ein Hauch Frost
Etwas, das für den Odenwald sehr typisch ist, ist, dass er sich in jeder Jahreszeit in einem neuen Gewand zeigt. Im Frühjahr trägt er sein saftiges Grün, geschmückt durch die Blüten der alten Obstplantagen, Apfel-, Kirsch- und Pflaumenblüten in Hülle und Fülle. Im Sommer sind die Nadeln des Waldes dunkelgrün und kräftig in ihrem Geruch. Im Herbst hingegen zeigt sich der Mischwald in einem schildernden Kleid aus Gold, Rubin und Bronze, aber auch der Nebel und der Frost zeichnen die
Landschaft im Herbst. Durch die Täler und die Anhöhen können ganze Flächen in einem watteweichen Schleier versinken und die Wiesen oberhalb dieser Grenze erscheinen im Mantel von Peterchen Frost.
Es war genau so ein nebelverhangener Morgen, an dem Sarah von einer Tagung mit „After Work Party“ zurückkam. Zwar war das Black and White nur eine kleine Cocktail Bar in einem verschlafenden Ort, Levis Konzept jedoch, seine Barkeeper hin und wieder an größere Events auszuleihen, verleihen der Stelle einen ganz besonderen Reiz. Wobei Sarah um halb
sechs sonntags morgens nicht wusste, ob sie gereizt sein sollte oder nur hundemüde. Die Entscheidung fiel ihr ab der Abzweigung Eberbach und der Grenze Hessen und Baden Württemberg immer schwerer. Aus diesem Grund hielt sie an einem Parkplatz auf der Kuppe von Beerfelden. Dieser war groß genug, um bequem zu parken und einige Schritte in der klirrenden Morgenluft zu gehen. Absichtlich ließ sie ihre Jacke im Auto liegen, damit der Frost jede einzelne ihrer Zellen anregen konnte.
Im Gegensatz zu den romantischen Frühlingsmorgen war es im Herbst sehr still. Vor allem hier oben, wo man um sich herum hauptsächlich Feld hatte und
die nächsten Bäume und Büsche außerhalb des Parklatzes, der Waldrand auf der anderen Seite des Tales war. Dazwischen lag nur noch Frost und Nebel. Hier quälte sich mühsam die Sonne durch die Nacht in den Morgen.
Deswegen fuhr es auch durch Sarahs Glieder, als sie einen Laut vernahm, welcher absolut untypisch war. Er nur sehr leise gewesen, mehr ein Wimmern als ein Schreien.
Sie blickte sich um, konnte jedoch kein Wild ausmachen, welches vielleicht dieses Geräusch verursacht hätte haben können. Zudem war es zu lebendig gewesen, um von ihrem Auto zu kommen.
Davon ausgehend, dass das, was immer es auch war, hier auf dem Parkplatz war, schritt die Frau an ihrem Auto vorbei. Nach nur wenigen Schritten konnte sie etwas auf der Parkbank des Rastplatzes erkennen. Das Wimmern wurde zu einem Gängeln, etwas Elendigem, welches einer Frau das Herz zuschnürte. Mit jedem weiteren Schritt erkannte Sarah genauer, was da zwischen Sitzfläche und Holztisch stand und diese Erkenntnis jagte ihr frostige Schauer durch den Körper. Schüttelfrost packte sie, als sie in den Maxicosi blickte und das nicht, weil sie nur ihre weiße Bluse trug, mit diesem einen bewusst weggelassen Knopf. In der Kindertragetasche lag im
Gegensatz zu ihren Befürchtungen kein Baby, sondern eine verdreckte Schlenkerpuppe mit schwarzen Knopfaugen und roten Wollhaaren. Das Gängeln eines Kindes hörte nicht auf. Es verstörte Sarah. Denn so nah an dem Maxicosi waren die Laute noch realistischer und standen im völligen Kontrast zu der alten, zerschlissenen Puppe mit ihren aufgenähten Augen. Diese waren makabererweise auch noch mit rotem Garn und Kreuzstich befestigt worden.
Als Sarah schluckte und und verärgert überlegte wer auf so einen geschmacklosen Streich kam (kommen könne,) überkam sie die Furcht. Das war
krank, einfach nur krank. So schnell sie konnte, drehte sie sich um und spurtete zu ihrem Wagen zurück, schmiss sich mit rasantem Herzschlag in den Ledersitz und schlug die Wagentür zu, dass die Karosserie bebte. Der Motor jaulte gequält auf und trotzdem hallte das viel zu realistische Babygeschrei in ihren Ohren wider.
Kaum verließ Sarah den Parkplatz, hatte sie schon die Nummer von zu Hause gewählt. Während es klingelte, vermischten sich das Wartesignal mit dem Weinen der Lumpenpuppe. Bei dem Gedanken an die Knopfaugen mit den roten Kreuzen, spürte sie bittere
Magensäure in ihrem Mund, ebenso wie einen plötzlichen Anflug von Übelkeit. Trotz voll aufgedrehter Heizung spürte sie immer noch die Kälte des Parkplatzes, so als würde etwas davon sie hier drin im Wagen noch verfolgen.
