Kapitel 5
Er wischte sich in der Sekunde die schwere Kapuze von den blonden Haaren, als die schwere Holztür hinter ihm zufiel. Den Stab des Magiers lehnte er hastig gegen die Wand, um ihn keinen Augenblick länger in den Händen halten zu müssen. Obwohl eigentlich mit dem Tod des Zauberers die Magie aus dem Holz gewichen sein sollte, traute er dem Ding nicht vollkommen. Darüber, wie sich die Stäbe von Zauberern in den Händen von Dämonen verhielten, gab es bisher kein Wissen. Und er wollte ganz sicher nicht der Erste sein, der irgendeine böse Überraschung aufdeckte.
Für einen Moment stand er nur da und sah sich mit ausdrucksloser Miene in dem beinahe erdrückend überfüllten Raum um.
Es gab ein einziges Fenster zu seiner Linken. Jedenfalls nur eines, durch das man hindurchsehen konnte. Vor den restlichen türmten sich Berge von Büchern auf den Fensterbänken, sodass man das trübe Glas dahinter meist nur noch erahnen konnte. Holzregale in den verschiedensten Größen standen an jeder Wand und sparten lediglich die Fenster und die Türen, sowie einen kleinen, rußgeschwärzten Kamin aus. Alle Regale waren derart überfüllt mit
Büchern, einzelnen Pergamentbögen, Flaschen, Geschirr und sogar gefalteten Kleidungsstücken, dass sich die Bretter bereits durchbogen.
Von dem, was er über Magier wusste, überraschte ihn der ungemein bescheidene Lebensstil dieses Salivans enorm. Die meisten Vertreter dieser hochgeschätzten Gilde hüllten sich in schimmernde Seidengewänder und ließen sich buchstäblich von einem Fanfarenzug begleiten, wenn sie einmal die dicken Mauern ihrer prächtigen Klöster und Residenzen verließen. Sie waren schließlich eines der wenigen andersartigen Geschlechter, die den Menschen ans Herz gewachsen waren und
die aufgrund ihrer Verdienste im Kampf gegen die magischen Völker eine Sonderstellung in der Gesellschaft genossen. Und auf die bildeten sie sich viel ein.
Aufmerksam sah er sich um, während er zu einem schweren, bunt bestickten Vorhang schritt und ihn neugierig beiseite schob, um den Kopf hindurchzustecken. Dahinter bot sich ihm nur der Anblick eines schlichten, kniehohen Schlaflagers aus Stroh und und Leinen.
Gehässig grinste der Dämon beim Anblick dieser ärmlichen Zustände. Beinahe hätte er gesagt, dass es den alten Magier wieder sympathisch machte,
aber eben nur beinahe.
Mit einem Schmunzeln trat er durch den Vorhang und hob den Blick zu einer Reihe Pergamentbögen, die über dem provisorischen Bett an die Wand genagelt waren. Allzu nah musste er nicht herangehen, um zu erkennen, dass es sich um Auszeichnungen, Urkunden und ähnlich formelle Anschreiben handelte.
Scheinbar war auch ein Salivan stolz auf seine Verdienste.
Der Dämon schälte sich aus dem kratzigen Umhang des Magiers und legte ihn auf die Schlafstätte vor sich, während er sich darüber hinweg beugte und die aufgehängten Schriftstücke
überflog.
Das älteste Schreiben, vergilbt und mit zahlreichen Knicken, war laut der Datierung vierundfünfzig Jahre alt und kennzeichnete Karym Salivan als Lehrer der Zauberkunst im Marigold Kloster in Fronwain; der Hauptstadt von Helvios. Darunter ein etwas jüngeres, komplett in saphirblauer Tinte geschriebens, ovales Stück Pergament mit der Überschrift: Zur Ehrung von Großmayster K. Salivan.
Er legte den Kopf schief.
Der Titel Großmeister war also wirklich kein Bluff gewesen, um ihn einzuschüchtern und ihn auf seinen lächerlichen Handel eingehen zu lassen. Das war offiziell. Warum der Gilderat
der Magier zuließ, dass einer ihrer Großmeister so ärmlich vor sich hin vegetierte? Waren die nicht hoch angesehen in der Gilde und mussten ständig Reden halten und Bücher schreiben?
