Kadjar zog sich eine schwarze Mütze und die fingerlosen Handschuhe über. Er schulterte die Tasche, die ein beachtliches Gewicht hatte, und schlich auf leisen Sohlen die Treppe hinunter. Seine Eltern waren in der Küche. Sie stritten immer noch. Das konnten sie am besten. Und für gewöhnlich betranken sie sich hinterher, darin waren sie auch ganz gut. Sein Stiefvater Jörg würde danach wahrscheinlich wieder in sein Zimmer gewankt kommen und ihm lautstark das Übliche vorlallen wollen, nämlich dass er eine Enttäuschung für seine Mutter sei
und dass er endlich anfangen solle, sich normal zu benehmen. Heute nicht, Arschloch. Heute werde ich längst über alle Berge sein. Dein besoffenes Gequatsche werde ich mir nie mehr anhören müssen. Früher hatte es zusätzlich immer noch eine Tracht Prügel gesetzt. Ohne triftigen Grund. Einfach nur, weil Kadjar war, wie er war, denn angeblich war er nicht normal. Geschlagen wurde er zuhause mittlerweile aber nicht mehr. Er hätte es auch nicht mehr zugelassen. Er hätte sich gewehrt und notfalls zurückgeschlagen. Sein Stiefvater schien
das zu ahnen, denn seit Kadjar mit vierzehn in die Höhe geschossen war und ihn relativ schnell um zwölf Zentimeter überragte, traute Jörg sich nicht mehr, die Hand gegen ihn zu erheben. Ihm war wohl klargeworden, dass er nun den Kürzeren ziehen würde. Kadjar bog um die Ecke und spähte vorsichtig ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, aber es saß niemand davor. Weder seine Schwester, noch sein Bruder und Angus. Wo genau die beiden Letztgenannten gerade steckten, war ihm allerdings scheißegal. Vielleicht hockte sie in Sebastians
Zimmer und schmiedeten Pläne, wie sie ihn noch besser quälen konnten. "Ihr Wichser werdet bald euer blaues Wunder erleben", murmelte er und nahm Jörgs Autoschlüssel aus der Garderobenschublade. Niemand bekam mit, wie er das schmucke Reihenhaus verließ. Keiner bemerkte, wie er den silbernen C63 rückwärts aus dem Carport bugsierte. Führerscheinlos und trotzdem unfallfrei. Am liebsten hätte er einen übermütigen Kickstart hingelegt, bezähmte sich jedoch. Er durfte kein Aufsehen erregen. Entsprechend langsam rollte er den
verkehrsberuhigten Bereich entlang und erreichte die Hauptstraße. Es begegneten ihm nur wenige Fahrzeuge. Montags nach 22 Uhr war es in dem Nürnberger Vorort immer recht still. An der ersten roten Ampel nutzte er die Zeit, sich eine Kippe anzustecken. Da sein Stiefvater Kettenraucher war, beherbergte das Handschuhfach Zigaretten und Feuerzeuge en masse. Was sich darin leider nicht fand, war anständige Musik. Er wühlte sich durch die Flippers, Roger Whitaker, Katja Ebstein... was zum Teufel... Jörg war zwar alt, aber doch nicht uralt! Was tat der seinen Ohren nur
an? Michael Jackson... Madonna... beides ebenfalls nicht Kadjars erste Wahl (das wäre New Years Day gewesen, Ash Costello war die schärfste Schnecke überhaupt), aber es war wenigstens Englisch. Kadjar mochte keine deutschen Texte. In der eigenen Sprache klangen viele Lieder so unfassbar dämlich, dass nicht einmal die beste Melodie sie zu retten vermochte. Er schob schließlich Jackos `Dangerous´ in den Player. Wie ironisch. ER würde heute abend auch gefährlich sein... Eine hübsche Brünette in knallengen Hosen und großer Oberweite überquerte
die Fußgängerampel. Kadjar musterte sie abschätzend und ließ proletenmäßig den Motor aufheulen. Die Frau schrak zusammen und warf einen missbilligenden Blick in seine Richtung. Sie zog ihren dünnen Anorak fester zu und ging eilig weiter. Der Junge rollte mit den Augen. Die verstand offenbar keinen Spaß. Naja, wenigstens erwarteten ihn im PRIVATE-X-BABES entspanntere Damen. Beim Gedanken daran wurde ihm ein wenig mulmig zumute, und er sog nervös an seiner Zigarette. Hoffentlich würde er sich nicht zu blöd anstellen und alles falsch machen, was
falsch zu machen war... Scheiß drauf, das sind Profis, beruhigte er sich selbst. Plötzlich kam ihm eine Idee. Vielleicht würde er ja eine der Ladys überreden können, ihn, anstatt im Club, im Auto zu bedienen? Das hätte so etwas prickelnd Verruchtes. Und Jörg und Mom würden einen Tobsuchtsanfall kriegen angesichts der Flecken auf dem nougatfarbenen Leder. Kadjar grinste. Ja, diese Vorstellung gefiel ihm. Zu schade nur, dass er die entsetzten Gesichter nicht live mit eigenen Augen würde sehen können. Auf zu Sex, Rache und
Freiheit. Orange. Auf die Plätze, Achtung, fertig... Grün. ... los!!! Mit einem urzeitmäßigen Schrei, in dem sich siebzehn Jahre geballt angestauter Frust entluden, drückte der schwarzhaarige Junge das Gaspedal durch und fegte mit quietschenden Reifen davon.
