platz, mittlerweile schon traditionell, ein paar heruntergekommene Gestalten, die sich daran nicht zu stören scheinen.

Ich blicke nach rechts und komme ins Grübeln. Ein Weg, tatsächlich. Oder ist es eher eine unbefestigte Straße? Ganz genau betrachtet habe ich einen etwa sieben Meter breiten Grünstreifen vor mir, der den Bahndamm vom Büroklotz trennt. Ein Zubringer für die schweren Baufahrzeuge der Gründerzeit dieses Viertels, also ein Überbleibsel aus vergangenen, turbulenteren Tagen, welches sich die Natur langsam zurück erobert. Man kann deutlich zwei kahle Streifen darin sehen, also

wird der Weg, oder die Straße, auch heute noch hin und wieder befahren. Frische Fußspuren wären mir jetzt aber lieber, schließlich ist nicht sicher, ob man das Gelände überhaupt betreten...

Aber bevor ich mir darüber wirklich ausführlich Gedanken machen kann, haben meine Beine schon wieder die Regie übernommen und sind voraus geeilt. Wer zu lange zögert wird nie lernen, Entscheidungen einfach mal aus dem Bauch heraus zu treffen. Manchmal bereut man sie, viel häufiger aber stellen sie sich als absolut richtig heraus. Zudem führt mich der Weg endlich wieder fort vom Autolärm und den Menschenmassen. Hinein ins Ungewisse, denn es kann gut möglich sein, dass er, kurz vor dem Ziel, einfach an einem Bauzaun endet. Dann müsste ich die ganze Strecke zurück gehen und wäre natürlich nicht rechtzeitig am Busbahnhof.

Tatsächlich kehrt fast augenblicklich wieder Ruhe ein. Allerdings vermag sie die Euphorie von vorhin nicht ganz wieder her zu stellen. Sie wird von unterschwelliger Ungewissheit in die Ecke gedrängt und winkt nur hin und wieder mal freundlich mahnend herüber. "Es ist doch alles gut, wovor hast du Angst?" will sie mir sagen. Eine gute Frage. Fakt ist, dass ich am Busbahnhof jemanden abholen muss, der mir sehr wichtig ist. Zu spät zu kommen kann ich mir also nicht leisten. Aber davon abgesehen, es sind noch mehr als fünfundvierzig Minuten Zeit. Wenn der Weg nicht tatsächlich im Nirgendwo endet, ist das selbst mit viel Schlendern locker zu schaffen.

Derweil versuche ich die Gedanken auf das zu konzentrieren, was mich auf dem Hinweg schon am meisten fasziniert hat. Menschen in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten, dort wo

sie die meiste Zeit verbringen, die nachhaltigsten sozialen Kontakte pflegen. Also am Arbeitsplatz. Wo es auf der anderen Seite noch kleinere Büros waren, bestimmen hier große, (ge)wichtige Unternehmen das Bild. Eine Rating-Agentur zum Beispiel, Finanzdienstleister oder auch die Firma, welche ich zur Planung der Strecke vorhin zu Rate gezogen hatte. Hier wird das richtig dicke Geld gemacht, weshalb auch vom ersehnten Feierabend hinter den Fenstern noch keine Spur ist. Wenn sie nicht gerade am Schreibtisch sitzen, oder natürlich wichtigst konferenzieren, trifft man sie in der Cafeteria, welche fast das ganze Erdgeschoss eines der Gebäude ein nimmt. Meine etwas veraltete Vorstellung von Gemütlichkeit hindert mich daran, Gefallen an der Inneneinrichtung zu finden. Sauber, gut organisiert und ohne Zweifel von Freunden schwedischer Möbelhäuser eingerichtet, zumindest aber inspiriert. Es wirkt sogar noch

einen Tick exklusiver, elitärer, ein guter Ort um Geschäft und Geselligkeit zu vereinen. Wer will da schon nach Hause?

