Das Geheimnis von ebbe und flut
Vor langer, langer Zeit, als die Kontinente noch nicht vollkommen geformt waren, und es noch keine Länder, nur einzelne Städte gab, lebte an der heutigen Nordseeküste ein Königspaar.
Mit Weisheit und Güte regierte es über eine Küstenstadt, sein Schloss direkt am Meer erbaut. Als die Königin eines lauen Sommerabends eine kleine Tochter gebar, ward das Glück vollkommen.
Und so strichen die Jahre ins Land, und die kleine Prinzessin wuchs zu einer jungen Frau heran, während der König spürte, wie er immer schwächer wurde.
Er begriff, dass es Zeit wurde, sein Amt an die Prinzessin, sein einziges Kind, weiterzugeben.
Also rief er sie an sein Sterbebett und fragte, ob sie schon einen Gemahl hatte, denn nur dann durfte sie Königin werden. Zu seiner Überraschung antwortete die Prinzessin:
„Ja, Vater, den habe ich schon seit Ewigkeiten und du glaubst gar nicht, wie sehr ich den Tag herbeigesehnt habe, an dem du mir diese Frage stellst.“
Und schon eine Woche später wurde die Hochzeit der Prinzessin und ihres Geliebten gefeiert, welcher den, zugegeben recht ungewöhnlichen, Namen Flut hatte.
Drei Tage und drei Nächte dauerte die Feier an. Es wurde durchgehend getanzt, gelacht und gesungen im Thronsaal, und Schlaf bekamen die Gäste nur sehr wenig.
Doch diese unbesorgte Stimmung sollte nicht ewig anhalten.
Als das Fest am frühen Morgen des vierten Tages schließlich sein Ende fand, fiel das zukünftige Königspaar erschöpft in die weichen Kissen des großen Betts im Zimmer der Prinzessin.
Selig schliefen sie ein, nichtsahnend, dass sich in ein paar Stunden alles für sie ändern würde.
Denn die Geschichte der Königsfamilie hatte eine dunkle Vergangenheit: Ein
rachsüchtiger Bruder eines schon längst vergangenen Königs hatte es nicht akzeptieren wollen, dass er niemals den Thron besteigen dürfte, und so verübte er einen Anschlag auf seinen König, um ihn zu töten.
Glücklicherweise jedoch scheiterte er und seine Seele wurde für alle Ewigkeiten in die Tiefen des Ozeans verbannt. Nur einmal in tausend Jahren sollte er die Chance bekommen, als Geist aus dem Meer zu steigen und für einen halben Tag an Land zu leben.
Die tausend Jahre waren nun um.
Langsam erhob sich der Geist des bösen Bruders, seine Augen schwarz vor Hass, die Vorfreude ließ sie unheilvoll
glitzern.
Natürlich führte ihn sein Weg in das Schloss, das auch einmal sein Zuhause war. Als er die schlafende Königstochter in den Armen ihres Gemahls sah, verfiel er augenblicklich ihrer Schönheit und konnte (vermutlich wollte er auch) nicht anders, als sie an sich zu ziehen. Sein Verlangen nach ihr war so groß, dass er ihr einen geisterhaften Kuss auf die Lippen drückte. Von dem eiskalten Hauch geweckt, riss die arme Prinzessin ihre Augen auf und ein panischer Schrei entwich ihr, als sie in die hässliche Fratze des Geistes sah.
Dieser ahnte natürlich was ihm blühte, und verschwand sogleich mit der
Prinzessin in seinen Armen in den Tiefen des Ozeans.
Aber ihre gellenden Schreie hatten Flut geweckt und er stürzte nach draußen, um seine Geliebte zu retten.
Doch als er an den Strand kam, war das Meer verschwunden. Der Geist hatte natürlich vorgesorgt, und deshalb mithilfe dunkler Magie dafür gesorgt, dass sich das Wasser zurückzieht, sobald er es berührt.
„Ebbe“ flüsterte der arme Flut entsetzt, ein Wort das in der damaligen Sprache so viel wie „verschwunden“ bedeutet.
Als er begriff, dass es keinen Ausweg mehr gab, um seine Geliebte zurückzuholen, sie für immer verloren
war, kniete er sich in den Sand und weinte bittere Tränen.
Damit regte er das Mitgefühl des Mondes, der in dieser Nacht voll und klar am Himmel stand, und er sprach zu Flut:
„Ich kann den Fluch des Wassergeistes nicht vollkommen zurückziehen, doch gebe ich dir die Möglichkeit, deine Geliebte dennoch zu sehen. Zu bestimmten Zeiten am Tag wird das Meer wiederkommen, und die Prinzessin wird aus dem Wasser steigen. Dann könnt ihr euch sehen und du kannst dich ihrer Gesundheit versichern. Aber so wie das Meer kommt, wird es auch wieder gehen müssen“, endete der Mond
und sein heller Schein hüllte Flut gänzlich ein.
„Ich danke dir, Mond“, antwortete dieser mit erstickter Stimme. „Aber wie willst du das Meer lenken, wenn du nicht am Himmel stehst?“
Das Mondlicht flackerte, fast, als würde es lächeln.
„Vertraue mir, Flut“, war alles, was der Mond sagte.
Der zukünftige Thronfolger nickte ehrfürchtig, dann lief er zurück zum Königsschloss, um die Botschaft, sowohl die gute als auch die schlechte, zu verkündigen.
Zuerst war die Trauer in der Küstenstadt groß, doch der Mond hielt
sein Versprechen. Und so konnten sich die Prinzessin und Flut immer wieder für ein paar wenige Stunden sehen, wenn das Meer sie freigab und sie aus der Fluten stieg.
Die Zeit in der das Meer verschwand, nannten die Bewohner der Stadt Ebbe, und die Zeit in der sich das Liebespaar sehen konnte wurde zu Ehren des tapferen Prinzen Flut genannt.
Auch heute weiß man noch von der wichtigen Rolle, die der Mond beim Wechsel zwischen Flut und Ebbe spielt. Doch wohl kaum einer kennt die Geschichte des tragischen Liebespaares und dem bösen Wassergeist, mit der alles
begann