Das Papier in meinen Händen wog schwer. Damit war nicht gemeint, dass der Inhalt des Textes schwer auf meine Schultern drückte, dies tat ausschließlich die Neugier meiner beiden Mitbewohnerinnen. Der Umschlag war aus schwerem Büttenpapier und verkündete in goldenen Lettern die bevorstehende Hochzeit und den Polterabend eines alten Bekannten aus meiner Lehrzeit in Anstadt. Für meine sichere Ankunft war gesorgt, mittels eines Zugtickets. Somit
war auch klar, dass eine Absage nur ungern akzeptiert werden würde, typisch für Andreas Hartnäckigkeit. „Wenn wir drei zum Polterabend eingeladen sind, weswegen schickt dieser Andreas nur eine Karte dir zu?“, fragte Melanie mich, welche auch den Grund nicht verstand, wieso Sarah und sie mit eigeladen waren. „Na, weil eine von euch als meine Begleitperson mitfahren darf“, antwortete ich sachgemäß. „Wieso deine Begleitperson?“ Jetzt verstand Melanie gar nichts mehr. Während sie auf unser Kuschelsofa glitt, nahm sie mir die Einladung aus der Hand, als könne dies den
Wahrheitsgehalt des Textes besser prüfen. Erst in diesem Augenblick bemerkte ich den Schweregrad meiner vorangegangenen Aussage. Für gewöhnlich vermied ich es, den Umstand meines Behindertenausweises anzusprechen, ebenso auch die damit verbundenen Begünstigungen. In einem überschaubaren Umfeld wie Michelstadt /Erbach kannten die Bus- und Bahnfahrer einen recht schnell und ich musste diesen Ausweis nur sehr selten vorzeigen. So war es wahrscheinlich auch gekommen, dass Melanie nie mitbekommen hatte, dass ich einen
besaß. „Nimmst du mich jetzt auf den Arm, Luisa?“ Traurig, aber wahr, ich musste meinen Kopf schütteln. Die Reaktion meines herzallerliebsten Muttertieres war somit vollkommen verständlich und in ihrer Ausuferung angebracht: „Wie was, doch nicht dein Ex oder deine Mutter...was hast du?“ „Hey, Melanie, lass sie in Ruhe. Du reißt nur Wunden auf!“ Eine gut gemeinte Verteidigung von Sarah, welche mich bereits aus der Zeit der Berufsfachschule in Michelstadt kannte. So kam es, dass ich mich zwischen meinen beiden
Mitbewohnerinnen auf dem Sofa positionieren musste, damit sich aufkommenden Unannehmlichkeiten im Rahmen halten lassen konnten. „Schon gut. Sie kann es ruhig wissen. Unter einer Bedingung: Du fängst nicht an zu heulen! Wenn du heulst, höre ich auf zu erzählen.“ Augenblicklich zeigte Melanie das Indianerehrenwort und Sarah schoss sie mit einem Sofakissen ab, denn die Mutti hatte hinterm Rücken die Finger gekreuzt. Zum Glück der Brecherin hielt ich meine Hand dazwischen und die Flugbahn veränderte sich zum Unglück für die Yukkapalme. Während ich nun meine Erzählung
starten konnte, musste Sarah die Topfpflanze verarzten sowie den Boden fegen. „Ich leide an assoziationsbedingten Panikattacken“, versuchte ich es so banal wie möglich klingen zu lassen, selbst wenn es das nicht im Geringsten war. Zwei Herzschläge später war ein psychedelischer Schlaganfall meines Muttertieres ausgeschlossen, womit eine genauere Ausführung möglich wurde. „Sobald ich auf der linken Seite eines Fahrzeuges sitze, geht es los. Dabei spielt es keine Rolle um welches mehrspurige Fahrzeug es sich handelt. Ich gehe auch davon aus, dass es bei Motorrädern und der gleichen so sein
wird. Die Psychologen und auch ich nehmen an, das Motorengeräusch und das Lenken mit zu den Haupttriggern gehören und eine Panik bei mir auslösen.“ Für einen winzigen Moment zucken Melanie und ich zusammen. Laut dröhnte der Staubsauger durch unser Wohnzimmer, denn Sarah hatte eine andere Möglichkeit gefunden unsere Mitbewohnerin davon abzuhalten, mir mehr Fragen als unbedingt möglich zu stellen. Über das Verhalten von Muttertier und Papabär rollte ich entnervt die Augen. „Wie du weißt, bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen und seitdem