Der Straßenweggrünstreifen wird immer wilder um mich herum. Nicht so sehr, dass ich ein Buschmesser bräuchte, aber je weiter ich ihm folge, desto mehr beschleicht mich wieder diese unbestimmte Angst, in einer Sackgasse zu landen. Links haben sich gerade die Bahnsteige der Station von mir verabschiedet. Ich schaue über die Schulter zurück und sehe ein paar dick verpackte Menschen im matten Licht der letzten Laternen stehen. Dann kommt eine Bahn, hält an, fährt wieder los und sie sind verschwunden. Zeitreisende Besucher aus dem Mittelalter würden das sicher für Hexerei halten und den armen Zugführer auf einen nahe gelegenen Scheiterhaufen zerren.


Schon oft stand ich dort, auf der anderen Seite, im Licht. Diesen Weg hab ich aber nie für voll genommen, vermutlich auch weil ich bisher noch nie jemanden hier entlang gehen sah. Den Menschen links von mir, hinter den Scheiben, ginge es vermutlich genauso, wenn sie einen Blick hinaus in die Dunkelheit werfen würden. Hinter den Scheiben. Sollte ich diese Geschichte ein mal nieder schreiben, wäre dass wohl ein passender Titel dafür. Muss ich mir merken.

Sie sehen mich nicht, obwohl wir nur durch eine dünne Schicht Glas voneinander getrennt sind. Keiner wirft einen Blick hinaus, dazu sind sie viel zu beschäftigt. Momentan gerade mit Sporteln, wie ich jegliche Art körperlicher Ertüchtigung nicht unbedingt liebevoll zusammen fasse. Sie strampeln, heben Gewichte und ziehen, mit dem obligatorischen Handtuch um den Schultern, wie irre an

irgendwelchen Geräten herum. Kurz krame ich wieder das Mittelalter-Pärchen von eben hervor, nennen wir sie einfach mal Ottfried und Brunhilde, und frage mich, was Ihnen bei diesem Anblick spontan in den Sinn käme. Mich würde die Antwort "Folter" nicht überraschen, genau so wenig wie die Frage, was diese armen Menschen denn verbrochen hätten. Wie sich Zeiten ändern.

Schnell ist der Fitness-Tempel an mir vorbeigezogen, um einem großen, leeren Erdgeschoss zu weichen. Nur gedämpftes Licht, sehr beruhigend für die Augen. Nebenan war es so hell, dass man jeden Schweißtropfen auf den Gefolterten einzeln glitzern sehen konnte. Doch ganz so leer wie zuerst gedacht ist auch dieser Raum nicht. Tische und Stühle tauchen auf, eine Art Speisesaal, aber menschenleer und verlassen. Fast gespenstisch ruhig, dafür aber ebenfalls bis auch die letzte Mikrobe vom

Schmutz des Tages befreit. Jeder Stuhl steht im gleichen Abstand von der gegenüberliegenden Tischkante, jede Blume darauf hundert prozentig zentriert in ihren Designer-Vasen. Als wären Maschinen am Werk gewesen und keine Menschen. Was für einen Sinn ergibt das? Sicher, in den Büros darüber werden von wichtigen Menschen wichtige Entscheidungen getroffen. Aber sind die wirklich schon so auf Perfektion und Gleichklang getrimmt, dass sie an einem nicht passgenau ausgerichteten Stuhl verzweifeln und jämmerlich verhungern würden?

Es wird dunkler, je weiter ich dem Grünstreifen folge. Habe beschlossen ihn genau so zu nennen, denn mehr ist es mittlerweile nicht, ein braun-grüner Streifen aus Unkraut. Die überwucherten Fahrspuren muss man schon suchen, hier kommen definitiv nur sehr selten Menschen entlang. Leider bilden auch die

Rückansichten der Bürobunker keine großartige Abwechslung mehr. Hell erleuchtete, kahle Räume wechseln sich mit dunklen ab, dazwischen ein paar Zimmer, in denen bis vor ein paar Minuten noch jemand gearbeitet haben muss. Dort sind die Lichter gedämpft, hier und da huscht ein Besen an mir vorbei. Die fast unsichtbare Putzkolonne beseitigt routiniert jegliche Spuren vom abgeschlossenen Arbeitstag, auch wenn es ohnehin nicht viele gewesen sein können.

