Null… Ede gab wie bei einem richtigen Autorennen mit der karierten Fahne den Start frei. Bitterschokolades Brustkorb zog sich zusammen. Das lag zum einen an seiner fast nicht zu steigernden Angst und Aufregung, zum anderen an der Heftigkeit, mit der er beim Beschleunigen in den Sitz gedrückt wurde.. Sonnenblume trat das Gaspedal des, auf jede geringste Bewegung reagierenden, heißblütigen Renndrachens voll durch. Wie eine abgfeuerte Pistolenkugel schoss der rote Wagen in die erste Gerade.
Bitterschokolade ließ einen leise wimmernden Schrei ertönen, nicht eingedenks, dass sowohl Sonnenblume als auch Ede draußen im Kontrollturm alles mit anhören konnte. Sonnenblume kicherte, antwortete aber nicht, da sie keine Sekunde aus der Konzentration ging. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie bereits die ihr erlaubte Höchstgeschwindigkeit erreicht und… Bitterschokolade konnte es kaum glauben… hielt sich tapfer an die ihr erteilte Beschränkung. Nun begannen die Kurven, erst eine relativ flache nach rechts, dann schon steiler nach links, kurze Beschleunigung in der Geraden zur Haarnadelkurve, die den berüchtigten
Namen Todeskurve trug. Ede dirigierte von außen Bahn und Geschwindigkeit, sagte an wie sie in die Kurven einfahren und sie wieder verlassen mussten. Bei der vergleichsweise langsamen Zockelei war das natürlich eher als Spiel aufzufassen, und Bitterschokolade merkte, dass Sonnenblume auch ohne Edes Gefasel genau wusste, was sie tat. “Mach Dich locker Baby!”, intonierte sie, als der Ferrari die gefürchtete Kurve relativ weit unten querte, wo sie noch nicht so steil angelegt war. Bitterschokolade konnte sehen wie sich die Bahn über Ihnen himmelhoch erhob und der Belag ganz oben praktisch senkrecht
verlief. Ihn gruselte bei der Vorstellung, dort oben entlang zu schlittern, eine einzige, kleine, falsche Bewegung und es hob den Wagen aus der Kurve, er überschlug sich, knautschte sich im Aufprall zu einer festen Blechkugel zusammen, fing Feuer - Puff, das wars. Er hatte das einmal im Fernsehen gesehen, und das hatte ihm gereicht. In unter zehn Minuten waren sie in der letzten weiten Biegung, die zum Start/Ziel führte. Bitterschokolade erwartete, dass Sonnenblume ihre Zeit bis zur Neige nutzen und noch mindestens eine Runde fahren würde,
doch sie nahm das Gas weg und bremste den Wagen zur Startlinie hin herunter. Ede fragte an, was denn los sei, und sie antwortete, Bitterschokolade wolle auch noch ein paar Meter fahren. “Will ich nicht!”, wollte dieser entrüstet antworten, erinnerte sich aber im letzten Moment an die Helmübertragung und schwieg, wobei er Sonnenblume verzweifelt ansah. Die Antwort war wortloses Gruselschielen. Sie ließ die Türen hoch fahren und kam um das Auto herum gelaufen, wo er noch wie hypnotisiert in seiner Schale klebte. “Los aufstehen, du fauler Sack!”, lachte sie und riss ihn am Arm in die Höhe, “wir haben nicht ewig Zeit!” Kaum hatte sie
ihn heraus gezerrt, saß sie schon wieder drin und schnallte sich an. Halb benommen vor Angst und Widerstand stolperte Bitterschokolade ums Auto und ließ sich auf der anderen Seite in den Sitz sinken. “Alles in Ordnung?”, fragte Ede schon besorgt an, doch Sonnenblume befahl ihm die Klappe zu halten. “Nur mal kurz das Feeling testen, keine Bange!”, beruhigte sie ihn noch. Dann schaltete sie das Helmmikro kurz aus, beugte sich zu Bitterschokolade herüber und schrie: “Du fährst den ganzen Ring bis zum Schluss, ist das klar? Und hör nicht auf Ede, der labert nur Dünnschiß! Du musst dich einfach
mit jeder Faser Deines Seins aufs Fahren konzentrieren. Und noch was: Scheiß auf die Geschwindigkeit! Das ist unsere letzte Fahrt und da kann uns keiner raus holen! Also gib Gas!” Jetzt wurde es Bitterschokolade siedendheiß klar, warum sich Sonnenblume so penibel an die Regeln gehalten hatte: Sie wollte nicht von der Bahn geholt werden, bevor sie Bitterschokolade die Chance gegeben hatte zu fahren. Irgendwie liebte sie Bitterschokolade dafür, denn er wusste was es ihr bedeutete ohne Regeln zu fahren. Gleichzeitig hasste er sie ein wenig, weil
sie ihn schon wieder zu etwas zwang, was er nicht wollte. Oder wollte er es doch? War ja egal, wie er um die Bahn kam, von ihm aus auch gerne langsam wie eine Schubkarre. Aber fahren musste er jetzt, er wollte Sonnenblume nicht enttäuschen, die ihm mit ihrer Überraschung eine große Freude hatte machen wollen. Sonnenblume hatte mit ihm in der Werkstatt schon die wichtigsten Handgriffe und die Bedeutung aller Schalter und Armaturen durchgegangen. Er senkte per Knopfdruck die Türen über ihnen herab. Der Motor lief noch, er brauchte nur die Kupplung treten und
den Gang einlegen. Vorher stellte er noch Sitz und Spiegel für sich ein, dann hob er den Daumen für Ede und los gings… Allerdings nicht mit Vollkaracho wie seine Geliebte es ihm vorgemacht hatte. Es reichte ja auch wenn er sich langsam bis zur erlaubten Höchstgeschwindigkeit vor arbeitete - wenn er sie überhaupt erreichen wollte. Auf der Autobahn bei den Fahrstunden war er jedenfalls schon hundertachtzig gefahren, das ging sogar ziemlich gut… Sonnenblume konnte ihn aber mal wieder nicht lassen. Sie drückte sein Knie mit der Hand nach unten, so dass er
unwillkürlich Vollgas gab. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und schoss wie der Blitz den letzten Teil der Geraden entlang. “Das ist keine Schnecke, das ist eine Ferrari!” informierte sie ihn dabei, als wüsste er das nicht bereits. “Was ist denn da unten bei Euch los?”, erkundigte sich Ede unruhig. “Ede, sorry!”, antwortete Sonnenblume, “aber du musst jetzt mal die Klappe halten, wenn wir überleben sollen, Du bist aus dem Spiel!” Bitterschokolade hatte gedacht, nach der Runde mit Sonnenblume am Steuer bereits so viel Adrenalin im Blut gehabt zu haben, wie noch nie in seinem Leben. Doch Sonnenblumes unverhohlener Spott
über seine Fahrweise und ihr gewaltsamer Eingriff entfachten eine ihn selber erschreckende, unbändige Wut in ihm und jagten seinen Adrenalinspiegel hoch bis in die Wolken. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, presste die Kiefer aufeinander dass die Zähne knirschten. Seine Hände griffen fester nach dem Steuer und er atmete tief durch. Dabei hatte er das Gefühl Feueratem wie ein Drache durch seinen Mund auszustoßen. “Wie du willst!” knirschte er, beschleunigte den Wagen, der bereits durch Sonnenblumes Gewaltakt hundertneunzig fuhr über die
Zweihunderter-Grenze, und schaltete in den nächsten Gang. Sonnenblume hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Am Ende der Geraden murmelte sie beiläufig: “Ein wenig vom Gas und weiter außen einfahren als ich…!” Bitterschokolade ging nicht vom Gas, er fuhr nicht mehr nach seinem Verstand, er fuhr nach seinem Gefühl. Zwei Bahnen weiter außen fuhr er in die Kurve ein, wobei sich das Auto schon beträchtlich zur Seite neigte. Die Werbetafeln am Rand verschmolzen zu Nebelstreifen. “Verdammte Scheiße!”, hörte Sonnenblume Ede schimpfen, aber er folgte ihrem Rat und hielt sich raus.
