Ich-Reloaded
In seinem Schädel machte es „klick“. Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch wie festgeklebt lagen die Lider auf seinen Augäpfeln. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen, doch als es ihm nun unter Schmerzen gelang, sah er nichts. Um ihn herum war alles dunkel. Sein Kopf dröhnte, in ihm herrschte ein totales Durcheinander - ohne Orientierung lag er da.
„Wie in Omas Kartoffelkeller“, durchzuckte ihn eine Assoziation. Doch er wusste nicht, was er damit anfangen sollte, denn weder Oma noch Kartoffelkeller waren Begriffe, die er
mit einem Sinn füllen konnte. Sie waren unwirklich und fremd wie das Gefühl, das ihn beherrschte. Er versuchte in die ihn umgebende Finsternis hinein zu lauschen, konnte bald einzelne Geräusche unterscheiden, als würde sich auch sein Gehör aus einer Art Dunkelheit befreien. Ein tiefes Brummen machte sich im Raum breit und darüber er suchte nach dem Wort „plätscherte“ noch ein helles schnelles Surren. In seinem Kopf bildete sich langsam der Begriff „Elektrische Zahnbürste“. Er konnte mit diesen Worten jedoch nichts anfangen. Verband damit keinen Inhalt. „Elektrische Zahnbürste, was bedeutet das?“, dachte er. Und dann hörte er
Schritte, die irgendwo über ihm und um ihn herum hallten. Langsame schwere und schnelle leichte mit einem hellen Klang. Dann Stimmen, sehr unterschiedliche. Zuerst zwitschernde, dann mehr brummende.
Es mussten also mehrere Personen sein. Doch er verstand sie nicht.
Sie verständigten sich in einer ihm unbekannten Sprache.
„Wo bin ich? Wer sind diese Menschen? Warum bin ich bei ihnen? .....“
In seinem Kopf ratterten Fragen. Er wusste keine Antwort und das ließ ein merkwürdiges Gefühl in ihm aufkommen, irgendwo da, wo normalerweise seine Verdauung stattfand,
hatte er Schmerzen, Krämpfe. Er suchte nach einem Begriff dafür. Und ganz weit hinten aus seinem Gehirn, wie aus einer fernen Vergangenheit, stieg das Wort „Magendrücken“ in sein Bewusstsein. Er versuchte mit der Hand den Ort des Übelseins zu ertasten und bemerkte, dass er seine Hände nicht bewegen konnte, seine Arme auch nicht. Er versuchte sich aufzurichten. Erst jetzt spürte er Fesseln - Gurte - die ihn in der Waagerechten hielten, ihm Bewegung verwehrten. Er rüttelte daran, versuchte sich zu befreien, zu schreien. Doch nichts davon gelang. Sein Schreien schien nicht aus ihm herauszudringen, obwohl er an seinem
Kehlkopf spürte, dass er Laute von sich gab:
„Hilfe! Hallo! Hilfe!“
Panik stieg in ihm auf.
Er schrie: „Verdammt, was ist hier los?! Hört mich keiner?!“
Schrie stumm. Verhielt und lauschte, Tränen der Wut, der Anstrengung kullerten aus seinen weit geöffnete Augen über Schläfen und Wangen. Angst, Wut, Hilflosigkeit lähmten ihn, sein Herz galloppierte. Sein Atem raschelte. Schmerzen überall ...
Da, plötzlich wurde es ganz langsam heller. Er spürte eine Hand auf seinem Arm, keine derbe sondern eine eher beruhigende Geste. Die Person kam
näher und verströmte einen Duft, an den er sich erinnerte, wie aus weiter Ferne. Seine Augen irrten umher und dann beugte sich ein zartes Frauengesicht - ein Engel? - über ihn. Lange blonde Locken fielen ihr über die Schultern und berührten ihn fast. Er schaute in ihre Augen, die freundlich auf ihm ruhten. Sie sprach zu ihm und ihre Worte klangen friedlich. Doch er verstand auch sie nicht, obwohl der Klang ihrer Stimme und die Sprachmelodie ihm bekannt vorkamen.
