rose im schnee
Eine kleine Geschichte - geschrieben von GRETA
Am letzten Tag des Januars lag in München tiefer Schnee. Am Vortag und in der Nacht hatte Frau Holle ihre Betten über die Landschaft ausgeschüttelt.
Auf den geräumten Straßen und Gehsteigen war nur ein langsames Fortkommen möglich. Man musste sehr vorsichtig Schritt vor Schritt setzen, da ab und zu kleine Eisflächen ein Ausrutschen verursachen konnten - und das tat ziemlich weh.
In der Mensa der Uni in der Ludwigstraße herrschte viel Betrieb. Heute war kein Tag, an dem sich die Studenten mit einem Snack und einem Becher Kaffee in den Außenanlagen bewegen konnten. Die Kälte zwang sie in die Innenräume. Alle Tische waren belegt. Die dicken Mäntel lagen über den Stühlen und brachten durch den Temperaturwechsel von draußen nach drinnen feuchtkalte Ungemütlichkeit mit.
Susanne, Studentin der Medizin im letzten Semester, stand kurz vor ihrem Staatsexamen. Mit ihrem Becher heißen Kakaos und einem Croissants in der einen und ihrem Rucksack in der anderen Hand,
suchte sie vergeblich einen Platz, an dem sie kurz entspannen und relaxen konnte. Kommilitonen riefen ihr zu: „Hallo!“, „Grüß Di!“, „Alles klar?“ Doch sie ließ sich keine Zeit zu einem Smalltalk. Heute Nachmittag hatte sie Dienst. Sie wusste, dass sie sich wegen der winterlichen Straßenverhältnisse nicht so schnell fortbewegen konnte wie sonst. Sie setzte sich auf ihren Rucksack, aß und trank in ziemlicher Eile.
Susanne hatte sich für das Medizinstudium entschieden, um Kranken und Hilfsbedürftigen zu helfen. Sie hatte sich noch nicht auf ein bestimmtes Gebiet festgelegt, denn sie wollte jede Sparte kennenlernen. Sie war sehr fleißig und
wissbegierig und eine der besten Studentinnen ihres Studienjahrganges.
Es fiel ihr schwer, in der Anatomie, in den Abteilungen der Schwerstkranken und Sterbenden der Krankenhäuser zu arbeiten. Sie entwickelte zu viel Empathie. Sie informierte sich genau über den Kranken, den Menschen, wollte die Lebensumstände erfahren, die Lebens- und Leidensgeschichte. Sie wusste, dass sie sich ändern musste. Sie musste sich eine bestimmte emotionale Kälte und Abstand zulegen, sonst würde sie scheitern. Sie arbeitete daran. Nach dem Dienst zog sie sich zurück in ihr Reich, entwickelte Tagträume, die sie all das Erlebte nicht vergessen sondern verarbeiten ließen. Und
es gab ja auch hoffnungsvolle Situationen. So saß sie da auf ihrem Rucksack. Der Lärm und das Gewusel um sie vertrieben die Tagträume. Jetzt war es Zeit, sich auf den Weg zu machen.
Sie musste die Ludwigstraße entlang bis zum Marienplatz zu ihrer Arbeitsstelle, einem kleinen Blumenstand. Die duftenden Blüten kompensierten die Gerüche ihrer Studienwelt. Sie liebte Blumen über alles. Schnell lief sie an den exquisiten Läden mit den geschmückten Schaufenstern und edlen Kleidungsstücken vorbei. Nun verlangsamte sie doch ihre Schritte. Hier, in diesem Schaufenster des Modedesigners, wollte sie sich die wunderschönen, ausgestellten
Abendkleider angucken. Es war Ballsaison in München. Sie stand da und in ihren Tagträumen hörte sie Walzerklänge, die ihre Miene strahlen ließen. Ihre Augen waren weit geöffnet und ein Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. Sie summte leise mit, und ihr Körper bewegte sich nach dem Takt.
Ein Passant stellte sich neben sie. Er hörte sie summen und sah ihr strahlendes Gesicht. Er musste sie ansprechen. Susanne nahm ihn nur verschwommen wahr … sie hörte schon: „Darf ich bitten, meine Dame?!“ Da wurde sie in die Realität zurückgerufen. Eine sympathische Stimme sagte ihr nur: „Guten Tag! Ich denke schon, dass sie sich etwas sehr Schönes ausgesucht haben. Ihre
Vorfreude sah ich ihrer Miene an. Und viel Spaß mit ihrem Liebsten beim Ball!“ Er hatte es eilig und verschwand.