ich 18 bin, war ich mit meinem Großvater alleine.“ Das Gurgeln des Haushaltsgerätes erstarb, weil Sarah ein Stück vom Schlaufenschal an der Balkontür erwischt hatte. Diese Chance nutze wiederum Melanie, um demonstrativ ihr Wissen über mich preiszugeben: „Ja, deine Oma starb an einer Lungenembolie.“ „Richtig, was ich dir bis dahin nicht erzählt habe, ist, dass die Embolie aufgrund schwerer Verletzungen nach einem Autounfall erfolgte.“ Interessanterweise schienen meine sonst so harmonischen Freundinnen einen mehr oder weniger stillen Kleinkrieg
auszufechten, wer von beiden mehr über mich wusste. Kam es mir nur so vor oder war Melanie wirklich über Sarahs Mehrwissen angefressen? „Ich hatte gerade einmal seit ein oder zwei Wochen meinen Führerschein. Oma und ich waren den Tag unterwegs gewesen und gegen Abend hatte es begonnen zu regnen, nicht viel, jedoch reichte es aus, um aus der staubigen Fahrbahn Schmierseife zu machen. Der Odenwald ist für seine Kurven bekannt und deswegen bei Motorradfahrern beliebt. Ein Motorradfahrer überholte uns an einer unübersichtlichen Stelle. Er verschätze sich in der Kurve und stürzte, ausweichen war nicht mehr
möglich gewesen. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich im Wrack hing. Meine Oma neben mir. Ich wusste nicht, was mit ihr war, konnte nicht sehen, ob sie noch atmete oder …“ Zu meinem Glück bestand die Anästhesiekrankenschwester auf keine weiteren Ausführungen. Ihr täglich Brot war es, oftmals solche rollenden Organspender zusammenzuflicken. Es waren nur wenige Sekunden, in denen ich meine Augen schließen musste, weil Bilder der Vergangenheit mein inneres Auge quälten. Nach dem Zusammenprall war das Nächste, an das ich mich erinnern
konnte, wie still es um uns herum war. Außer dem Rauschen der Bäume und dem gleichmäßigen Fallen des Regens nahm ich nichts war. Meine Sinne waren trotz der verehrenden Lage erstaunlich geschärft. Den Geruch des zertrümmerten Autos, der aufgewühlten Erde, des nassen Waldbodens. Der verletzten Bäume und dem Geruch von Blut werde ich niemals vergessen. Die Eindrücke wurden schnell zu viel für mich und das Einzige, was ich jetzt noch tun konnte, war schreien und hoffen, dass mich irgendjemand hören würde. Dies alles verschwieg ich Melanie, denn ich selbst begann in diesem Augenblick mit der Erzählung und der Vergangenheit
zu kämpfen. Dies war mein Krieg gegen mich selbst. „Gegen zwei Uhr nachts fanden Vorbeifahrende unserer Wrack am Abhang liegend. Der Motorradfahrer hatte keine Chance gehabt. Oma hatte viel Blut verloren und einige Knochenbrüche und Schnitte davongetragen. Ich hatte ein Schädelhirntraum, verschiedene Schnitte und Rippenbrüche. Recht schnell stellte sich bei mir heraus, dass ich mich in kein Auto mehr setzen konnte, ohne Angstzustände zu bekommen. Ich ging in Behandlung und bekam Medikamente und so nach und nach konnte ich mich
wieder daran gewöhnen, zumindest Beifahrerin zu sein.“ Unser aller Wohl war es, dass Sarah die Männerrolle in unserer WG ausfüllen konnte. Ihre Fähigkeit mit einem Schlagbohrer umzugehen, Autoreifen zu wechseln und Spülen zu reparieren stand unglücklicherweise im Gegensatz zu der Fähigkeit Haushaltsgeräte zu benutzen und dem Putzen, ohne die Wohnung in Schutt und Asche zu zerlegen. Mit einem Hausschuh war sie im Kabel des Staubsaugers hängengeblieben, gestolpert und hatte beim Suchen nach Halt den eben noch befreiten Schlaufenschal mitsamt der Gardinenstange von der Wand
gerissen. Vorwurfsvoll starrte das Muttertier sie an und ich konnte davon ausgehen, dass sie glaubte, Sarah hätte diese Aktion auch zu meinem Schutz gestartet. „Aber wenn du in guter Behandlung warst, dann benötigst du doch noch lange keinen Behindertenausweis.“ Wir standen auf, um unsere Mitbewohnerin aus ihrem Chiffong-Gefängnis zu befreien. „Nein, du hast recht. Es war eine Angststörung, jedoch nicht so schlimm, dass man mir die Fahrerlaubnis entziehen musste.“ Damit das Wohnzimmer heile blieb und Sarah eine sinnvolle Beschäftigung
