Kapitel 21
Das Schilf am Ufer des Flusses wiegte sich im Abendwind. Die letzten Strahlen der Sonne fielen grade über die Klippen hinein ins Tal und ließen Felsen und Wasser Rot und Orange leuchten. Schwärme von Mücken kreisten zwischen den Pflanzen und über dem Fluss, doch nur wenige verirrten sich bis zu ihnen. Die Gejarn hielten sie mit kleinen Töpfen voller langsam glimmender Kräuter fern, deren Duft ihm nun in die Nase stieg, als Mhari einen davon entzündete und vor sie
stellte. Noch immer saßen sie beide an die Hauswand gelehnt. Und noch immer zögerte er, wie er beginnen sollte. Stattdessen nahm er der Gejarn den glühenden Span aus der Hand und entzündete die Pfeife, die er bisher ratlos in den Händen gedreht hatte.
Einen Moment hatte er nur den scharfen Geruch der Kräuter in der Nase, bevor sich schließlich der Tabakqualm durchsetzen konnte und er zu sprechen begann.
,, Ich habe euch bereits gesagt wo ich geboren wurde. In der Karawane der fliegenden Stadt. Zwischen Staub, Schmutz und Tod. Unter jenen, die von dem leben, was von den Karren der
Handwerker und der Adeligen abfällt. Wortwörtlich. Die, die dem Zug zu Fuß folgen und genauso sterben, vergessen im Staub der Straße. Ich weiß, wenn ich ehrlich bin, nicht, wer mein Vater war. Und ich glaube inzwischen ist es mir egal. Vielleicht war er wirklich ein Adeliger oder von mir aus auch der Kaiser. Es spielt keine Rolle. Auch wenn ihr zugeben müsst, das Erik Ordeal verflucht lächerlich klingen dürfte… Noch ein guter Grund es nicht zu genau wissen zu wollen.“ Er lächelte. Mhari allerdings fand diese Vorstellung offensichtlich kaum lustig, denn die Gejarn sah ihn nur ausdruckslos an. Andererseits forderte sie ihn auch nicht
auf, weiter zu sprechen. Und doch tat er es schließlich. ,, An meine Mutter habe ich mehr Erinnerungen. Sie war wunderschön… und das sage ich nicht nur so, das ist das erste das alle die ich je nach ihr Fragte sagten. Aber Schönheit nützt einem am Boden der Gesellschaft wenig. Wenn, ist es gleich ein doppelter Fluch. Es gibt selbst jenen, die mit einem im Dreck kriechen noch etwas, das sie beneiden können. Und jemanden, den sie damit auch Schaden können… Sie starb bevor ich acht war. Ein Fieber aber anfangs war es keine schwere Erkrankung. Doch sie konnte sich nicht mehr selbst versorgen und… Wenn man nichts hat ist man umso mehr
auf Hilfe angewiesen. Aber es gab keine. Nur mich. Und ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte… Und so… blieb ich alleine zurück. Die nächsten acht Jahre brachte ich damit zu, irgendwie zu Überleben. Ich habe von Resten gelebt und gebettelt, ich habe gestohlen um noch einen weiteren Tag am Leben zu bleiben und Ratten gegessen wenn es nichts anderes gab , ich habe von den Toten genommen und einmal meinen Körper verkauft um für ein paar Tage etwas zu Essen zu haben. Ich habe gesehen wie Leute andere für ein Stück Brot getötet haben.
Ich habe Leute sterben sehen, die noch Jahre zu Leben hätten, aber weder Hilfe
noch Mitleid fanden wenn sie am Straßenrand zurück blieben. Geschweige denn, dass es jemanden gegeben hätte, der in der Lage dazu gewesen wäre, sie zu retten. Und ihr sagt mir, ich soll verlernen Mitleid zu haben? Nachdem ein Jahrzehnt Leben am Abgrund, In Krankheit und Armut, es nicht vermochten auszulöschen? Wer glaubt ihr zu sein, das ihr dazu in der Lage seit?“
Die Gejarn antwortete lange Zeit nicht. Erik hatte nicht gemerkt, wie seine Stimme anfing zu zittern. Vor Wut. Sie konnte es nicht wissen, sagte er sich und doch trug dies kaum dazu bei, seinen aufflammenden Zorn zu bändigen. Es war keine Entschuldigung. Nicht hierfür.
