Kurzgeschichte
Fred

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"Fred"
Veröffentlicht am 17. Dezember 2016, 40 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich versuche mit guten Geschichten zu unterhalten. Hoffentlich glückt es. Ich bin Jahrgang 1958, in München geboren. Seit meiner Kindheit schreibe ich, habe aber nie eine Profession daraus gemacht. Meine zarten Versuche mal eine meiner Geschichten bei einem Verlag zu veröffentlichen sind gescheitert. Hier gibt es eine Auswahl von Kurzgeschichten aller Art. Sie sind in ihrer Kürze dem Internet und e-pub Medium angepasst.
Fred

Fred

Vorbemerkung

Eine Weihnachtsgeschichte. vielleicht zum Nachdenken, auch für Erwachsene.


(wieder eingestellt: 10.12.2018)


Gute Unterhaltung!






Copyright: G.v.Tetzeli

Cover: G.v.Tetzeli



Fred

In einem Vorort von London, es war um die Weihnachtszeit, stand ein altes verfallenes Gemäuer. Zwei Straßen kreuzten sich und an dieser Ecke stand dieses Haus. Es hatte einen verwilderten Garten und war schon recht verkommen. An sich muss es einmal eine schöne Villa gewesen sein, mit Erkern, schönen Fenstersimsen. Aber nun war es verfallen. Einige Fenster hatten schon einen Sprung und waren vom Schmutz milchig. Es schneite jetzt in der Nacht. Drinnen saßen zwei Katzen vor dem Kaminfeuer, das lustig vor sich hin prasselte. Vor ihnen lag ein Tellerchen mit Lebkuchen und Plätzchen und ab und an griff einer von den Beiden

zu. „Irgendwie hat die Weihnachtszeit auch ihr Gutes“, meinte Carlos, der gelb gescheckte Kater und schnurrte genüsslich. Er genoss die Wärme, welche die züngelnden Flammen verbreitete. Der andere mit Namen Chef, der schon wesentlich älter schien, seufzte nur und blickte in das wabernde Feuer. Sein Fell war ergraut und man sah seinem Gesicht das Alter an. Im Augenblick wirkte er teilnahmslos, erschöpft und müde. Vielleicht war er auch einfach nachdenklich. „Ja, ja“ „Was hast du denn“, fragte Carlos besorgt. „Ach weißt du, ich komme jedes Jahr um die Weihnachtszeit hierher. Und irgendwie macht

mich das melancholisch, um nicht zu sagen etwas traurig.“ „Besinnlich meinst du wohl. Das ist doch in Ordnung, jetzt zur Weihnachtszeit. Man sollte ruhig etwas in sich gehen!“ Carlos knirschte zwischen den Zähnen, weil er gerade eines der Plätzchen vertilgte. „Übrigens, wieso kommst du eigentlich jedes Jahr her? Hast du denn kein eigenes Zuhause?“ „Doch, freilich, das schon. Aber warum ich jedes Jahr um die Weihnachtszeit hierher komme, hat eine eigene Bewandtnis. Ich habe dich zum ersten Mal mit hierher genommen. Sonst war ich hier immer allein in dieser Zeit.“ „Wirklich? Immer allein? Das ist doch aber furchtbar fade. Und das ausgerechnet zur Weihnachtszeit, dem Fest der

Freude.“ Der alte Kater sah seinem Freund ernst in die Augen. „Weißt du, das ist eine eigenartige Geschichte und schon lange her.“ Fred merkte auf. Sein Schwanz zitterte hin und her vor Erregung. Es sah so aus, als ob es spannend werden würde. „Erzähl doch, Chef!“ Der Chef putzte seine Vorderpfote und meinte dann: „Du würdest sie mir sowieso nicht glauben. Sie ist zu unwahrscheinlich, aber trotz allem: haargenau so hat sie sich zugetragen.“ „Bitte, bitte, erzähle doch“, bettelte Carlos. „Also gut“, meinte der Chef. „Höre gut zu!“