bekam, scheuchte sie Melanie in die Küche, um Kaffee und Tee zu kochen. Wasserkocher und Kaffeevollautomat waren die einzigen Haushaltsgeräte, welche keine häusliche Explosion auslösen würden. Während das Muttertier Dringlichkeit des fälliggewordenen Besuches beim schwedischen Möbelhaus einschätze, konnte ich in Ruhe weitererzählen. „Vielleicht ein knappes Jahr nach dem Tod meiner Großmutter bin ich das erste Mal wieder mit Freunden aus der Berufsfachschule ausgegangen. Wir hatten ja auch etwas zu feiern, denn die ersten Prüfungen hatten wir bestanden. Es hat geschmeckt und ich bin am Tisch
eingeschlafen. Das brachte einige Jungs auf die Idee, mir einen Schrecken einzujagen. Zwar war bekannt, dass ich mich hinterm Steuer unwohl fühlte, dank des Alkohols jedoch waren die Taten schneller als die Synapsen.“ Damit ich für den folgenden Albtraum etwas Luft holen konnte, wickelte ich das Kabel vom Staubsauger auf und brachte das Gerät an seinen Aufbewahrungsort zurück. Einem Schatten gleich folgte mir Mama Melanie. „Sie trugen mich zum Auto und setzten mich auf und setzten mich bei laufendem Motor auf die Fahrerseite.“ Mein langes Schweigen, zurück auf dem
Sofa angekommen, beschrieben die nächsten Minuten besser als ein gesamtes Wörterbuch. Jegliche Farbe wich aus Melanies Gesicht. Sie wagte es nicht nachzufragen. Ihre Blässe war ohnehin Frage genug. „Der harmlose Streich war schnell vorbei. Ich kann mich an nichts erinnern. Meine Reaktion war extrem. Sie endete in einer katatonischen Starre und mehr als drei Wochen Aufenthalt in einer Nervenklinik. Mit meinem Einverständnis wurde schlussendlich beschlossen, dass ich meinen Führerschein abgebe und ich nie wieder ein Fahrzeug führen kann und deswegen habe ich den Behindertenausweis
erhalten.“ Verführerisch drang der ungleiche Duft von feinem Tee und wildem Koffein ins Wohnzimmer. Mit Keksen bewaffnet sowie Milch und Honig unterbrach Sarah den Gedankengang unserer Freundin. Dabei wirkte sie eher ernst als angriffslustig wie zuvor. „Bevor du dich noch mehr aufregst, mein geliebtes Muttertier, die Typen haben ihre gerechte Strafe erhalten. Schmerzensgeld und zwei bis zwei Jahre auf Bewährung. Alle drei haben die Schule in Anstadt verlassen oder sogar verlassen müssen.“ Völlig im Beschützermodus ließ Melanie diese Antwort natürlich nicht gelten.
„Schmerzensgeld und Bewährungsstrafe, für das, was sie Luisa aus Dummheit angetan haben? Sie wird ein Leben lang für deren Blödheit bestraft und die kommen mit so einer Lachnummer davon.“ Feiner Ingwer und Salbeitee vermischt mit Honig entspannten meine Sinne. Somit war es mir möglich einen Teil meines kühlen Verstandes für ein gutes Gegenargument aufzubringen. „Aber was erwartest du vom Gericht? Wie soll man solche Dummheit bestrafen? Es ist passiert und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ich habe mein Leben neu organisiert und
komme auch, dank Freunden wie dir, gut damit zurecht. Du fährst doch auch mehr Fahrrad als Auto.“ Nun setzte Melanie genau das Gesicht auf, welches ich fürchten musste, wenn sie ein neues Buch entdeckte, welches sich mit kriminalistischen Ansätzen zum Entfernen von dreibeinigen Homusapiens Idiotika befasste. Glücklicherweise kam mir Papabär zu Hilfe und hielt Melanie einen Keks unter die Nase. „Hör schon auf, Melanie. Versteh doch, von einem Gericht kannst du maximal ein Urteil erwarten, aber keine Gerechtigkeit.“ „Was wirklich gerecht ist und was nicht,
das sieht jeder Mensch anders. In meinen Augen waren das Urteil und die daraus folgenden Geschehnisse dem Moment angemessen.“ Melanie gab klein bei und das war auch gut so. Das Bedürfnis sowohl ihr als aus Sarah das gesamte Ausmaß meiner letzten Bemerkung zu erläutern, hielt sich wirklich in Grenzen. Vor allem, weil ich mich sehr über die Einladung von Andreas freute. Es war sein Auto gewesen, in das ich gesetzt worden war und Andreas war derjenige, welcher meinen Großvater auf Knien angefleht hatte, sich um mich zu kümmern. Er verließ aus freien Stücken die Goldschmiede Schule und kümmerte sich
mit einer mobilen Sozialstation um die Menschen, welche kein Auto mehr fahren konnten.