Magendrücken
Seit Wochen eilte Lisa von der Schule nach Hause, um Günther, den sie im Internet "kennengelernte", zu schreiben.
Es war ein Dienstag, welchen sie sich für ihr erstes Treffen ausgesucht hatten. Lisa war dermaßen aufgeregt, dass sie Magendrücken hatte. Ihre Eltern schliefen friedlich in ihren Betten. Draußen herrschten eisige Temperaturen und Lisa zog noch schnell ihre dicke rote Winterjacke über. Eigentlich wollte sie Günther noch einen Gruß schicken, doch ein Computervirus hatte den PC seit zwei Tagen lahmgelegt. Die Technik ist doch manchmal zu verdammen,
dachte sie empört. Sie freute sich auf das Treffen, auch wenn Günther, wie er schrieb, etwas älter war, blieb sie völlig vorurteilsfrei.
Ihren Eltern hatte Lisa vorerst nichts davon erzählt. Sie würden ihr dieses Treffen sicher ausreden oder gar verbieten wollen. Lisa hatte ihren Rucksack mit ein paar Broten und mit ihrer Zahnbürste bestückt. Sollte es später werden, würde sie ihre Eltern anrufen.
Auf dem Weg zum Bahnhof kamen Lisa erste Zweifel. Was tat sie eigentlich?
Sie kannte Günther doch im Grunde gar nicht. Nachdenklich lief sie die Straße entlang, als sie in einen Hundehaufen
trat, fluchte sie, aber dachte dann, dass es Glück bringt. Gerade fuhr ein Auto vorbei und schmiss grauenvoll laute Geräusche. "Schönen Gruß vom Schaltgetriebe!", rief Lisa hinterher.
Sie war spät dran und rannte die letzten Schritte zur Fahrkartenausgabe. Nun aber schnell, der Zug fuhr gerade ein. Lisa eilte zum Bahnsteig 4 und fiel beinahe die Treppenstufen hinauf, als
ihr Handy klingelte. Es waren ihre Eltern. Eine Weile zögerte Lisa, bevor sie ans Handy ging: "Hallo, was gibt es denn?" Ihre Eltern wollten wissen, es entbehrte nämlich jeder Logik, warum sie nicht auf dem Weg zur Schule war. Ein Arbeitskollege ihrer Mutter hätte
sie auf dem Weg zum Bahnhof gesehen.
Lisa wurde mulmig. Kleinlaut bat sie ihre Eltern, sie vom Bahnhof abzuholen. Nachdem das Telefonat beendet war,
kam ihr eine bittere Selbsterkenntnis. Sie war wohl doch zu blauäugig an das
Ganze herangegangen. Womöglich säße sie am Ende des Tages gefesselt in einem alten Kartoffelkeller. Man liest und hört ja so einiges. Es wäre vielleicht kein Neuanfang mit Günther, sondern der Anfang vom Ende gewesen.
Als sie ihre Eltern sah, weinte Lisa vor Glück und Erleichterung.