Nicht, dafür dass sie ihm ins Gesicht gesagt hatte, es wäre wohl besser gewesen, wenn dieses Leben ihn gebrochen hätte…
,, Wie habt ihr es geschafft zu entkommen ?“ Es lag keine Entschuldigung in ihrer Stimme. Nur Neugier. Und einen Moment war er versucht, nicht weiter zu erzählen. Aber jetzt war er schon so weit… und sie musste es verstehen, dachte er. Ein seltsamer Gedanke. Warum glaubte er, sich vir Mhari rechtfertigen zu müssen? Sie kannten sich erst ein paar Tage und sie hatte mehr als ein Geheimnis vor ihm, vertröstete ihn mit Antworten. Er schuldete ihr nichts. Schon gar nicht die
Wahrheit. Und doch wollte er sie jetzt aussprechen, wollte, dass sie ihn verstand… Etwas, das er selbst bei Cyrus nie verspürt hatte aber in der kurzen Zeit hatte er trotz aller Wiedersprüche einen gesunden Respekt vor der Gejarn entwickelt. Mhari trug ihr ganz eigenes Päckchen und wenn Erik von dem Ausging, was er gesehen hatte, wog es bei weitem schwerer.
,, Das hängt wohl damit zusammen, wieso ich nach Vara gegangen bin. Erinnert ihr euch dass ich gesagt habe, dass es genau drei Möglichkeiten gibt, aus diesem ganzen Irrsinn zu entkommen? Ich… hatte das Glück oder das Pech von einem Diener eines der
kleineren Adeligen angesprochen zu
werden, die der fliegenden Stadt folgen. Das ist nicht zu ungewöhnlich, die meisten der reisenden Herrn suchen sich oft angestellte auf Zeit, die ihre Wäsche waschen oder kleinere Botengänge verrichten oder ihre Kutschen in Ordnung halten. Manche davon sind so groß, dass sie die ganze Straße einnehmen und über mehrere Räume verfügen. Und manchmal suchen sie jemanden, der einfach nur verzweifelt und bedeutungslos genug ist um die wirkliche Drecksarbeit für sie zu übernehmen. Ich habe bis heute keine Ahnung warum die Wahl auf mich viel. Vielleicht war ich einfach nur der erste,
der ihm Vertrauenserweckend genug aussah.“ Erik machte eine Pause. Bis hierhin war ihm das erzählen leicht gefallen. Es waren seine geringsten Sünden gewesen. Und schlicht nötig um zu Überleben. Es war nichts falsch daran am Leben bleiben zu wollen… doch das was man dann von ihm gefordert hatte, ging darüber hinaus…
,, Was habt ihr getan ?“ Mhari schien zu spüren, was in ihm vorging. Mittlerweile stiegen nur noch vereinzelte Rauchschwaden aus dem Kräutertopf vor ihnen auf und stiegen auf zum langsam dunkler werdenden Himmel. Eine Dunkelblaue Kuppel, die sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken schien und
nur dort, wo die Sonne grade hinter den Klippen verschwunden war, von einer goldenen Fassung begrenzt wurde.