Diese Büros sind nicht „personalisiert“. Wer kommt, setzt sich hin, klappt den Laptop auf, den er ohnehin immer wie festgewachsen mit sich herum trägt und beginnt die wichtigen Dinge zu tun, für die er bezahlt wird. Das erklärt auch das Fehlen jeglicher Objekte, die sich normalerweise auf einem Schreibtisch sammeln, wenn er länger von einer einzelnen Person besetzt wird. Bilder von Angehörigen

zum Beispiel, oder Topfpflanzen, welche das Klima etwas auflockern würden. Von Kalendern und Bildern an den schneeweißen Wänden gibt es auch keine Spur. Nichts was das Auge für ein paar Wimpernschläge vom Monitor ablenken könnte, dabei wäre es doch so wichtig, genau das zu haben.

Es gibt genügend Studien die beweisen, dass diese kurzen Augenblicke des Träumens, des sich in Farben und Formen eines Bildes verlierens, nicht nur gut sind zur Stressbekämpfung. Diese Ablenkungen sind sogar wichtig, geben dem Gehirn eine kleine Auszeit und fördern langfristig die Konzentration. Davon scheint man hier noch nichts gehört zu haben. An keiner einzigen Bürowand indet sich ein Bild, nicht mal in schwarzweiß.


Wieder stelle ich mir vor, dort zu arbeiten. Auch wenn mein eigener Schreibtisch, und die Wand dahinter, vielleicht etwas überpersonalisiert ist, wäre diese minimalistische Form des Dahinarbeitens überhaupt ein Graus für mich. Sicher, ich würde das doppelte verdienen, oder noch viel mehr, ganz ohne Frage. Aber wäre das den Preis wert, gänzlich auf eine angenehme Umgebung zu verzichten?

Nachdenklich gehe ich weiter. Mittlerweile wäre an manchen Stellen ein Buschmesser nun doch angebracht. Gut vorstellbar, dass im Sommer, wenn die trotzige Natur einen kleinen Urwald aus dem Grünstreifen gezaubert hat, hier kein Weiterkommen mehr ist. Die Lücken zwischen den Gebäuden hat man sinnigerweise mit Zäunen verschlossen, so dass man von der Straße, auf der anderen Seite, nicht hier her

gelangen kann. Warum nicht? Ist es vielleicht doch verboten auf diesem Weg zu wandeln und ich hab das Schild einfach übersehen?

Weiter als zehn bis fünfzehn Meter voraus kann ich nichts erkennen. Das Licht aus den Büros genügt nicht mehr um den Grünstreifen zu erhellen, ich laufe immer mehr ins Ungewisse und bekomme starke Zweifel, dass dieser Weg am Ende trotzdem irgendwo in der Nähe meines Zieles heraus kommt. Dann seh ich plötzlich eine dunkle Gestalt, etwa hüfthoch, an der Absperrung zum Bahndamm sitzend. Den Umrissen nach ein Hund, auch wenn ich die Rasse nicht erkennen kann. Einerseits da es dafür mittlerweile zu dunkel ist und er im Halbschatten sitzt. Aber selbst wenn auf das Tier ein großer Scheinwerfer gerichtet wäre, könnte ich nur feststellen, dass es sich zweifelsfrei um einen Hund handelt. Sicher, Pudel und Dackel kann ich noch auseinander

halten. Bei andern Rassen muss ich dann schon passen, oder einschlägige Suchmaschinen befragen. Anders als Katzen sind Hunde nicht unbedingt meine erste Wahl, wenn es um Haustiere geht. Der Vierbeiner dort scheint dies zu wissen und blickt mich grimmig an.

"Bis hier her. Nicht weiter."

Er spricht, natürlich, warum wundert mich das nicht mehr? Bei näherer Betrachtung wirkt er gar nicht mehr so unheimlich und gefährlich. Eher zerzaust, verfilzt und etwas heruntergekommen. Eines jener Exemplare also, die man grob unter dem wenig schmeichelhaften Begriff ´Straßenköter´ zusammen fast.

"Endet der Weg hier?" fragte ich ihn wie selbstverständlich.

"Vielleicht ja. Vielleicht nein. Deiner aber ganz bestimmt. Hinter mir ist nur Dunkelheit. Dort ist dein Ausgang, Mensch."

Mit dem Kopf weist er nach links, wo sich tatsächlich ein kleines Tor im Zaun befindet. Es steht offen, einladend, ein sicherer Weg zurück in die Zivilisation.

"Dort ist deine Welt, hinter mir beginnt meine. Da gehörst du nicht hin."

Unvermittelt hebt er das Hinterteil und läuft den Grünstreifen entlang ins Dunkel. Wie die Katze und der Rabe verschmitzt auch er bald mit ihr und ist verschwunden. Ich blickte prüfend noch einmal nach links und erkenne, hinter einer kleinen Unterführung, die hell erleuchtete Straße. Hat er recht, der Vierbeiner? Ist das wirklich meine Welt?

Dieses Mal übernimmt der kühle Verstand die Entscheidung, bevor die Beine weiter geradeaus laufen können. Dort im Licht ist es sicher, sagt er. Dort kennst du dich aus. Als ich dann auf die Straße trete, muss ich ihm schon teilweise widersprechen. Sicher, vielleicht, aber zu behaupten, ich würde mich hier auskennen ist stark übertrieben. Diesen Teil der Stadt gab es bis vor wenigen Jahren noch gar nicht. Dementsprechend neu, sauber und seelenlos liegt er vor mir.

Ohne Zweifel hat man bei der Konzeption dieses Gebietes an alles gedacht, was das Arbeitsleben angenehm macht. Inklusive Bibliotheken, Bars und Fitnessstudios. Keine Wohnungen natürlich, dies ist ein reines Geschäftsviertel. Dafür kann man auch nachts unbesorgt durch die Häuserschluchten wandeln, bei der Festbeleuchtung bleibt keine dunkle

Ecke übrig, in der sich zwielichtige Gestalten herum drücken könnten.

Geradeaus weiter kann ich den Busbahnhof erkennen, direkt die Straße hinunter. Keine zehn Gehminuten entfernt. Ich bin, selbst wenn ich mir viel Mühe gebe mir Zeit zu lassen, also immer noch fast eine halbe Stunde zu früh dort. Dennoch beschließe ich, meine Nachtwanderung hiermit zu beenden. Eine wirkliche Nacht gibt es an diesem Ort nicht, egal ob ich noch etwas durch das Viertel laufe und nach ihr suche. Nach ihr und dem Gefühl von vorhin, der Euphorie, der Freude am Entdecken. Alles scheint wie verflogen, als hätten die grellen, kalten Lichter der Straßenbeleuchtung all diese Emotionen in eine dunkle, sehr versteckte Ecke meiner Seele getrieben.


Auf meinem Weg, dem unausweichlichen Ziel entgegen, muss ich zwangsläufig an die alten Römer denken. Genauer gesagt an deren Architekten, welche ohne Zweifel großartige, monumentale Bauwerke erschaffen haben, in ihrer Zeit. Würde man ihnen einen Crashkurs im Umgang mit Beton, Glas und Stahl geben, wäre vermutlich etwas heraus kommen, dass dem Bürogebäude gleicht, an dem ich fast etwas andächtig vorbei schreite. Riesige Eingangsportale, von kräftigen Säulen gestützt und am oberen Ende der Mietpreis-Skala angesiedelt. So unscheinbar und langweilig die neuen Bauten von der Rückseite her wirken, so protzig geben sie sich zur Straße hin. Berühmte Namen prangen auf den Schildern im Eingangsbereich, bei keinem davon habe ich nur die geringsten Zweifel, dass sie sich diesen Luxus hier leisten können.

Die Luft wird derweil kälter, ein wenig nur, aber es genügt um mich nach etwas Wärme zu sehen. Außerdem bemerkte ich, dass sich mein Tempo diesem Verlangen angepasst hat und so dauert es nicht lange, bis ich vor den gemauerten Pfeilern der ersten Brücke stehe, hinter denen sich protzig der Busbahnhof erhebt. Plötzlich sehe ich am Fuß der Brücke, dort wo kaum ein Licht hin fällt, eine Katze schnell über die Gasse laufen. Schlanker Körper, struppiges Fell, ganz so wie das Exemplar, welches mich vorhin - kann das sein? Ist sie mir etwa gefolgt? Ich lege ein paar schnelle Schritte ein, doch nach wenigen Augenblicken ist das Tier schon wieder verschwunden. Keine Möglichkeit also sie zu fragen. Denke ich wirklich gerade daran, mit einer Katze ein Gespräch zu beginnen?


Rechter Hand erhebt sich das letzte Bürogebäude des Komplexes neben mir, ein großer, hell erleuchteter Palast. Das gesamte untere Drittel besteht nur aus Eingangshalle, einem riesigen Foyer, in dem sich lediglich die kleine Rezeption befindet. Mehr nicht. Der Rest ist vollkommen leer. Halt, nein, nicht vollkommen. Ein gedrungener, ganz sicher nicht echter Weihnachtsbaum in voller Montur fristet dort ebenfalls noch sein bemitleidenswertes Dasein. Ein mehr als armseliger Versuch, etwas Festtagstimmung zu verbreiten.

Schon sehe ich wieder Ottfried und Brunhilde, wie sie staunend und kopfschüttelnd vor dem Gebäude stehen. So viel ungenutzter, befeuerter Raum für einen einzelnen Menschen und einen Baum? Zu ihren Zeiten hätten sich dort hunderte Menschen dicht an dicht gedrängt,

damals als man froh sein konnte, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Selbst heute würde man auf der Fläche locker zehn Zweiraumwohnungen unter bekommen. Gerade in einer Stadt, die berüchtigt für ihren Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist, mutet eine derartige Verschwendung von Platz sehr seltsam an.

Über mir höre ich leise die Schwingen eines großen Vogels gleiten. Ganz sicher ist er schwarz wie die Nacht und beobachtet mich. Vielleicht staunt er ja, dass ich trotz seiner Warnung den schwereren Weg genommen habe, den ungewissen. Zumindest bis mir der Straßenköter einen Platzverweis erteilte. Oder er ist einfach nur auf der Suche nach Futter und rein zufällig hier. Schließlich dreht die Welt sich nicht um mich, selbst wenn ich beginne, mit Tieren zu reden. Streng genommen stimmt das auch nicht, schließlich haben die

mich ja immer angesprochen. Wer kann mir denn vorwerfen, dass ich aus Höflichkeit auch antworte?

Der Weg führt zu einer Treppe, die mich in die erste Etage des Busbahnhofs bringt. Auf der Suche nach Wärme hauptsächlich, mittlerweile kriecht mir der auffrischende Wind durch jede Ritze meiner Multi-Schicht-Isolierung. Oben angekommen sehe ich die Brücke in ihrer vollen Pracht, auch wenn sie alles andere als prächtig wirkt. Immer noch deplatziert in dieser modernen Umgebung, wie ein Relikt aus vergangenen Tagen, welches sich weigert die Welt von heute zu akzeptieren. Kurz verbrüdere ich mich im Geiste mit ihr, dann drücken meine Hände schon die schwere Glastür zur Einkaufsetage auf. Warme, stickige Luft schlägt mir entgegen. Ein Geruchs-Gemisch aus Kaffee, brodelnden Fett und ganz viel Mensch begrüßt mich, aber ich erwiderte den Gruß

nicht. Sicher, hier gibt es alles was das Herz eines Durchreisenden begehrt, manchmal sogar in mehrfacher Ausführung. Nur das Wichtigste nicht, dass was ein Wartender am nötigsten braucht, wenn er lange unterwegs war und noch eine halbe Stunde Zeit hat bis sein Bus kommt. Eine Bank. Oder einen Stuhl wenigstens, irgendetwas zum Sitzen und Ruhen. Zumindest im breiten Gang ist davon keine Spur, weshalb viele der Reisenden sich einfach auf den Boden nieder lassen, oder ihre Koffer als improvisiertes Sitzmöbel missbrauchen.