Der Blumenstand war mit einem Plastikgehäuse umgeben. Durch einen Schlitz konnte man eintreten, die Wärmestäbe verbreiteten eine Gemütlichkeit, und der Blumenduft wurde durch sie intensiver. Heute war viel Betrieb. Susanne schnitt Blumen, band Sträuße und Gestecke und beriet ihre Kunden. Sie verband ihre Arbeit mit sehr viel Liebe, erntete Dank und Lob und manchmal auch ein kleines Trinkgeld.
Ein neuer Kunde trat ein. Susanne erkannte
den Herrn, der sie am Schaufenster angesprochen hatte. Er lächelte sie an: „So trifft man sich also wieder. Ich freue mich! Ich möchte einen kleinen Biedermeierstrauß für meine Tochter. Sie brach sich gestern bei dem Glatteis das Bein, sitzt zuhause und ist unglücklich. Sie müssten in ihrem Alter sein. Es wäre schön, wenn sie mir den Strauß mit Ihren Lieblingsblumen binden würden.“ Susanne machte sich mit Begeisterung an die Arbeit. Es sollte der schönste Strauß werden, den sie je gebunden hatte. Während sie arbeitete, fragte er sie so nebenbei: „Lieben Sie klassische Musik?“ „JA! Seit meiner Kindheit im Elternhaus. Ich wuchs mit klassischer Musik auf, lernte Blockflöte und Klavier und besuchte mit meinen Eltern
Konzerte. Morgen gastieren die Wiener Philharmoniker im Gasteig. Da gab es keine Möglichkeit für Studenten, sich kurz vor Beginn des Konzertes noch günstige Karten zu besorgen. Das Konzert war schon lange ausverkauft. Ich werde mir das Konzert im Radio anhören.“
Der Strauß war fertig. Er war wunderschön geworden. Man sah, mit welcher Liebe er gefertigt wurde. Der Kunde bezahlte, zögerte ein wenig, entnahm seiner Brieftasche noch etwas, das er Susanne in die Hand drückte: „Hier ist eine Karte für das Konzert der Wiener Philharmoniker. Nachdem meine Tochter nicht dabei sein kann … machen Sie mir doch die Freude und begleiten sie mich!
Bis Morgen also.“ Und weg war er. Susanne wusste nicht, wie ihr geschah, erwartete, aus ihrem Tagtraum zu erwachen. Da kam schon der nächste Kunde. Sie drückte die Eintrittskarte an ihre Brust, machte einen kleinen Luftsprung, steckte sie in ihren Rucksack.
Der junge Mann wünschte eine Rose: „Nein, Sie brauchen sie nicht einzuwickeln. Sie wird gleich ihren Platz finden!“ Susanne staunte, wollte noch etwas dazu sagen. Der Kunde war aber schon weg. Sie schüttelte den Kopf. So etwas, die Blume würde die Kälte nicht überstehen. Sie kam nicht dazu nachzudenken. Der kleine Lieferwagen stand schon bereit, um die Blumenpracht
aufzunehmen und über Nacht ins Gewächshaus zu stellen.
Der junge Mann aber lief, mit der Rose in der Hand, in Richtung Englischer Garten. Hier, an der kleinen Brücke, hatte er seine Freundin zum ersten Male geküsst. Heute, am 31. Januar, war der Jahrestag des Kennenlernens. Sie waren glücklich verheiratet, hatten eine kleine Tochter.
An jedem 31. Januar, der dem Kennenlernen und dem ersten Kuss folgte, legte er seither eine Rose an diese Stelle. Sehr dekorativ sah sie aus … auf dem weißen, jungfräulichen Schnee.
Mit dieser Geschichte wünsche ich allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest, gesegnete Tage und Zeiten des Zur-Ruhe-Kommens.
Und für das neue Jahr alles erdenklich Gute, Gesundheit und ein vor allem friedliches Jahr.
Mein herzlicher Dank geht an meineFreundin Greta für diese bezaubernde Geschichte und das tolle Coverfoto, welches im Original noch viel schöner aussieht.
NORIS