,, Geschauspielert und getötet. Ein gewisser Lord Immerson, ein großes Fürstenhaus aus den nördlichen Provinzen um Silberstedt, hoffte wohl, das Erbe eines kleineren Onkels an sich reißen zu können. Silberstedt hat die größten Minen für Edelmetall im gesamten Kaiserreich. Leider hatte der letzte Fürst Immerson verfügt, dass seinem Erben das Land, seinem Bruder jedoch ein Anteil an den Minen zufallen würde. Der Sohn hat das offenbar nicht gut aufgenommen und seinen Onkel tatsächlich der Stadt verwiesen, so dass
er schließlich in der Karawane der fliegenden Stadt endete. Aber noch hatte er die Minenanteile und konnte sich so ein ziemlich komfortables Leben leisten, auch wenn er sicher nicht dumm genug war, sich in das Herrenhaus der Immersons in der Stadt selbst zu wagen. Das hieß, bis er erkrankte… und plötzlich war sein Neffe natürlich wieder an seiner Seite, in der Hoffnung, dass der alte Mann sterben mochte. Das Geschah nicht und die Heiler, die ihn versorgte, versicherten sogar, dass er in den nächsten Wochen wieder auf die Beine kommen sollte. Und da komme ich ins Spiel. Natürlich konnte der junge Immerson keinen Arzt bestechen um
seinen Onkel zu beseitigen. Nicht nur, das die meisten aus Ehrgefühl kaum darauf eingegangen wären, aber sie hätten auch riskiert, ihre Stellung und ihren Ruf zu schädigen, sollte jemals etwas darüber herauskommen. Ich… kannte diese Sorgen nicht. Da noch nicht zumindest.“
,, Er wollte, das ihr euch als Heiler ausgebt…“
Erik nickte. Eine Ironie wenn man genauer darüber nachdachte. ,, Und das habe ich getan. Das war an einem Punkt in meinem Leben an dem ich auch zugesagt hätte, wenn der Lohn aus einem Stück trockenem Brot bestanden hätte. Aber… der Fürst bot mir viel mehr. Ein
Beutel Silbermünzen. Ein winziger Preis für ein Menschenleben und für jemanden wie ihn vermutlich nicht einmal einen Gedanken Wert… Aber genug für jemanden wie mich um die Chance zu haben, sich irgendwo ein Leben aufzubauen. ich habe zugesagt. Und so brachte mich der Bote schließlich zum Wagen seines Herrn, oder besser, dem des erkrankten Onkels. Man spülte den Staub der Straße von mir ab, schnitt mir die Haare, gab mir ein wenig zu essen , verpasste mir ein paar annehmbare Gewänder und eine Stunde lang redete irgendein gelehrter auf mich ein, damit ich den übrigen Heilern zumindest Rede und Antwort stehen
konnte, sollten sie mich etwas Fragen. Aber wo ich die vorherige Prozedur wortlos hatte über mich ergehen lassen… fesselten mich die Worte des Alten. Ich hörte tatsächlich zu. Zum ersten Mal in meinem Leben beschäftigte mich etwas anderes, als der Gedanke, wie ich den nächsten Tag überleben würde. Und ich begann Fragen zu stellen. Der alte Mann war darüber wohl genau so überrascht wie ich, den er beantwortete sie tatsächlich... die Stunde war viel zu schnell um. Ich wünschte immer noch, ich hätte ihn damals nach seinem Namen geragt…
Danach brachte man mich in die Kammer, wo der ältere Fürst Immerson
im Fieber schlief. Die Angst, dass man mir Fragen stellen könnte, war ungerechtfertigt. Die richtigen Heiler hatten sich anscheinend alle zurückgezogen… und ich wusste, was ich zu tun hatte. Es musste nach einem dummen Unfall aussehen, der Fehler eines unerfahrenen Arztes. Man hatte mir ein scharfes Messer und eine Blutwanne mitgegeben und auch wenn der Alte einmal kurz aufwachte, ließ er mich doch einfach gewähren, als er Roben und Instrumente eines Heilers erblickte. Oder vielleicht erkannte er im Fieber nicht einmal, was vor sich ging. Und doch zögerte ich. Ich konnte seinen Puls spüren, als ich seinen Arm anhob, das
Blut das unter der Haut pulsierte, Muskeln und Sehnen… Vielleicht wollte ich das Ganze auch nur hinauszögern, aber ich dachte über die Worte meines… Lehrers nach. Es war auf eine Art faszinierend, das etwas, das angeblich auch heilen konnte, auch so einfach den Tod bedeuten sollte. Ich habe seine Pulsadern geöffnet, als ob man ihn zu Ader lassen wollte, eine Auffangwanne unter seinem Arm platziert… und ging. Ohne mich noch einmal umzudrehen.“
Als er schließlich geendet hatte, saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Mhari sah ihn nur wieder mit dieser nichtssagenden Mine an, die es unmöglich machte, zu erraten, was sie
wohl dachte. Und er selber fand sich unfähig, weiter zu sprechen. Das war der dunkelste Punkt seines Lebens gewesen. Und im Hinblick auf den Entschluss, den er später fasst und auf seine Arbeit… der verwerflichste.