Bitterschokolade hörte nichts mehr davon, er war völlig eins mit dem Auto, der Spur, seinem Körper, der auf die Befehle seines Nervenzentrums reagierte wie ein gut gestelltes Uhrwerk. Beim Herausdüsen aus der ersten Kurve gab Bitterschokolade weiter Gas, er war jetzt bei fast zweihundertfünfzig Sachen. Die nächste Kurve ging er noch weiter außen an, jetzt presste auch Sonnenblume die Lippen dünn aufeinander. Ganz so hatte sie es sich nicht vorgestellt… Diesmal ging es im Gegensatz zu vorher ziemlich schnell: rein, kurze Neigung, wieder raus auf die Gerade - zisch. Keine Zeit für Nachdenken oder letzte
Gebete. Keine Chance den verbissenen und völlig in sich versunkenen Bitterschokolade aufzuhalten ohne ein Desaster auszulösen. Er gab Gas, sobald er aus der Linkskurve flog, und jetzt hatte er eine kurze Gerade vor sich um noch einmal richtig zu beschleunigen… zweihundertsechzig….zweihundertachtzig...die Nadel des Tachos kletterte bedrohlich weiter nach oben. “Es reicht jetzt choco, es tut mir leid…!”, keuchte Sonnenblume, “du darfst jetzt runter gehen…!” Vor ihnen baute sich die steile Haarnadelkurve auf, die grausige
Todeskurve… ...dreihundert Sachen...mit ohrenbetäubendem Brüllen fuhr der rote Drachen auf der zweitäußersten Bahn in die gefährlich enge Kurve. Bitterschokolade war nicht mehr bei sich, die hohe Konzentration und der über den kritischen Punkt hoch geputschte Adrenalinspiegel hatten ihn in den Drachen verwandelt, der nun in die Lüfte aufstieg. Sonnenblume stockte der Atem, hinter ihrem Rücken konnte sie den Alien spüren, der ihr seinen eiskalten Atem ins Gesicht blies. “Du kommst früher zurück, als ich dachte…!”, giftete er,
und sein modriger Atemhauch blies ihr die Haare empor, die unter ihrem Helm hervor quollen. “Nicht jetzt!”, dachte sie, zwang sich die Augen offen zu halten und sog mit Gewalt Luft in ihren plattgedrückten Brustkorb. Bitterschokolade hatte die Geschwindigkeit unterschätzt, da er die vorigen Kurven praktisch perfekt gemeistert hatte. Die Bahn war noch zu weit unten gewählt, die Fliehkraft drückte den rasenden Blechdrachen mit rauchenden Reifen immer weiter nach oben. Nur der Hauch einer Bewegung von
Bitterschokolade am Steuer um dies auszugleichen, und er begann auszubrechen, sich zu drehen und zu winden wie eine Schlange. Schon hatte er den Wagen wieder im Griff, da rutschte er in fast absoluter Senkrechtstellung noch weiter nach oben, so dass für den Bruchteil einer Sekunde nur die zwei rechten Reifen auf der Fahrbahn hafteten. Nur noch Sekunden bis zum Blechknäuel, dem Feuerball, ihrem Tod… “Ich liebe Dich, Bitterschokolade, bitte verzeih mir…!”, flüsterte sie tonlos. Sie hätte ihn nicht so weit treiben dürfen,
warum nur konnte sie es nicht lassen, ihn aus seinem Käfig heraushauen zu wollen? Bitterschokolade gab keine Antwort. Er war ein roter Drache, der über den Wolken flog, er war ein Auto, eine Rennbahn, eine Stille die alle Antworten kannte und alle Fragen. Die Reifen fanden wieder Halt, ein kurzes Schlittern dann flog der rote Pfeil mit dreihundertzwanzig Sachen aus der Kurve in die letzte Gerade vor dem Ziel. Instinktiv wusste Sonnenblume, dass sie es geschafft hatten. Der