Carlos setzte sich in Positur und schien sehr

aufmerksam. Er hatte sich noch einen Lebkuchen geschnappt und war nun ganz Ohr. Es war vor langer Zeit. Damals war ich noch jung, weißt du. Da saß ich auch hier und es war Anfang Dezember. Natürlich war das Haus zu dieser Zeit nicht so verfallen, wie jetzt, aber es war schon unbewohnt gewesen. Soviel ich weiß, stand es damals zum Verkauf. Ich saß ebenfalls mit einem guten Freund beieinander. Ich kann sagen, es war mein bester Freund, den ich damals hatte. Mit den anderen Katern hatte ich nur Streit und mit den Damen; nun ja, du weißt, wie das bei uns Katzen eben so ist.“

Fred nickte wissend. „Dieser beste Freund war nämlich eine Maus und sie hieß

Fred.“ „Eine Maus? Eine richtige Maus? Und sie hatte sogar einen Namen? Fred?“ Carlos war maßlos erstaunt. Der Chef nickte. „Natürlich. Es war Fred, die Maus. Sie hatte mich einmal gewarnt, als eine jugendliche Katzenbande mir einen Hinterhalt gestellt hatte und über mich herfallen wollte, weil ich in ihr Revier eingedrungen war. Sie warnte mich, als sie die ganze Horde sah und so konnte ich entkommen. Bestimmt hätten sie mich ansonsten umgebracht! Jedenfalls habe ich das Fred nie vergessen. Seitdem habe auch ich ihn beschützt. Vor meinen Kollegen, den Katzenraufbolden.“ „Nicht zu fassen! Du und eine Maus.

Ausgerechnet eine Maus.“ Carlos griff nach einem weiteren Plätzchen und biss herzhaft hinein. Das Plätzchen krachte, dann sah Carlos den Chef an. „Du weißt, was ich meine? Wie merkwürdig das klingt?“ Carlos war verwirrt. „Ich weiß, was du denkst. Eine Maus ist eben nur ein Happen“, erwiderte der Chef, wobei er genau das splitternde Plätzchen in Carlos Maul fixierte. „Das verstehst du eben nicht.“ Der Chef zuckte mit den Achseln. „Offen gestanden, nein.“ „Er war mein Freund. Und ehrlich gesagt, es gab keinen besseren, bevor ich dich kennenlernte.“ Der Chef fuhr fort, während er etwas verklärt wirkte. „Weißt du, wie wertvoll es ist einen Freund zu

haben. Dem du vertrauen kannst? Siehst du, mir fiel es leicht Fred zu vertrauen, aber das besondere war, dass er auch mir vertraute, obwohl er gar nichts machen hätte können, wenn ich plötzlich Hunger auf Mäuse bekommen hätte. Verstehst du jetzt?“ Carlos wurde sehr nachdenklich. „Vielleicht. Vielleicht so einigermaßen.“ „Jedenfalls saßen Fred und ich genau hier. Auch das Feuer im Kamin brannte und wärmte genauso wie jetzt. Wir hatten ebenfalls vor uns einen Teller mit Keksen. Aber ich sah Fred an, dass ihn etwas bedrückte. Er wirkte richtig geknickt. Er zitterte, wie Espenlaub. Und daher fragte ich ihn, was er denn hätte. Er wollte es nicht gleich sagen, aber schließlich rückte er damit

raus. „Weißt du Chef, ich mag einfach nicht mehr“, so hatte er niedergeschmettert geseufzt. „Ach papperlapapp! Wir haben es doch jetzt richtig gemütlich, oder etwa nicht“, sagte ich damals aufmunternd. „Na und? Gemütlich? Von Wegen! Siehst du denn nicht, was alles um uns herum alles geschieht?“ „Was meinst du?“ „Ach nichts.“ „Nun rück schon raus alter Junge“, zwinkerte der Chef.