Er wich ihrem Blick nicht aus. Ein Strom von Bekanntheit und Vertrauen floss zwischen ihnen. Die Panik versickerte, er spürte sein Herz ruhiger
schlagen. Sein Atem fasste Takt. Er beschloss, abzuwarten.
Nun trat ein Mann mit dunkler Brille in sein Blickfeld. Er sandte ihm ein Lächeln durch seinen Bart hindurch und hob eine Tafel mit kleinen Bildern hoch. „Aha, sie wissen, dass wir uns nicht mit Sprache verständigen können“, überlegte er. Noch bevor er beginnen konnte, die Bilder zu betrachten, trat jedoch ein Dritter an ihn heran und schob einen großen Spiegel in sein Gesichtsfeld. Was er da sah, erschütterte ihn. Ein Mensch, der von Verbänden bedeckt war, dessen Gesicht ihm entstellt entgegenblickte, Kabel und Schläuche verbanden ihn mit
verschiedenen blinkenden Anlagen. Er studierte, was er sah.
Ein Schlauch durch die Nase schien ihn mit Flüssigkeit zu versorgen. Doch plötzlich wurde ihm klar, was er da sah. Das war er selbst.
„Das bin ich?“, er erschrak. Er erkannte sich nicht. Viel schlimmer noch! Den, der ihm da aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte er noch nie gesehen. Das konnte nicht er sein! Oder doch? Wer war er? Ihm wurde bewusst dass er das alles nicht begriff. Nicht entschlüsseln konnte. Ein böser Traum? Oder war er gar tot? Dennoch stellte sich die Frage, nach seiner Identität. „Wer bin ich?!“
Ihm fehlte jegliche Selbsterkenntnis. „Wer bin ich und was mache ich hier?!“ Er schüttelte den Kopf, spürte Verzweiflung, Trauer. Durch sein Kopfschütteln füllte sich sein Schädel schlagartig mit spitzen scheppernden Schmerzen, die sich anfühlten, als wären lauter Metallteile lose in seinen Schädel gefüllt. Zugleich hatte er einen Metallgeschmack auf der Zunge. Er hielt inne.
„Wie ein kaputtes Schaltgetriebe“, dachte er und wunderte sich im selben Moment, woher er diese Worte wusste und dass ihm das Bild eines zerlegten Getriebes auf einer Kopfsteinpflasterstraße vor seinem
inneren Auge erschien. Das waren Erinnerungen. Doch was genau hatten sie mit ihm zu tun? Der Spiegel verschwand, die blonde Frau mit ihren freundlichen Augen und der Mann mit der Brille erschienen wieder in seinem Gesichtsfeld. Nun sah er die kleinen Bilder. Er begriff, dass die Zeichnungen erzählten, was man mit ihm machen würde.
„Aha, den Schlauch aus der Nase, die Kabel weg, die Fesseln weg und ich darf nicht aufstehen, mich aber hinsetzen“, vollzogen sich die Bilder in seinem Gehirn zu einer Abfolge, die für ihn eine gewisse Logik besaß. Er nickte vorsichtig. Die blonde Frau trat etwas
zur Seite. Eine weiß bekleidete etwas rundere flinke Frau mit freundlichem Gesicht und sanften aber kräftigen Händen löste ihn von den Schläuchen, Kabeln und Gurten. Der Brillenmann im Hintergrund wies jeweils auf das entsprechende Bild. Der Mann unterstützte seine Befreierin so gut, wie es ihm möglich war. Dann wurde seine Rückenlehne leicht angehoben. Er nicke mit dem Kopf, als es ihm angenehm war. Jetzt wollte er wissen, wie er hierhergekommen war, was es mit dem allen auf sich hatte. Dass er sich nicht in Gefahr befand, hatte er verstanden, ebenfalls dass er nicht träumte. Aber der Rest war unklar, fast unheimlich.
Wie sollte er Fragen stellen?