„Guten Morgäääähn.“
Die interne Freisprecheinrichtung versetzte Sarah einen solchen Schock, dass sie kurz das Lenkrat verriss. Zu ihrem Glück war die Strecke von Beerfelden nach Michelstadt um diese Zeit fast nie befahren.
„Hi, Luisa, tu mir einen Gefallen, erzähl mir irgendwas bis ich zu Hause bin. Mir ist eben echt was Crazyhaftes passiert und ich brauche eine
Ablenkung.“
„Wieso? Hat einer deiner Gäste wieder Oliven-Angeln aus deinem Busen gespielt oder hat ein betrunkener Bänker dir seine Zinsmesslatte ungefragt vorgestellt.“
„LIESSE!“
Der Spitzname von meiner Großmutter ließ mich von null auf hundert schießen. Ich saß senkrecht im Bett und ließ mir von meiner Mitbewohnerin haarklein berichten, was geschehen war. Noch ehe ihr Auto den Carport von unserem Haus erreicht hatte, hatte ich Melanie aus den Federn gezerrt und gemeinsam
erwarteten wir unsere sonst eher hartgesottene Barkeeperin an der Haustür. Das war auch der Hauptgrund, weswegen wir beide als erstes erkannten weshalb Sarah im Auto plötzlich das Gefühl der Übelkeit nicht mehr losgelassen hatte.
„Steig nicht aus!“, befahl Melanie aufgebracht.
„Schau nicht nach unten!“, warf ich gleich mit ein, nur leider war es schon zu spät. Sarah hatte das kaum merkliche Geräusch wahrgenommen, als sie die Fahrertür aufgemacht hatte.
Wie gebannt sahen wir alle drei auf die beiden Fingerglieder, die aus der Tür gefallen waren.
Odenwälder Heimatzeitung Okt.2016
Gefährliches Puppenspiel
In den frühen Morgenstunden am vergangenen Sonntag ging ein Notruf in der Zentrale Erbach ein. Eine junge Frau aus Michelstadt hatte auf dem Parkplatz bei Beerfelden Richtung Eberbach ein weinendes Kind gehört und dann auf der Parkbank einen Maxicosi entdeckt. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich um eine gammlige Luderpuppe handelte, welche mit einem Tonbandgerät
bestückt gewesen war. Aufgrund dieses geschmacklosen Streiches war die Frau sofort zurück in ihr Auto gestiegen und nach Hause gefahren.
Bei der Ankunft entdeckten sie und ihre Mitbewohnerinnen, dass zwei Fingerglieder aus der Wagentür gefallen waren. Nach dem ersten Schock informierten die Frauen augenblicklich die Polizeistation Erbach. Die Beamten fuhren sowohl zu der Zeugin als auch auf den Parkplatz bei Beerfelden. Dort fand man den Maxicosi samt Puppe und Aufnahmegerät. Auch eine kleine Blutspur konnte auf dem Parkplatz festgestellt werden. Die Nachforschung in den umliegenden Krankenhäusern,
Erbach und Eberbach, ergaben schnell einen Verdächtigen. Der Mann, Deutscher, Mitte dreißig, wurde noch in der Notaufnahme festgenommen.
Schon während des ersten Verhörs stellte sich heraus, dass es sich hierbei um einen wegen Sexualdelikten mehrfach vorbestraften Mann handelte. In den weiteren Verhören bekamen es die Beamten mit einer erschreckenden Aussage zu tun, welche selbst für alteingesessene Polizisten nur schwer zu verdauen war.
Der Mann, von Beruf Einzelhandelsvertreter, sei viel gereist und habe es bereits mehrfach geschafft, mit Hilfe der Puppe im Maxicosi Frauen
in seine Falle zu locken. Er habe sich dafür jedes mal einen Parkplatz ausgesucht, der zwar offen und gut einsehbar gewesen sei, jedoch zu bestimmten Zeiten wie verlassen sei. Wenn die Frauen alleine waren und sich völlig auf die Puppe und das Kindergeschrei konzentrierten, hatte er seine Chance genutzt und seine Opfer überfallen. Der Mann gestand bis zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 25 Vergewaltigungen über acht Jahre hinweg. Anhand verschiedener Aussagen und ersten Erkenntnissen müssen die Beamten aber davon ausgehen, dass sich unter den Opfern auch Tote befinden. Aufgrund der langen
Zeitspanne, in der der Täter aktiv war, und der Tatsache, dass der Mann sich im gesamten Bundesgebiet bewegt hat, ist es jedoch fraglich, ob diese je gefunden werden. Vorfälle in der Schweiz und Österreich sind können leider nicht ausgeschlossen werden.
Zum Schluss bleibt nur noch die Frage, was wohl geschehen wäre, wenn das Tonbandgerät nicht gehangen hätte und die Michelstädterin eilig davon gefahren wäre. Hätte sie nur wenige Sekunden gezögert, so wäre der Puppenspieler vom Parkplatz heute schon wieder auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer.