Kapitel 6
„Wir sind hier nicht richtig“, meinte Barn mit einem Schnauben, als sie zwischen zwei Reihen von eng stehenden Häusern entlang schritten und nach jenem Ausschau hielten, das in dem letzten Brief des Magiers beschrieben worden war.
„Doch sind wir“, erwiderte Melinda, die unbewusst ihre Schritte beschleunigte, je häufiger ihr Mann dieses ungeduldige Schnaufen von sich gab. „Glaubst du etwa, der Magier lebt in einem Schloss mitten in der Stadt, wenn er seine Ruhe haben will? Du hast selbst gehört, was der Kerl am Tor über ihn gesagt hat.
Dass ihn nicht einmal die Einwohner von Berkhem kennen und wissen, wo er wohnt.“
„Gibst du ernsthaft was darauf, was dieser Trottel gesagt hat?“
„Der Trottel lebt hier, Barn, und wir nicht. Wir müssen uns drauf verlassen, was er sagt.“ Melinda blieb kurz stehen und wartete, bis der hochgewachsene Krieger zu ihr aufgeschlossen hatte, der mit skeptischer Miene hinter ihr hertrottete und sich absichtlich zurückfallen ließ.
Auf ihrem Weg durch die Straßen waren ihnen vermehrt Blicke gefolgt. Immer dieselbe Mischung aus Besorgnis und Neugier, mit der die Menschen hastig die
Köpfe senkten, sobald sich die Jäger nach ihnen umsahen. Es war natürlich, dass die Bürger über ihre Anwesenheit mehr verunsichert, als geehrt waren. In den Zeiten des Friedens waren sie mehr ein böses Omen, als ein Symbol der Sicherheit.
Die Gegend, in die sie nun gekommen waren, glich mehr einer selbstständigen, dörflichen Siedlung, als einem Teil der großen Stadt Berkhem. Eingezäunte Vorgärten zierten die meiste Hauseingänge und von den Hinterhöfen mancher Grundstücke war das Gackern von Hühnern oder anderem Geflügel zu vernehmen.
„War da nicht was mit so einer
Messingglocke?“ hob Barn auf einmal brummend die Stimme und stoppte abrupt ab.
„Mit einer kaputten Messingglocke, ja. Hast du es gefunden?“ Melinda drehte sich auf dem Absatz herum und folgte dem Blick ihres Mannes. Mit vielsagender Miene wies dieser auf einige lackierte Tonskulpturen, die auf einer Bank aufgereiht waren. Allesamt zirka eine Elle groß und jede in Form eines sehr abstrakten, aufgebäumten Tieres. Vor ihnen auf der Bank lag ein Zettel mit der Aufschrift „Zu verkaufen“. Er war mit einer faustgroßen Messingglocke beschwert, damit ihn der Wind nicht wegwehte. Der
Ring, mit dem sie wohl ursprünglich einmal an dem Haken neben der Eingangstür befestigt gewesen war, fehlte und stattdessen war nur ein Draht eingeflochten. Viel Gewicht hatte der aber offensichtlich nicht tragen können, denn die Glocke wies so einige Kratzer und kleinere Dellen auf.
Die beiden Jäger wechselten kurz unschlüssige Blicke, bis Melinda schließlich mit den Achseln zuckte und zielstrebig auf den Hauseingang zuging.
„Lächerlich“, murmelte Barn nur, ehe er folgte und sich neben seiner Frau vor der Tür platzierte. Diese hob eine Hand und klopfte sacht gegen das dunkle Holz.
Nichts geschah.
Auch auf das nächste Klopfen hin, blieb es still.
„Mister Salivan hört vermutlich schlecht.“ Barn beugte sich vor und donnerte dreimal kräftig gegen die Tür, dass sie sichtbar in den Scharnieren wippte. Melinda schloss nur beherrscht die Augen und sog scharf die Luft ein.
Nach dem nächsten groben Faustschlag, zog der Krieger stutzig seine Hand zurück und sah zu, wie sich die Tür plötzlich einen Spalt weit öffnete. „Mh?“ gab er verwundert von sich, schob aber dennoch einen seiner Stiefel in den Türspalt, um ihn noch ein Stück
weiter zu öffnen. Neugierig trat er über die Schwelle und spähte in den fahl erhellten Raum, der optisch mehr einer Gerümpelkammer ähnelte, als der dauerhaften Residenz eines Zauberers.
Ein raschelndes Geräusch erweckte schließlich seine Aufmerksamkeit, ehe er sich weiterhin den Eindrücken des vollgestopften Wohnraums widmen konnte. Nur für einen flüchtigen Moment traf plötzlich er den verstörten Blick eines augenscheinlich jüngeren Mannes mit auffallend blondem Haar. Gerade in der Sekunde, in der Barn den Mund öffnete, um sich zu erklären, sprang der Bewohner des Hauses hinter jenem Vorhang hervor, hinter dem er
gestanden hatte und durchquerte den Raum mit einigen blitzschnellen Schritten. Instinktiv reagierte Barn, in dem er selbst vorschnellte, um den Mann abzufangen. „He!“ rief er dabei laut. Die Spitze seines Zeigefingers berührte in einer reflexartigen Bewegung bereits den Griff eines seiner Messer. Und als hätte diese flüchtige Geste es ausgelöst, riss der hektisch fliehende Mann in genau diesem Moment eine Hand hoch und Barn prallte wie von einer unsichtbaren Faust getroffen zurück. Mit einem erstickten Fluch auf den Lippen wurde der völlig überrumpelte Krieger gegen den Türrahmen gestoßen und das Gewicht
seines Rucksacks sorgte dafür, dass er dabei vollends das Gleichgewicht verlor und bäuchlings in den verwilderten Vorgarten stürzte. Zu seinem Leidwesen verfehlte er dabei die hässlichen Tonskulpturen.
Unbeirrt hielt der Magier auf das Fenster zu, sprang auf einen Hocker und von dort aus auf den Esstisch. Dreckiges Blechgeschirr, Besteck und ein Kerzenleuchter stürzten dabei klappernd zu Boden. Gerade, als er auf eine Anrichte direkt unter dem Fenster hüpfte, die laut unter seinem Gewicht ächzte, sauste eine dicke, metallische Klinge an seinem Kopf vorbei und bohrte sich unter laut berstendem Holz
tief in den Fensterrahmen. Er stoppte so abrupt ab, dass ihm die Füße unter dem Körper wegrutschten und er nur noch die Arme ausstrecken konnte, um seinen Sturz von der Anrichte abzufangen. Kaum war er auf dem Boden aufgekommen, rollte er sich schon zur Seite, um hastig wieder aufzustehen, doch nur eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt stampfte ein schwerer Stiefel auf und er zuckte zurück. Im nächsten Augenblick packte ihn ein fester Handgriff am Arm, drehte ihn so grob zurück, dass sein Schultergelenk förmlich aufschrie und er plumpste mit dem Gesicht voran wieder zurück auf den knarzenden Boden. Durch wirre,
blonde Haarsträhnen hindurch blickte er Melinda direkt in die Augen.
„Einen reizenden Magier hast du da aufgetrieben“, raunte Barn zornig von der Tür her und spie aus, als er mit donnernden Schritten wieder die Stube betrat. „Haben wir dich bei irgendeinem perversen Experiment erwischt, oder was? Oder reagierst du grundsätzlich so, wenn du Fremde siehst? Kein Wunder, dass niemand was mit dir zu schaffen haben will.“ Mit einigen fahrigen Handgriffen löste er den Knoten des Riemens, mit dem der Rucksack an seine Hüfte gebunden war und ließ ihn im Gehen auf den Boden krachen. Melinda ließ den Mann ohne zu zögern los und
erhob sich flink, um sich Barn in den Weg zu stellen, der erschreckend zielstrebig auf die Axt zusteuerte, die noch immer im Fensterrahmen steckte.
„Beruhig' dich, um Himmels Willen“, zischte sie mit nicht weniger barschem Ton. „Hier liegt ein Missverständnis vor.“ Sie kannte das Temperament ihres Mannes und dessen Folgen nur zu gut.
„Ein Missverständnis? Sicher hab ich ihn mit meiner Visage so erschreckt, dass er Hals über Kopf aus dem Fenster springen wollte. Soll ich mich dafür entschuldigen?“ entgegnete Barn aufgebracht.
„Du sollst nicht so herumschreien.“
„Entschuldige bitte, aber der Kerl hat
mich aus heiterem Himmel angegriffen.“
„Vermutlich, weil du seine Tür aufgebrochen hast und einfach hier hereinspaziert bist“, raunte sie vorwurfsvoll und wies auf die sperrangelweit geöffnete Wohnungstür.
„Das hab ich gar nicht! Die war verdammt nochmal offen.“ Barn gestikulierte unbeholfen. „Ich dachte, das hättest du gesehen.“
„Ich habe gesehen, wie du dagegen gehämmert hast, als gäb's kein Morgen.“ Nun schrie Melinda selbst.
„Deine zaghafte Klopferei hätte ja nicht mal ich gehört. Außerdem warst du der festen Überzeugung, dass es dieses Haus sein muss“, rechtfertigte sich Barn und
erntete einen fassungslosen Blick.
„Hörst du dir eigentlich selbst zu? Das hat damit rein gar nichts zu tun. Wir hätten es morgen wieder versucht, wenn niemand hier gewesen wäre.“
„Genau, Linda. Morgen!“ schnitt er ihr energisch das Wort ab. „Zum eigentlichen, ausgemachten Zeitpunkt. Wir sind nämlich einen ganzen verdammten Tag zu früh.
„Verzeihung“, warf jener Mann vorsichtig ein, der sich derzeit wieder aufgerichtet hatte und skeptisch zwischen den beiden hin und her sah. Seine angespannte Körperhaltung verriet, dass er noch immer mit einer Auseinandersetzung zu rechnen schien.
Er räusperte sich hastig, als Barn zerknirscht den Blick von Melinda abwandte, die sichtlich mit ihrer Beherrschung rang.
„Wer seid ihr?“ fragte er und entfernte sich weiterhin subtil von den beiden Jägern. Aus seinem Blick sprach deutlich Verwirrung und Argwohn.
„Edmerry“, antwortete Melinda schroff. „Die Jäger, über die euch Gerlan Först berichtet hatte. Wir standen auch erst vor Kurzem persönlich in Kontakt“. Sie hob skeptisch eine Braue. „Ihr habt uns geschrieben, dass wir euch hier in Berkhem bezüglich unseres Anliegens aufsuchen könnten.“
„Sofern wir hier überhaupt richtig sind“,
ergänzte Barn halblaut und warf Melinda einen fordernden Blick zu, den sie jedoch ignorierte.
Der Magier sah mit bedächtiger Miene auf und zupfte beiläufig sein viel zu weites Obergewand zurecht, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte.
„Ah, ja richtig“, ließ er nachdenklich verlauten und atmete hörbar ein. Wieder räusperte er sich. „Ein großes Missverständnis. Das tut mir natürlich leid.“ Er machte eine unpassende Sprechpause und fuhr nun mit festerer Stimmlage fort. „Ich hatte heute noch nicht mit euch gerechnet.“
Für einen kurzen Moment herrschte unangenehmes Schweigen, ehe sich Barn
wortlos umwandte und mit wütenden Schritten aus dem Zimmer rauschte.