Unter der Weide
Wie so oft, saß die kleine Nixe unter jener Weide, deren Zweige bis auf den feuchten Uferboden des kleinen Sees reichten.
Es war November geworden und noch trug die Weide ein Kleid aus grünen schmalen Blättern. Der Baum schien dem nahenden Winter trotzen zu wollen.
Auch die Weide war klein, fast zierlich. Wie Felicitas. Das Felicitas jedoch unter einer Weide saß, hatte sie lange nicht gewusst. Nicht einmal, dass sie eine Nixe ist. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren. Wusste nicht woher und wie sie hierher kam.
Ihr Köpfchen, umrahmt von glänzenden, schwarzen, langen Haaren, die in der Sonne
des schönen Novembertages grünlich schimmerten, gab einfach keine Erinnerungen her.
Lediglich ihr Name, nein, sie nahm an es wäre ihr Name, war ihr bekannt.
Um ihr schmales Handgelenk trug sie ein silbernes Armband, deren Kettenglieder in der Mitte, gehalten von zwei zierlichen Perlen aus Muschelkalk, den Namen Felicitas, umrahmten.
An nebelfreien Tagen streichelte die Sonne die blattlosen Bäume und umschmeichelte die schlanken Birken,die, noch immer voller Stolz, an ihrem Blattgold festhielten. Weithin strahlte ihr Licht in die Landschaft. Felicitas saß dann gern an jenem Platz auf dem sie vor einigen
Wochen, neben dem kleinen Pfuhl, im saftig grünen Gras, in Ufernähe, erwacht war.
Die Spätsommersonne hatte ihr die Haut gewärmt und kitzelte vorwitzig an ihrer Stupsnase.
Auf dem See schwammen Enten. Die Eltern brachten ihren Jungen das Schwimmen und Nahrung suchen bei.
Im Schilf stand, still und starr, ein Kranich.
Majestätisch überblickte er das Umland, bevor er sich in das Blau des Himmels, welches sich auf der dunklen Wasseroberfläche spiegelte, erhob. Der Wind spielte mit den Halmen des Schilfes und Vögel zwitscherten in den nahen Bäumen fröhliche Lieder.
Friedlich floss die Zeit in den älter werdenden Tag. Die Sonne zog am Himmel ihre üblichen
Bahnen und wärmte nicht nur Felicitas Haut.
Große Blumen leuchteten im satten Grün der Uferwiesen. Zarte Blüten zitterten sanft bei jedem Windhauch. Ihre schwarzen Stempel bildeten einen starken Kontrast zu den roten Blättern.
Im flirrenden Sonnenlicht flogen Libellen über den See. Irisierend leuchteten ihre Flügel und hin und wieder umsurrten sie Felicitas.
Es war keine Umgebung, die Felicitas eine Erinnerung entlockte, noch kam ihr irgendetwas bekannt vor. Sie tat es dem Kranich gleich und blickte sich um. Ihr Blick glitt über das Schilf, hielt sich an den
wunderschönen Blumen eine Weile lang fest und zog dann weiter hinüber zu der Statue, die verwittert und ein wenig arg zugewachsen mitten im Schilf stand. Auf den ersten Blick sah der fast etwas grobe Stein aus, wie ein sich umarmendes Liebespaar. Der Anblick berührte Felicitas auf eigentümliche Weise.
Mittlerweile hatten die Sonnenstrahlen ihre Haut so stark erwärmt, dass sie brannte und Felicitas begann sich nach dem Nass des kleinen Sees zu sehnen. Zaghaft stand sie auf, sie wollte den Enten keinen Schrecken einjagen, doch diese ließen sich von dem Eindringling gar nicht stören.
Jeden Schritt setzte die kleine Nixe vorsichtig.
Langsam bewegte sie sich auf den See zu und trat bis an die Grenze, wo das Wasser die Uferzone sanft umspülte.
Kaum hatte sie jedoch das Wasser erreicht, trat sie zügig Schritt für Schritt in das kühlende Nass, glitt hinein und schwamm einige Züge bis sie bemerkte das die Enten sie aufmerksam umringten.
Aber nicht nur das. Sie verstand ihr Schnattern, nahm wahr, was die Alten ihren Jungen zuriefen. „Ihr müsst nicht ängstlich sein.“
Verwundert schaute sie sich um. Als sie an Land saß, hatten die Enten auch geschnattert und sie hatte es auch nur als Schnattern wahrgenommen. Nun im Wasser konnte sie die Tiere verstehen. Auch das Zwitschern der
Vögel war nun nicht mehr nur Zwitschern. Doch bei all den verschiedenen Vögeln, war es ein Stimmgewirr dem Felicitas gar nicht folgen konnte.
Müde und erschöpft vor Aufregung begab sich Felicitas wieder unter ihren Baum. Hier fühlte sie sich geborgen und aufgehoben. Der Wind spielte mit den Zweigen und bald schon schlief das Mädchen ein.
In den kommenden Wochen schloss Felicitas mit den Tieren Freundschaft. Täglich plauderte sie mit den Enten. Lies sich von den Vögeln die in den nahen Bäume täglich wunderschöne Arien zwitscherten, Geschichten aus fernen Ländern erzählen und
ruhte mit dem alten Kranich schweigend im Schilf.
Selten öffnete er seinen Schnabel um einen Laut von sich zu geben.
So langsam kehrten die Raben und Krähen von ihren Ausflügen zu den nahen Feldern zurück an den See. Hier fanden sie genug Nahrung, denn manche Menschen waren der Natur gegenüber achtlos. Längst schon hatten sich die Zugvögel gesammelt und waren auf dem Weg in den Süden. Es gab Sehnsuchtstage, dann vermisste Felicitas ihre Gesellschaft und ihre Geschichten. Die Tiere hatten ihr geholfen. Geduldsam brachten sie ihr bei, welche Namen sie trugen, wie die Bäume hießen und die Pflanzen rund um den
See. Aber auch andere Dinge.
Jeder von ihnen erklärte Felicitas etwas und niemand war ihr böse, wenn sie nicht gleich etwas verstand.
Eines Tages, der Oktober hatte die Vielfalt seiner Farbpalette mit feinstem Pinselstrich über die Umgebung verteilt, stand Feli wieder einmal mit dem alten würdevollen Kranich im Schilf. Mücken tanzten im Sonnenlicht. Vorwitzig. Als würde kein Winter schon in den Startlöchern stehen.
Schweigend sahen die beidem dem Treiben zu …..