Fred begann nun auf und ab zu laufen. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es handelte sich um eine Maus. Alles begann mit Bankowski“, begann

Fred. „Bankowski?“, fragte der Chef. „Mir war der Kerl nämlich gänzlich unbekannt, musst du wissen. „Bankowski ist eine Ratte. Ein Typ, der die Vorräte verwaltet. Einnehmend, brutal und skrupellos. Ja er ist mächtig. Er hat sämtliche Ratten unter sich. Du weißt schon, die, die sich in den unterirdischen Abwasserkanälen herum treiben. Widerliche Biester. Die Maus erzählte weiter: „Und wenn sie entsprechend hungrig sind, dann fallen sie über uns Mäuse her, bzw. wenn sie uns nicht kriegen, dann über unsere Vorräte. Und da, bei diesen Gelegenheiten, half Bankowski. Er würde auf unsere Vorräte aufpassen, sie verwalten, ja sie sogar vermehren, hatte er versprochen. Dass jemand für uns aufpassen würde, da waren natürlich alle

begeistert. Er müsse aber einen gewissen Anteil als Zins für seine Mühen verlangen. Das fanden wir irgendwie ok. Na, ja, das Ende vom Lied war, dass er dann etwas von Verwaltungsmühen und organisatorischem Aufwand schwätzte, uns mit irgendwelchen Zahlen erschlug und das Ergebnis war, dass wir nur noch ein Drittel unserer Vorräte besaßen. Den übrigen Teil hatte dieser Kerl selbst aufgefressen. Er wurde dabei immer fetter. Wir sahen es, aber wir konnten nichts machen. Unsere mühsam zusammengetragenen Vorräte verschwanden weiterhin in seinem Schmerbauch. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Schließlich schlossen wir uns zusammen und wollten ihn zur Rede stellen, aber er hatte schon alle anderen Ratten um sich versammelt. Aha! Die

Ratten, vor denen er uns hatte bewahren wollen? Da waren wir natürlich machtlos. So, nun stehe ich da und weiß nicht, wie ich durch den Winter kommen soll. Und Bankowski ist das natürlich auch Wurst!“ So erzählte mir Fred seine Geschichte. „Aber du hast doch mich, deinen Freund“, versuchte der Chef ihn aufzumuntern. „Soll ich dem vielleicht mal meine Krallen zeigen?“ „Das hat doch keinen Zweck“, meinte Fred niedergeschlagen. „Der hat doch sämtliche anderen Ratten hinter sich. Da hast auch du keine Chance.“ Er seufzte erneut. „Schlichtweg bankrott. Ach, ja, und nicht genug damit“, fuhr er fort, wobei er mit seiner Hinterpfote verdrossen einen ausgebrannten Holzspan über den Parkettboden schnippte.

„Daisy hat mich auch verlassen. Sie hatte zu mir gesagt, dass sie mit einem Versager, wie mir nicht zusammen sein könne. Stell dir das mal vor! Und das alles wegen dieses Scheißkerls Bankowski!“ „Na, das renkt sich doch bestimmt wieder ein“, meinte damals der Chef. „Und überhaupt, wenn sie nicht zu dir gehalten hat, dann war es wahrscheinlich sowieso nicht die Richtige gewesen.“ „Es kommt noch schlimmer“, schniefte Fred, „weißt du, ich fühle mich einsam.“ Er ließ dieses Bekenntnis eine Weile im Raum stehen, dann beichtete er weiter. „Ich nahm mich zusammen, schließlich, dachte ich, sei noch nicht alles verloren. Wir hatten ja einen Mäusefond gegründet, um Notleidenden

auszuhelfen. Ich ging also hin und bat um Unterstützung. Nichts zu machen, sagte man mir dort. Vorschriften! Und dann überfielen sie mich förmlich mit ihren unendlich wichtigen Scheiß vorschriften. Ich hätte schon früher dies und das beantragen müssen und so weiter. Als ich sagte, dass ich das früher gar nicht gewusst haben konnte, dass ich in solch eine Lage kommen würde, sagten sie, dass das eben mein Pech wäre. Unter der gegebenen Aktenlage, so meinten sie, wäre nichts zu machen. Und als ich sagte, dass sie doch nur den gesunden Mäuseverstand einschalten müssten, um meine Lage neu zu beurteilen, da stieß ich auf taube Ohren. Auch als ich erwähnte, dass sogar Paul, der Fette in meiner Nachbarschaft, der in Saus und Braus lebte, eine Zuwendung bekommen