Nach kurzem Grübeln, schüttelte er jedoch den Kopf und ließ sich geräuschvoll ausatmend auf das Schlaflager fallen, die Füße über den Rand der Strohmatte hinweg in der Luft baumelnd. Umständlich befreite er seinen linken Fuß von einem der unbequemen Schuhe und hebelte dann mit der Zehe auch den rechten Fuß frei.
Schluss mit dem ganzen sinnlosen Hinterfragen. Die Dinge hatten selten
eine so gute Wendung für ihn genommen, wie in dieser Nacht und er sollte das Unglück auf keinen Fall heraufbeschwören, in dem er so fieberhaft nach dem Haken suchte. Der Großmeister war tot und es hatte nicht einmal einen besonders auffälligen Kampf gegeben. Keine großen Spuren, die er verwischen musste, keine Zeugen, die er verstummen lassen musste und scheinbar nicht einmal Angehörige. Die Ordnungshüter würden durch seinen Klamottentausch mit dem toten Magier für eine Weile vor einem kleinen Rätsel stehen, während er die Zeit nutzte, um sich durch die Besitztümer des Zauberers zu wühlen. So viel Wissen, das
er dem Bund der Magier nun in aller Ruhe stehlen konnte.
Mit einem schiefen Grinsen holte der Dämon den Ring aus der Brusttasche des weiten, dunkelblauen Hemdes und wendete ihn ein paar Mal zwischen den schlanken Fingern. Es war das erste Mal, dass er einen Ascalon Stein aus dieser Nähe betrachten konnte. Für Gewöhnlich kamen Geschöpfe von seinem Schlag nicht in den Genuss, ein magisches Artefakt auch nur zu berühren, geschweigedenn selbst zu besitzen. Die meisten nutzten ihm auch eigentlich nichts, wenn er ehrlich war. Selbst der Ascalon Stein erfüllte nur in den Händen eines Sterblichen seinen
Zweck. Er brauchte ihn jedenfalls nicht, um frühzeitig vor der Anwesenheit eines magischen Wesens gewarnt zu werden.
Erneut schmunzelte er und steckte sich den Ring an den Mittelfinger.
Zufrieden verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und berührte dabei mit der Hand etwas Hartes. Sogleich richtete er sich auf und wandte sich um, damit er danach tasten konnte. Unter dem rauen Kissen zog er ein ungemein dickes Buch hervor und legte es neugierig auf seinen Schoß. Es hatte ein deutlich größeres Format, als andere Bücher, war unordentlich gebunden und überall lugten Ecken von einzeln hineingelegten Blättern hervor.
Als er es aufschlug, rutschte ein ganzes Bündel Briefe daraus hervor und verbreitete sich unter ihm auf dem schmutzigen Fußboden. Ziellos griff er danach und hob den erstbesten auf, der ihm unter die Finger kam.
Bereits den ersten Worten nach zu urteilen, war es ein alter Liebesbrief, vergilbt und an den Faltstellen bereits eingerissen. „Geliebter Karym“,
Der Dämon lachte kurz triumphierend auf und strich den zerknitterten Zettel glatt, damit er die verschnörkelten Buchstaben besser lesen konnte.
„Es schmerzt, dich vermissen zu müssen, aber es ist der einzige Weg“, las
er leise vor und räusperte sich. „Heute kam ich nicht weit, denn es regnete viel und ... bla, bla“. Der Dämon übersprang hastig ein paar uninteressante Zeilen über eine langweilige Reise und las den Rest leise vor sich hin. Ein grandioser Fund. Er konnte sich an dem lächerlichen Schwermut der Menschen nicht sattsehen. Sie schrieben Lieder und Balladen über vergebliches Werben und spielten Theaterstücke über tragische Liebesgeschichten, um zum Spaß Tränen zu vergießen. Menschen waren über alle Maßen selbstzerstörerische Geschöpfe, wenn es um das jeweils andere Geschlecht ging. Selbst ein großer Magier war davor
scheinbar nicht gefeit.
Weiterhin kichernd überlas er die kitschigen Zeilen gegen Ende, bis sich seine Miene jäh veränderte, als er zu den letzten Worten kam. Stutzig hob er die Brauen und wendete das Blatt einmal, um nachzuprüfen, an wen das Schreiben noch gleich adressiert war. Doch er hatte sich nicht geirrt. Der Brief galt Salivan. Und er war unterzeichnet von einem anderen Mann.