Natürlich, in den Cafés und Fastfood-Läden gibt es jede Menge Möglichkeiten, sich nieder zu lassen. Allerdings nur, wenn man dort auch die Speisekarte studiert und für Umsatz sorgt. Damit dies auch rege in Anspruch genommen wird, hat man wohl auf einen unkommerziellen Wartebereich verzichtet. Wer sitzen will, muss schließlich auch was dafür bezahlen. Sehr

schade, darauf ist mir irgendwie die Lust vergangen. Mehr noch, ich fühle mich hier sogar in einer Weise unwohl, die ich schon lange nicht mehr verspürt habe. Ja, die Zivilisation hat mich wieder und es ist warm, immerhin. Auf beides kann ich aber gerade gut verzichten. So treibt es mich nach wenigen Minuten wieder in die Nacht hinaus, an die immer frischer werdende Luft. Schließlich habe ich noch etwas Zeit, zusammen genommen dauerte meine kleine Reise nur knapp mehr als eine Stunde. Es bedarf wohl noch einiges an Übung, richtig zu schlendern. Die Zeit, die man hat, auszureizen und nicht, aus der Gewohnheit heraus, in den schnellen, hektischen Pendlerschritt zu verfallen.

Mich zieht es noch einmal nach unten, dort auf die Rückseite des letzten Bürogebäudes. Ich will wissen, ob der Hund recht hatte, ob es wirklich eine Sackgasse war oder ich auch hätte

weiter gehen können. Die Dunkelheit an diesem Ort empfängt mich sofort bei meiner Ankunft, doch anstatt bedrohlich zu wirken, wie vorhin, beruhigt sie mich dieses Mal. Nach den gleißenden Lichtern im Inneren des Konsumtempels ein angenehmes Gefühl. Ernüchtert stelle ich fest, dass es hier keinen Zaun gibt. Keine Absperrung, nichts was mich daran gehindert hätte, meinen Weg bis zum Ende zu gehen. Außer die Ungewissheit, die Angst, und der Hund, welcher in ein paar Metern Entfernung im Dunkeln sitzt und mich an blinzelt.

"Du hast mich angelogen." stelle ich ruhig fest und fixiere die wachen Augen des Tieres

"Du hast mir nicht zu gehört." antwortet er ruhig "Ich habe nie gesagt, dass der Weg dort endet."

Stimmt, er hatte sich etwas schwammiger ausgedrückt.


"Mein Weg, meine Welt. Ich erinnere mich. Aber sieh was von deiner Welt geblieben ist. Ein dünner, verwilderter Streifen, umgeben von Technik, Glas und Beton."

"Du hast es noch immer nicht verstanden." knurrt er mich an und erhebt sich. "Komm wieder, wenn du bereit bist, dann zeige ich dir unseren Weg und unsere Welt."

Er dreht sich um und trottet lässig davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich wünschte in diesem kleinen, magischen Moment ihm folgen zu können. Hinein in die Dunkelheit, die Ungewissheit, ohne Angst und Zweifel. Doch ich kann nicht. Noch nicht.

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Über den Autor

JonBarnis
Über mich gibt es erstaunlich wenig zu sagen. Ich schreibe. Hin und wieder. Zeitweise auch mal öfter und intensiver. Ich denke zu oft, urteile zu schnell und merke mir definitiv zu wenig ... zumindest zu wenig von den unwichtigen Sachen die die Welt bewegen und sie dennoch nicht verändern. Ich verabscheue Oberflächlichkeiten und Smal-Talk, rede gern, wenn ich wirklich was bei zu tragen habe, und schweige ansonsten lieber. Ah, und ohne die rudimentäre Rechtschreibkorrektur von Open-Office wäre ich schon komplett aufgeschmissen. Was sagt das alles über mich aus? Falls jemand die Antwort weiß, bin ich für jede Nachricht diesbezüglich offen :)

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gela556 Hatte es noch nicht ganz durchgelesen,
doch die Hälfte hatte mir schon gut gefallen.
Schönen Abend noch,
LG, Gela
Vor langer Zeit - Antworten
JonBarnis Hallo Gela, danke, hoffe die andere Hälfte findet auch gefallen,
Grüße, Jon
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