hätte, da antworteten sie, dass der wahrscheinlich rechtzeitig einen Antrag gestellt hätte.“ Fred sah ihm damals tief in die Augen. „Verstehst du, ich verstehe es einfach nicht mehr. Alle geben mir irgendwelche klugen oder nicht klugen Antworten, aber ich habe noch keinen gefunden, der mir irgendetwas wirklich erklären kann.“ Ich versuchte damals Verständnis für ihn zu empfinden, aber es wollte mir nicht so ganz gelingen. „Aber sieh doch“, meinte der Chef, “das hat schon irgendwie seine Ordnung. Und überhaupt, denke daran, ich bin doch dein Freund.“ „Irgendwie?! Siehst du es immer noch nicht. Wie werden, wie z.B. unsere Mäuse Welpen,

herumgeschubst. Laut Vorschrift, wohlgemerkt!“ „Damals erkannte ich“, sagte der Chef, „dass sich Fred in Rage geredet hatte. Er war nicht mehr zu bremsen.“ Fred schluchzte. „Kein Käse, der nicht irgendwie verdächtig duftet, vergiftet, oder verfault. Kein umher streichen, weil Fallen uns den Gar aus machen wollen. Mord ist das, sage ich dir. Mord!“ „Du musst ja nicht hinein tappen, wenn du es eh erkennst“, entgegnete ich damals. „Du bist mir der einzige Freund, der mir geblieben ist. Weißt du das überhaupt? Alle anderen haben sich von mir distanziert, als hätte ich die Krätze. Mit mir ist eben im Augenblick kein Geschäft zu machen. Daher bin ich auch völlig uninteressant, unwichtig, überflüssig. Keiner ist mehr zu mir freundlich, von Hilfe ganz zu

schweigen“ „Das wusste ich nicht.“ Irgendwie fand ich damals, dass Fred allzu sehr jammerte. „Du kannst die restlichen Plätzchen mitnehmen wenn du willst.“ Ich dachte bei mir, wenn ihm schon meine Freundschaft nicht so viel wert erscheint, kann er sich wenigstens die nächsten Tage den Bauch vollschlagen. „Aber wir morden uns neuerdings auch unter uns selber. Das finde ich ist das Schlimmste.“ Leider musste ich damals etwas kichern. Ich konnte nicht anders. Verstehst du das? Wir waren sozusagen nicht die einzigen Mäusefänger.“ Carlos hatte selbst schon die Zähne zu einem Lächeln

entblößt. „Klar doch, erwiderte Carlos!“ „Aber dann kam das Traurige. Fred machte auf der Stelle kehrt und ging aus dem Zimmer hinaus. Ich folgte ihm und fragte, was er denn vor hätte. Er schaute sich nicht einmal mehr um, sondern stiefelte weiter. Komm doch zurück, bitte“, rief ich ihm noch nach, aber es zeigte keine Wirkung. Er hatte noch nie zuvor den gemütlichen Abend zur Adventszeit vorzeitig verlassen. „Ich mag einfach nicht mehr“, tönte es lediglich über seine Schulter. Und weil ich seine Seelenqual irgendwie verstehen konnte, so ließ ich ihn ziehen. Vielleicht war das falsch gewesen. Jedenfalls dachte ich, dass es das Beste wäre, ihn erst

einmal zur Ruhe kommen zu lassen. Ich sah ihm nach, wie er durch den Katzenverschlag ins Freie abhaute. Vielleicht wollte er nur einfach ein wenig alleine sein, bis er sich wieder gefangen hatte. Irgendwie fühlte ich mich mies, aber ich wusste auch nicht, was ich hätte besser machen sollen.