Er versuchte es mit Gestik. Zunächst zeigte er auf sich und seine Ohren, seinen Kopf und dann auf seinen Mund, dann auf sein Gegenüber, den Mann mit den Bildern. Schüttelte den Kopf vorsichtig um sein Nichtverstehen zu zeigen.
Er wiederholte diese Gesten bezogen auf jeden im Zimmer. Dann zeigte er mit dem Finger wieder auf den Brillenmann. Von ihm erhoffte er sich jetzt Hilfe.
Dabei spürte er, wie müde er plötzlich war. Der Brillenträger nickte, wies auf die große Wanduhr und zeigte ihm, dass eine Zeit vergehen müsse und sie dann zurückkämen, mit neuen Bildertafeln.
Er nickte, ließ sich ins Kissen fallen und ehe noch alle aus dem Raum waren, schlief er tief und fest, der sichtbare Teil seines Gesichtes zeigte Entspannung, ein Lächeln fast.
Nachdem Schwester Conny hinter dem behandelnden Oberarzt und Gregors Frau Irina - die Tür zum Krankenzimmer geschlossen hatte, sagte sie: „Wie schön, Anspannung und Autoaggression sind von ihm gewichen. Nun müssen wir ihn nicht mehr fixieren. Und bald haben sie ihn wieder.“
Dr. Irina Kopolny schüttelte leicht den Kopf und sagte: „Das waren die härtesten drei Monate, seitdem ich mit
diesem verrückten Hirnforscher verheiratet bin. Drei Monate Koma. So ein Leichtsinn aber auch, diesen Versuch der Hirn-zu-Hirn-Kommunikation beim Menschen zu Hause und ohne Assistenz nachvollziehen zu wollen. Hätte er mich doch eingeweiht! Wie gerne hätte ich ihm bei diesem Versuch assistiert. Kommunikation zwischen Gehirn, Computer übers Internet zu einem anderen Gehirn ein bedeutender Schritt in der Gehirnforschung. Und welch eine unschätzbare Hilfe für Menschen, die körperlich gelähmt, aber geistig wach waren, würde das sein, wenn jeder es von zu Hause aus mit Gregors Programm
und Kappe schaffen würde.“
Sie wies auf die Grafik mit dem Original Versuchsaufbau, wie er 2013 stattgefunden hatte.
Schema der Hirn-zu-Hirn-Kommunikation im Experiment.
© Grau et al. / PLOS ONE, doi:
10.1371/journal.pone.0105225.g001
Dr. Johansson schaute sie an: „Ja etwas verrückt und sehr risikofreudig war Gregor schon immer. Ein Genie, das Grenzen und ein Nein nicht akzeptierte. Mit ihm zu arbeiten ist schon eine Herausforderung. Aber mit ihm verheiratet zu sein …", er lachte.
Irina unterbrach ihn: „Ich bin Ihnen dankbar, dass sie Gregors neurologische Behandlung übernommen haben.
Wissen Sie, es ist wirklich ein Glück und sehr umsichtig von Dr. Rumandi, dass er Sie sofort von Kalkutta aus telefonisch alarmiert hat, als bei dem Versuch der Kontakt abgerissen ist und
er den Blackout von Gregor bemerkte.“
„Ja da können wir von großem Glück sprechen. Sonst hätte ich diesen Hirnschlag nicht so schnell unter Kontrolle bekommen und …“, Oberarzt Dr. Sven Johansson antwortete mit einer spürbaren Verzögerung. Irina bemerkte, dass er noch etwas ergänzen wollte, sich diesen Teil aber verbiss.
Sie wussten beide, wie es dann ausgesehen hätte.