*** Das laute Klingeln mitten auf der Autobahn irritierte Kadjar. Es war sowieso ein Wunder, dass das Telefon
durch die Lautstärke der Musik überhaupt zu hören war. Genervt drückte er die mittlerweile vierte Zigarette aus und stellte den Ton auf `mute´. Dann fummelte er in der Tasche auf dem Beifahrersitz, die unter anderem zwei wichtige Dinge enthielt, die er in den kommenden Stunden brauchen würde: Eine Elektroschusswaffe und eine Maschinenpistole inklusive Munition. Diese Schätze hatte er sich über das Darknet an ein Postfach liefern lassen. Fast so einfach wie eine Bücherbestellung. Man musste sich nur ein wenig auskennen. Endlich fand er sein Smartphone und
warf einen flüchtigen Blick aufs Display. Anrufer unbekannt. "Leck mich", brummte er und warf es wieder zurück. Ohne zu blinken scherte er aus und zog an dem blauen Polo vorbei, der kaum mehr als achtzig Stundenkilometer fuhr, und er überholte auch gleich noch den roten Corsa, der sich nur knapp jenseits der neunzig km/h bewegte. Waren heute nur Altersheime unterwegs, oder was? Entweder Altersheime oder Fahranfänger. Er selbst war zwar erst recht noch Anfänger, aber er fand, er hatte den Benz schon ganz gut im Griff. Fast so
gut wie sein altes Moped, auf dem er bei Wind und Wetter langsame und endlose Kilometer zu Schule und Arbeit gerödelt war. Nach seinem Ableben würde Jessi, so hieß die Maschine, sicher in Sebastians Hände fallen. Der würde sie garantiert verschrotten lassen. Allein schon aus Rache. Aber nur, wenn du überlebst, Basti. Und das muss ich mir noch schwer überlegen. Verdammt, warum hörte das Klingeln nicht auf? Wieso ging die verfickte Mailbox nicht dran? Kadjar schnalzte ärgerlich mit der Zunge
und riss das kleine Gerät wieder hervor. "Ja?" meldete er sich knapp. Telefonieren am Steuer war zwar verboten, aber heute sollte ihm lieber keiner mit Vorschriften und Gesetzen kommen. Es sei denn, derjenige war scharf auf ein patronenförmiges Loch im Kopf. "Hallo?" erklang eine unbekannte männliche Stimme. "Mit wem spreche ich?" "Mit dem, dessen Nummer Sie gewählt haben", antwortete Kadjar spöttisch. "Bist du rancorBL17?" Der Teenager erstarrte. Von einem Moment zum anderen wurde ihm vom Scheitel bis zur Sohle
entsetzlich heiß. "Also bist du es", meinte der Fremde befriedigt nach einigen Sekunden geschockten Schweigens. "Sehr schön. Jetzt hör mir gut zu, Kleiner. Ich weiß, dass du auf der A9 unterwegs bist. In ungefähr vier Minuten nimmst du die Ausfahrt und hälst dich rechts, bis du eine Brücke erreichst. Dort wirst du einen Selbstmörder davon abhalten, eine unglaubliche Dummheit zu begehen. Hast du verstanden?" Der Junge brachte nur einen merkwürdigen Keuchlaut heraus. Seine Gedanken überschlugen sich. Wer war dieser Anrufer? Woher kannte er seinen Nicknamen aus
dem Anymystery-Forum und wie zur Hölle war er an seine private Nummer gekommen? "Noch dreieinhalb Minuten, rancor-boy." Der Junge fand endlich seine Sprache wieder. "Woher kennen Sie mich?" stieß er hervor. "Woher wissen Sie, wer ich bin?" "Das besprechen wir später. Jetzt wirst du erstmal zur Brücke fahren und den Mann am Springen hindern." Was faselte dieser Verrückte da? Kadjar hatte weder Zeit noch Lust für solche Scherze. Selbst wenn es diesen Selbstmörder gäbe, würde Kadjar ihn sicher nicht
aufhalten. Dieser Mensch würde schon einen guten Grund für sein Tun haben. Wer weiß, vielleicht einen ähnlichen wie er selbst? "Vergiss nicht, rechtzeitig den Blinker zu setzen, rancor." "Fick dich", fauchte er wütend, "einen Scheiß werd ich! Du verarschst mich doch!" "Nein, leider nicht. Die Sache ist im wahrsten Sinn des Wortes todernst. Wenn du dich weigerst, muss ich leider deine Familie über deinen kleinen Ausflug ins Benehmen setzen. Papi wird nicht begeistert sein, dass du einfach frech seinen Wagen geklaut hast, während er mit Mami gestritten hat,
meinst du nicht?" "Jörg ist nicht mein Vater!" schrie Kadjar, aber eigentlich verstörte ihn etwas anderes. "Lass mich in Ruhe, wer zur Hölle bist du überhaupt?" Diese Scheiße wurde langsam unheimlich. Woher wusste dieser Kerl soviel über ihn? "Wir werden uns bald kennelernen, rancor. Vorher fahr bitte zur Brücke." "Ich will dich aber nicht kennenlernen! Und ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich zu tun habe!" "Vielleicht solltest du deine Entscheidung nochmal überdenken." Der Tonfall des Mannes war unangenehm
gelassen. "Ich kenne deinen bürgerliche Namen, rancor, den ich jetzt aber nicht nennen werde, für den Fall, dass wir abgehört werden. Ich weiß ebenfalls, wo du wohnst und wie die Schule heißt, in die du gehst und die du genauso leidenschaftlich hasst wie deinen leiblichen Vater, der sich bei deiner Geburt aus dem Staub gemacht hat." Kadjar wich die wenige Farbe aus dem blassen Gesicht. Die Hand, mit der er das Telefon festhielt, begann zu zittern.
"Zum letzten Mal, rancor: Nimm die Ausfahrt. Ansonsten verfolgt dich eine Polizeistreife, ehe du dich versehen
hast."