Nach einer Weile, das Feuer war bereits herunter gebrannt, quälten mich Gewissensbisse. Vielleicht hätte ich Fred doch nicht so alleine loslaufen lassen sollen. Wer weiß überhaupt, wohin er wollte. Vielleicht wollte er sich sogar etwas antun. Rücksicht hin oder her. Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Vielleicht sogar ihm helfen. Dieser Blödmann! Nichts als Ärger! Ich wischte damals durch den Katzen verschlag nach draußen. Es war tiefe Nacht inzwischen,

aber das Mondlicht reichte gerade noch aus, um genügend zu sehen. Es schneite nicht mehr, aber dafür war es bitterkalt geworden. Himmel, wo mochte er bloß stecken! Nachdem kein Schnee mehr gefallen war, konnte man noch die Abdrücke in der Schneedecke erkennen. Freds kleine Fußstapfen führten geradewegs quer über die Kreuzung. Wenn er diese Richtung beibehielt, dann kam er direkt aus London heraus. Dort begannen die Felder und ab und an war nur niedriges Gestrüpp, das sich rechts und links der Landstraße entlang dahin zog. Meine Fresse! Die Spur führte direkt quer in das nächste Feld! Keine Möglichkeit irgendwo Unterschlupf zu finden. Eiskalte Böen fegten über die weit offene Ebene. Vielleicht hatte er ja einen Vetter. Eine Feldmaus, die dort ein Zuhause

hatte. Eine Höhle, wo er sich wärmen konnte. Ich trabte die Spur entlang. Schließlich kam ich zu einem zu gefrorenen Weiher. Dort verlor sich die Spur. Durch den Wind war das Eis wie blank geputzt und ich konnte keine Spur mehr von Fred entdecken. Also umrundete ich die Eisfläche. Irgendwo musste er schließlich weiter gegangen sein. Und tatsächlich, ich fand die Fährte wieder. Lausig kalt war es mir inzwischen geworden. Meine empfindlichen Schnurrhaare waren schon ganz steif. Und gerade als ich dachte, du blöder verbohrter Fred, was ist überhaupt in dich gefahren, da bereute ich diesen Gedanken augenblicklich. Ich hatte ihn endlich gefunden. Er lag vor einer Schneewehe. Er war tot. Der Chef schwieg. Das Feuer prasselte lustlos

vor sich hin und Carlos konnte auch nur stumm und voller Trauer in die Glut blicken. „Das ist ja furchtbar.“ „Ja, so war es. Du kannst dir denken, wie erschüttert ich war. Er war schon ganz steif gefroren.“ „Oh Gott, oh Gott!“ Der Chef fuhr fort. „Was sollte ich machen? An Wiederbelebungsversuche war nicht zu denken, das sah ich gleich. Es war einfach zu spät, verstehst du.“ Carlos konnte nur traurig nicken und bestätigen. Er hatte auch mal eine erfrorene Katze gesehen. Man sah dem Kadaver auf Anhieb an, dass jegliches Leben aus dem Körper verschwunden war. Da musste man kein Spezialist sein.

„Das einzige, was ich tun konnte, war ihn würdig unter die Erde zu bringen“, fuhr der Chef fort. „Hier draußen war der Boden gefroren. Ich konnte ihn hier gar nicht begraben. Und ich wollte ihn auch hier draußen, so allein nicht liegen wissen. So hob ich ihn auf und trabte zurück hier vor das Haus. „ „Deshalb kommst du immer wieder her“, fragte Carlos „Nein. Ich konnte es nicht übers Herz bringen. Hier, wo wir ein paar Stunden zuvor einträchtig nebeneinander gesessen waren. Nein, das ging nicht. Ich überlegte fieberhaft und plötzlich kam mir ein Gedanke. Ja, der Stadtbrunnen ganz in der Nähe. Das war das richtige! Ich meine den Brunnen schräg dort drüben natürlich.“ Der Chef zeigte mit der Pfote die

Richtung. „Ja, ja. Ich kenne ihn. Drüben im Park. Dort ist es immer ein bisschen wärmer“, wusste Carlos. „Ich trug Fred also zu dem Park und vergrub ihn direkt in dem Blumenbeet neben dem Brunnen. Dort war die Erde noch nicht gefroren. Es war zwar mühsam, aber ich schaffte es ein recht tiefes Loch zu graben. Weißt du, damit diese blöden Ratten mit diesem Jankowski nicht an ihn heran kamen. Dann legte ich den Armen hinein und schüttete alles wieder zu. Daraufhin musste ich noch Schnee darüber werfen, damit die Stelle nicht gleich für jedermann ersichtlich war. Als ich endlich von der Schufterei aufblickte, waren mehrere Mäuse um mich versammelt. Sie hatten mir offensichtlich die ganze Zeit zugesehen und einer, wohl der Anführer, dankte mir, dass ich das

für ihren Kameraden Fred getan hätte. Dann grüßten sie und verschwanden in der Nacht.“ „Woher die das wohl gewusst haben, dass du Fred vergrubst“, sinnierte Carlos nachdenklich. „Ich weiß es auch nicht.“ Der Chef schüttelte den Kopf. „Instinkt, Geruch, das Scharren als zu lautes Geräusch. Was weiß ich? Jedenfalls kannst du dir vorstellen, dass ich sehr betrübt nach Hause gegangen bin. Ich nahm gar nichts mehr um mich herum wahr. Schließlich war ich zu Hause angekommen, legte mich auf meine Katzen-Decke und versuchte einzuschlafen. Aber wie eingeschlafen? Ich musste dann doch völlig weg gewesen sein. Jedenfalls kam es mir so vor. Aber ich hatte einen Alptraum. Einen richtigen Alptraum! Einen, den ich nicht vergaß.

Ich verfolgte darin die Spuren von Fred. Ich konnte es genau sehen, wie in Wirklichkeit. Aber etwas verschwommen. Ich stakste einfach entlang. Ohne Ziel, ohne Irgendwohin. Ich wusste einfach nicht die Richtung. Und plötzlich versah ich mich in seine Rolle. Etwas unwirklich, gewiss. Aber halt so, wie Träume sind. Ich fühlte mich, als wäre ich Fred selbst. Als Fred stolperte ich in die Kälte hinaus. Der kalte Nordwind erfasste mich, aber ich dachte nicht daran aufzugeben. Ich musste weiter. Wohin? Wohin wusste ich selber nicht. Ich lehnte mich gegen den Sturm. Er blies mir direkt entgegen. Schon lange bot mir mein Fell keinen Schutz mehr gegen diesen kalten Orkan. Die Nase voraus, versuchte ich dagegen anzukämpfen. Immerhin, ich schaffte einen Schritt nach dem anderen in

dieser Eiswüste voran zu kommen. Immer weiter, weiter gerade aus. Ich erreichte das Feld, stolperte weiter in den Acker hinein und erreichte den kleinen Weiher, an dem ich schon als Kind gespielt hatte. Ach, ja, schöne Zeiten waren das gewesen. Nun, da ich zurückkehrte, jämmerlich, mit zerzaustem Fell, würde niemand mehr mich begrüßen. Wie auch, in dieser Schneenacht. Ich wurde müde. Unsäglich müde. Der Chef, so dachte ich, wäre gewiss stolz gewesen, dass ich so lange durchgehalten hatte. Aber nun war meine Kraft verbraucht. Ich musste mich hinsetzten. Nur ein Momentchen ausruhen, dann würde es weitergehen. Es tauchte die Frage auf, inwieweit ich Farben sehen konnte. Ich konnte sie tatsächlich sehen, wenn auch irgendwie imaginär. Ich spürte sie aber. Es bildete sich ein

Wirbelsturm um mich herum, gleich einem Zyklon, oder einem Tornado. Flimmernde Blitze umtosten mich und verschwanden in einem Kegel in das Nichts. Können wir überhaupt Licht in dieser Phase bemerken, so kommt mir es in den Sinn. Es ist inzwischen egal, weil ich in dem Inferno, praktisch in dem Auge des Orkans vor mich hin rotiere. Langsam und dann immer schneller. Ich sah eine dunkle Abzweigung aus dem Orkankegel hinaus und versuchte darauf hin zu paddeln, aber ich wurde von dem Malstrom hinfort gerissen. Es leuchteten unregelmäßig Lichtblitzte auf. Ich war in einem rund um mich herum gleißenden Inferno verhangen. Nichts konnte dies aufhalten. Ich ließ mich treiben, wie ein Sandkorn bei einer Flut. Hin und her gewälzt erwartete ich das