Endorphin-Schub der Siegesgewißheit schoß in ihre Köpfe und auch Bitterschokolades zusammengekniffene Lippen umspielte ein leises Lächeln als er mit schlappen zweihundertfünfzig in die weite Schlusskurve einfuhr. Auf der Zielgeraden stand ein hochroter und wild gestikulierender Ede und deutete ihnen mit Handbewegungen an, stehen zu bleiben. Bitterschokolade bremste herunter und ließ den Wagen vor seine Füße ausrollen, hielt die Türen aber noch geschlossen. Er wendete seinen tomatenroten, schweissüberströmten und immer noch
behelmten Kopf Sonnenblume zu, die totenbleich und mit etwas Grünstich um die Nase neben ihm in den Gurten hing. “Ich liebe Dich auch, Sonnenblume!”, krächzte er, immer noch heftig schnaufend, “kannst Du mir auch verzeihen?” Erschöpft streckte Sonnenblume die linke behandschuhte Hand empor. “Give me five, darling!”, stöhnte sie und Bitterschokolade schlug ein. Ede trommelte bereits ungeduldig mit den Fingerknöcheln auf die Scheibe der Fahrertüre. Bitterschokolade wachte aus seiner Trance auf und es fiel ihm ein, dass sie ja schleunigst von der Bahn
mussten, damit niemand die unerlaubte ‘Testfahrt’ bemerkte. Schnell drückte er den Knopf und ließ die Türflügel hoch fahren. Ein harter Schulterschlag von Ede empfing ihn. “Du ausgefuchster Hund, du mieser kleiner Teufel, warum hast Du mir denn nicht verraten, dass Du ein Profipilot bist?” bellte er ihn an. Dann lachte er wieder: “Selbst Schumi hat sich noch nicht getraut mit einem solchen Affenzahn in die Todeskurve zu donnern! Du bist ein verdammt harter Knochen, das bist Du! Auch wenn Du aussiehst wie ein verfluchtes Weichei!” Bitterschokolade schwebte noch immer auf der rosa Endorphinwolke auf der er
nichts und niemanden fürchtete. Cool wie ein richtiger Rennfahrer, löste er den Sportgurt und das Kinnband des weißen Helmes und übergab diesen an den Stallmeister. Beim Aussteigen wurde er von Ede umarmt, als wäre er der Sieger eines richtigen Rennens. “Ich habe noch nicht einmal den Führerschein geschafft!”, flüsterte er ihm ins Ohr, “aber sags nicht weiter!” Er ließ Ede wortlos und mit offenem Mund stehen und ging in den Umkleiderraum um sich wieder seine alten Sachen anzuziehen. Sonnenblume kam nach einigen Minuten nach und berichtete ihm, dass sie sich mit Ede
geeinigt hatte, nichts davon an Hank weiter zu geben, außer dass sie einmal gerutscht seien, womit sich die abgeraspelten Reifen erklären ließen, die Sonnenblume würde ersetzen müssen. Bitterschokolade dachte an das Geld vom Arzt, ob er das wohl dafür verwenden dürfe - eigentlich hatte ja er den Schaden verursacht und müsste ihn aus eigener Tasche bezahlen. Sie hörten draußen bereits den Abschleppwagen vorfahren, die Türen zuschlagen und Bertram und Ede sich unterhalten. Zum allerersten Mal war es
Bitterschokolade, der Sonnenblume zärtlich in den Arm nahm und vorsichtig einen Kuss auf die bleichen Lippen hauchte. “Danke für alles..."
Fortsetzung folgt