,, Was erwartet ihr von mir ? Das ich euch sage, das ihr richtig gehandelt habt?“
Erik schüttelte den Kopf. Nein… Er hatte keinerlei Erwartungen gehabt, als er schließlich zu erzählen begann. Und auch jetzt nicht. ,, Nein… Aber es waren die Tage die darauf folgten, in denen ich anfing zu verstehen. Was ich tun… und was ich eigentlich sein wollte. Und Immerson hielt Wort… ich erhielt
meinen Lohn. Und kehrte ich der fliegenden Stadt schließlich im Alter von siebzehn Jahren den Rücken. Ich habe… lange nicht mehr darüber nachgedacht um ehrlich zu sein. Mein altes Leben starb an diesem Tag genauso wie der alte Immerson.“
,, Von uns allen werden von Zeit zu Zeit Opfer gefordert. Es wird leichter, wenn man lernt, das zu akzeptieren.“
,, Opfer , Mhari ?“ Erik schüttelte den Kopf. ,, Ich habe kein Opfer gebracht… man könnte vielleicht eher sagen, dass mein Leben dort erst begann. Ich wurde wiedergeboren. Beinahe möchte man meinen, sagen, dass ihr die Dinge immer nur von ihrer negativen Seite betrachten
wollt… Aber das ist, was ihr nicht versteht. Ich kann diesen Moment nicht ungeschehen machen und ich würde es nicht. Egal für wie furchtbar ich ihn halte oder wie unbedeutend er anderen erscheinen mag. Er hat mich zu dem gemacht der ich bin und ich mag mich eigentlich so.“
Und Mhari lachte tatsächlich kurz auf. Erneut klang es ehrlich, freundlich sogar. Und doch hatte er das Gefühl, das sie ihn auf gewisse Art belächelte, als hätte sie irgendwie schon gewusst, worauf seine Geschichte hinaus lief. Dann jedoch wurde sie wieder ernst.
,, Danke.“ Es war nur ein Wort, ein Flüstern, nicht mehr. Und doch verwirrte
es Erik mehr wie alles andere an ihr.
,, Wofür ?“ , fragte er.
,, Das ihr mir davon erzählt habt. Mir ist klar dass euch das nicht leicht fällt. Und doch habt ihr es getan.“ Sie zögerte. ,, Ich glaube man kann euch vertrauen.“
,, Ihr habt mir bisher nicht vertraut ?“ , fragte er neckisch . ,, Ich fühle mich wirklich verletzt.“
Die Gejarn antwortete ihr nicht, aber ihr Gesichtsausdruck reichte ihm auch. Das wissen wir beide besser, schien er zu sagen. Mhari traute niemanden voll und ganz. Aber ganz offenbar wollte sie es bei Erik zumindest versuchen. Blieb nur die Frage ob er das bei ihr auch tun konnte. Sie war eine faszinierende Frau,
dache er. Aber gefährlich. Nicht nur wegen der Leute mit denen sie sich umgab und die sie jagten sondern auch selbst. Vertrauen oder nicht, sollte sie zu dem Schluss kommen, das er eine Bedrohung für sie war, wusste er welches Schicksal ihn erwarten würde. Und doch hatte er auch andere Seiten an ihr gesehen…
,, Ihr werdet mir aber nicht die Kehle im Schlaf durchschneiden nur weil ihr euch das plötzlich anders überlegt ?“
Mhari grinste. ,, Wer von uns beiden ist hier jetzt grade negativ ?“