Schicksal, das unweigerlich auf mich hereinbrechen würde. Da wachte ich schweißgebadet und völlig erschöpft auf. Ich rieb mir erst die Augen und sah nach draußen. Ein schöner Wintermorgen war angebrochen. Das war also der Alptraum.“ „Ein recht merkwürdiger Traum, finde ich.“ Carlos hatte mit offenem Mund zugehört und fragte: „Meinst du, dass er etwas zu bedeuten hat?“ „Du kannst dir selbst einen Reim darauf machen, wenn du die Geschichte zu Ende gehört hast“, antwortete der Chef und erzählte weiter. Jeden Tag besuchte ich das Grab, das ich ihm geschaufelt hatte. Im Park war tagsüber relativ viel los. Leute flanierten um den Springbrunnen

herum, der schon längst ausgeschaltet war, weil sonst die Fontänen nur Eis-Gischt versprühen würden und weil zudem die Rohrleitungen der Zufuhr sicherlich vereist sein und die Rohre zum Platzen bringen würden. So war es an sich ein ruhiger Ort. Nur Tauben, diese lästigen Biester, fanden sich zu Hauf ein. Kollegen von mir waren da sehr guter Stimmung, denn es bestand die Möglichkeit ein paar von diesen Kerlen habhaft zu werden. Meistens aber vertrieben uns die Menschen von dieser einträglichen Jagd. Ich persönlich habe dies nie verstanden. Aber, was soll`s, so ist es nun mal. Jedenfalls, in meiner Trauer, besuchte ich das Grab von Fred mehrmals pro Tag. Niemand hatte anscheinend von dem Grab etwas bemerkt. Doch eines Tages geschah etwas Seltsames, es

war ein paar Tage vor Weihnachten, da war das Grab kein Grab mehr, sondern nur noch ein offenes, klaffendes Loch. Ein Loch, das in die Tiefe ging. Kein Schnee lag darin, obwohl alles darum tief verschneit war. Es war nur ein brauner, modriger Aushub. Leer. Alle wunderten sich. Die Menschen, die vorbeigingen, blickten etwas konsterniert in der Meinung, dass der Parkwächter nicht genügend aufmerksam gewesen wäre, aber ansonsten scherten sie sich nicht darum. Tatsächlich konnte ich beobachten, dass eines Abends der Gärtner das Loch wieder zuschüttete, aber am nächsten Morgen, als ich Freds Grab inspizierte, da war das Loch wieder da. Wer mag es aufgebrochen haben? Wer sollte an dem Kadaver von Fred irgendein Interesse haben? Ich

hatte keine Erklärung dafür. Wie mochte es dazu gekommen sein? Hatte jemand Leichenschändung betrieben? Wenn, ja, warum? Was konnte jemand mit dem Leichnam anfangen? Und noch etwas blieb merkwürdig. Überall lag tief Schnee. Nur in dem Loch war kein Fitzelchen Schnee liegengeblieben. Es war einfach nur ein tiefes, leeres, braunes Erdloch. Die Tiere versammelten sich darum und staunten nicht schlecht. Ein Wunder, riefen sie. Und um mich herum lauter Mäuse, Freunde von Fred. Wir teilten unseren Schmerz. Aber auch sie hatten keine Erklärung, was geschehen sein konnte. Keiner hatte etwas beobachtet. Es war einfach rätselhaft. Jeder holte aus seinen Taschen ein kleines Geschenk. Ein Stückchen Käse, Ein Teil von

Zwieback und einer warf sogar ein Gummibärchen hinein. Schließlich war das Loch voller Gaben gefüllt. Und auch ich stob ein Würfelchen Katzenfutter hinzu. Jeden Tag ging ich hin und sah nach dem Loch. Jeden Tag war es leer, wie wenn Fred davon genascht hätte. Aber das konnte er nicht. Ich selbst hatte ihn doch beerdigt. Jedenfalls kamen seine Freunde jeden Tag zu dem offenen Grabmal, um ihm zu huldigen. Und jeden Tag brachten sie etwas mit. Kleine Spenden, die sie in das Loch warfen. Und schließlich war heilig Abend angebrochen. Da sah ich, wie ein Mann das Essbare aus der Grube klaute und in sich hinein würgte. Er schleckte sich dann die Finger ab und hastete eilends von dannen, so als ob er ein schlechtes Gewissen hätte. Ich verfolgte ihn,

den Dieb, der nicht einmal vor einem Toten Rücksicht nahm. Er ging eine kleine Gasse entlang, als er plötzlich torkelte, fiel. Ich ging zu ihm hin und er hatte sich erbrochen. Er lebte noch und ich sah, dass ich das Weite suchte. Man weiß ja nie. Vielleicht hätte er mich sogar gefangen, so entsetzt war ich. Ich lief in größter Hast nach Hause und legte mich auf meine Katzendecke, aber ich konnte nicht einschlafen, so aufgewühlt war ich. Am nächsten Tag war das Loch wieder mit Geschenken gefüllt und ich ging wieder zufrieden nach Hause. Zufrieden, dass alles in Ordnung sei. Und von da an wurden Spenden in das Loch geworfen. Jeden Tag und jeder hoffte, dass durch diese gute Tat sein Gewissen beruhigt wurde. Ich vermute sogar, dass Bankowski vorbeigeschaut

hatte. Ja und dann kam ich hierher, setzte mich genau an der Stelle hin, wo ich nun sitze. Und ich blickte genau wie jetzt in das prasselnde Feuer und dachte an Fred, was er doch für ein lieber Freund gewesen war. Carlos war zutiefst getroffen. „War das alles? Das hat dich bewogen jedes Jahr herzukommen?“ Nein, das war nicht alles. Als ich so da saß, kam Fred am Weihnachtsabend quicklebendig durch die Katzentüre, so als ob nichts gewesen wäre. Ich war maßlos erstaunt und verwirrt. Bist du es? Ich dachte, dass du tot bist.“ „Nein, fast wäre ich es gewesen, aber anscheinend war ich nur bewusstlos. Jedenfalls

bin ich furchtbar glücklich, dass so viele Freunde mir geholfen haben. Sie haben mir Geschenke gebracht. Nun darf ich doch noch ein Stückchen weiter leben. Und sogar zufrieden.“ Merkwürdig war das, fand ich, woher er dies alles wusste, wo er doch gar nicht in dem Loch gewesen war, aber ich wagte nicht nachzufragen. Und wir feierten eine stille Weihnacht zusammen, die so schön war, wie nie zuvor.“ Es war einfach ein Wunder“, meinte der Chef resümierend. Der Kater lächelte verklärt in sich hinein. „Am nächsten Tag bin ich sofort zu dem Loch gegangen, aber es war einfach nicht mehr da. Ich scharrte noch, um mich zu überzeugen, aber es war verschwunden. So, als ob es niemals

existiert hätte.“ „Und was wurde nun aus Fred?“ Carlos war gespannt. Der Chef zuckte nur mit der Schulter. „War er es überhaupt? Bankowski jedenfalls ist plötzlich einem Magenleiden erlegen“ „Wir wollen Freds gedenken, was meinst du?“ „Jawohl, das tun wir“, meinte Carlos im Brustton der Überzeugung.

Sie nahmen beide gleichzeitig noch ein Plätzchen und bissen genussvoll hinein. Auf Fred!

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welpenweste
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baesta Na, da hast Du ja ganz schöne Seitenhiebe verteilt.
LG Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
CHM3663 Was für eine wunderwunderschöne, traurige, berührende, nachdenklich stimmende Weihnachtsgeschichte!
Das ist ein richtiges kleines Meisterwerk, das einen in eine andere und doch gar nicht so weit enternte Welt entführt, denn die Parallelen zu den Problemen und Ungerechtigkeiten in unserer heutigen Welt sind nicht zu übersehen - echt super!
Dann also: Auf Fred!
Vielen herzlichen Dank und ganz liebe Grüße,
Chrissie
Vor langer Zeit - Antworten
Coyote Ein schönes, nachdenkliches Werk. Hebt sich auf jeden Fall von anderen Weihnachtsgeschichten ab! Klasse!
Vor langer Zeit - Antworten
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