„Jetzt müssen wir mit ihm gemeinsam an der Aphasie arbeiten. Diese Sprachstörung ist sehr komplex. Es wird seine Zeit dauern, bis er die Sprache und sein Sprachverständnis wieder hat. Ob uns das ganz und völlig
gelingt, weiß ich noch nicht.“
„Aber die Computertomografie zeigte doch keine Verletzungen des Gehirns, oder?“, entgegnete Irina und fragte nach kurzem Nachdenken: „Wie wollen Sie denn jetzt vorgehen?“
„Nun, so einfach ist das nicht,“ wandte der Arzt ein und schaute Irina nachdenklich an: „So wie dieser verfluchte Computervirus den Versuchsaufbau gestört und den Kurzschluss sowie den Brand in seinem Labor hervorgerufen hat - übrigens eine sehr seltene Kombination und Auswirkung - so hat der Überreiz der eben durch den Computervirus über die
Elektrodenkappe auf das Gehirn gewirkt hat, dort zeitgleich ebenfalls eine Art Kurzschluss erzeugt. Wie brauchen jetzt Zeit und ein großes Quäntchen Glück, dass Ihr Mann keine zu schwere Form der Amnesie hat. Dann könnte es gelingen.“
Irina atmete laut ein und aus, um ihre aufkommenden Emotionen der Angst, der Ungeduld, der Verzweiflung niederzuringen. Würde sie fortan mit einem Mann verheiratet sein, der im Grau des Irgendwer und Nirgendwo dahindämmerte? Sie schaute den Arzt an. Der sah, was in ihr vor sich ging. Er beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre.
„Natürlich muss ich zugeben, dass alles möglich ist, Frau Dr. Kopolny, aber so schnell gebe ich die Hoffnung nicht auf. Sie haben doch gesehen, wie begierig er auf die Kommunikation mit den Bildern eingegangen ist. Und wie kreativ er seinen Zustand mitteilte und sein Bedürfnis, zu verstehen, was geschah“, er schaute sie an.
„Ja, danke, dass Sie mir Hoffnung machen“, erwiderter Irina.
„Irina, ich will ihnen keine Hoffnung machen, noch welche nehmen. Wir als Wissenschaftler müssen die Fakten vorurteilsfrei betrachten. Ich bin mir sicher, dass er über Grafiken, auch über die des Versuchsaufbaus sowie über
Fotos vom Unfall am schnellsten an bestimmte Details oder Zusammenhänge erinnert wird. Er wird sich dann an die Begriffe erinnern und die Sprache wird wiederkehren. Ab morgen ziehe ich Frau Dr. Marcol hinzu, Sie haben sicher von deren Erfolgen als Logopädin gehört?“
Irina bestätigte durch Nicken und äußerte laut eine Überlegung: „Kann er einen Schock bekommen, wenn er die Unfallfotos sieht?“
„Das will ich doch hoffen, auch dass dadurch eine Erinnerungswelle ausgelöst wird. Die Amnesie hängt ebenfalls mit dem Unfall zusammen. Ein begleiteter Schock hilft in solchen Fällen sehr häufig. Wir können schon froh sein, dass er keine weiteren Gehirn-Verletzungen davongetragen hat. Und ob eine leichte Lähmung zurückbleibt müssen wir sehen.“
Schwester Conny klopfte kurz an die Tür und steckte den Kopf rein. „Unser Patient ist aufgewacht, hat mit Appetit eine Fleischbrühe getrunken, dann etwas zum Schreiben verlangt und drei Fragezeichen und drei Ausrufezeichen auf das Stück Karton gemalt, das ich ihm gab. Und noch etwas, schauen Sie mal.“ Sie grinste.
Irina lachte laut los: „Das ist ein Hundehaufen. In den ist er an dem Morgen getreten, als er mich zum Auto brachte, bevor er in seinem Homelabor mit dem verhängnisvollen Versuch begann. Er sagte noch, das sei ein gutes
Zeichen, es bedeute Glück.“
Auch Dr. Johansson lachte los, das war Gregor wie er ihn kannte. Dass er sich an dieses Detail erinnerte, zeigte, dass die Amnesie zurückging. Er schaute Irina an. Die lächelte zurück. Und beide hatten ein gutes Gefühl, dass die nun beginnende möglicherweise langwierige Therapie der Start für einen Neuanfang war.